Berliner Buchbetriebs-Bericht (2): KOOKread

Labor für Literatur als Leseform

Das literarische Leben Berlins ist, wie gesagt, legendär. Was man niemandem erklären muss, der je einen Blick in die prallen Veranstaltungskalender der Stadt geworfen hat. Vollständig kann über die Szene nur der Auskunft geben, der die reizvolle Fähigkeit besitzt, an bis zu siebzehn Orten gleichzeitig zu sein. Mir ist das nicht gegeben, doch das hält mich nicht davon ab, mich immer wieder mal  ins Publikum zu mischen. Und vom Erlebten hier gelegentlich zu berichten. Heute: KOOKread.

Klar, „Kook“ heißt im Englischen so viel wie „Verrückter“ oder „Exzentriker“. Wer also zu einem KOOKread geht, sollte sich nachher nicht beschweren, wenn nicht alles läuft wie bei konventionellen Lesungen in ehrwürdigen Literaturhäusern. Zumal die KOOKreads eine Veranstaltungsreihe des KOOKbooks Verlags sind, der sich schon auf seiner Homepage als „labor für poesie als lebensform“ bezeichnet. Verlegerin Daniela Seel ist mit KOOKbooks zu einem Liebling der deutschen Lyrik-Gemeinde geworden – von Literaturpreisen und jubelnden Verlagsporträts überhäuft. Allerdings stellt sie auf derselben Homepage dem genannte Motto die betont skeptische Zeile „literature’s over. let’s go. face it“ gegenüber. Wir lernen: Konsequente Kleinschreibung ist cool, Englisch schadet nicht, Widersprüche erst recht nicht.

Kvartira No. 62 in der leicht schmuddelig verschneiten Lübbener Str. 18

Ein wenig exzentrisch ist schon der Ort von KOOKreads. Die Kneipe heißt „Kvartira No. 62“ und befindet sich nicht etwa in der Lübbener Str. 62, sondern in der Lübbener Str. 18. Tiefstes Kreuzberg. Der Mann hinter der Theke spricht mit Vorliebe russisch, bietet Borsch, Pelmeni oder Vareniki und einen höllisch guten Wodka an. Die Ausstattung des Etablissements ist ungefähr so, wie es die Vokabel Etablissement nahe legt: plüschig, dunkle Tapeten, schwere rote Vorhänge, Wandleuchten mit kleinen Schirmchen. Alles getreu der kvartira-eignen Devise: „Die Bar im Stil der russischen Kultursalons der 20ger Jahre“.

Leninwinkel mit Kerze direkt überm Tischlämpchen

Besonders gut gefallen hat mir eine Art realsozialistisch-satirisch-postmoderner Herrgottswinkel, der gleich rechts oberhalb jener Posterbank eingerichtet wurde, von der aus die Autoren lesen: In dem Winkel befindet sich statt des traditionellen Kruzifixes ein Band der Schriften W.I. Lenins in russischen Original samt beschaulich flackernder Kerze.

Ich war schon einmal Ende des vergangenen Jahrs bei einem denkwürdigen KOOKread: Neben den lesenden zwei Autorinnen/einem Autor und dem Moderator fanden sich nur fünf Zuhörer ein. Dennoch wurde die Veranstaltung eisern durchgezogen, was mich sehr für die poetische Unbeirrbarkeit der Akteure eingenommen hat.

Am 28. Januar war das KOOKread sardinenbüchsenmäßig besser besucht und stand unter dem unbedingt beherzigenswerten Titel „Love me tonight for I may never see you again“ (wie gesagt, Englisch schadet nicht). Es lasen der Grazer Christoph Szalay, der ein Ski-Gymnasium besuchte und bis in den ÖSV B-Kader für Nordische Kombination vordrang, bevor er sich für Poesie als Lebensform entschied. Dazu Ron Winkler, der bereits so viele Gedichtbände usw. veröffentlicht hat (auch bei KOOKbooks), dass eine Aufzählung hier echt sperrig wäre. Und die mit mehreren Jugendliteraturpreisen ausgezeichnete Romanautorin Tamara Bach.

Christoph Szalay: "Asbury Park, NJ". Luftschacht Verlag, 16,40 Euro

Eine Zusammenstellung (2 x Lyrik + 1 x Jugendbuch), auf die nicht jeder Veranstalter gekommen wäre und die dem Abend von Beginn an einen leise exotischen Touch gab. Szalay las sausensible Gedichte über Asbury Park, New Jersey, Winkler eine lyrische Prosa, an der er vor Jahren gearbeitet, die er aber nie fertig gestellt habe, und Tamara Bach Ausschnitte aus einem in betont knappen, mitunter stakkatohaften Sätzen gehaltenen Scheidungskind-Roman. Keiner länger als 25 Minuten.

Ron Winkler: "Prachtvolle Mitternacht". Schöffling Verlag, 18,95 Euro

Der Moderator – oder sollte man in diesem Fall besser von Maitre de Plaisir sprechen? – war Alexander Gumz, selbst Lyriker und Clemens-Brentano-Preisträger. Er macht seine Sache unaufdringlich, kassiert persönlich vier Euro von jedem Zuhörer und fügt mit absolut überzeugendem Augenaufschlag hinzu: „Für die Autoren.“ Die Autoren stellt er mit sehr effektvollen Uneitelkeit vor, kurz, präzise, irgendwie abrupt und immer mit Hinweisen versehen, wo er die Daten im Internet zusammengeklaubt hat. Zum Titel des Abends hatte sich Gumz – vermutlich auch per Internet – durch Szalays Buchtitel anregen lassen, der ihn folgerichtig zu Bruce Springsteens Song “4th of July, Ashbury Park (Sandy)” brachte. Darin findet sich die, wie gesagt, absolut vorbildliche Zeile: “Love me tonight for I may never see you again, hey Sandy girl”.

Tamara Bach: "Marienbilder". Carlsen Verlag, 13,90 Euro

Daniela „KOOKbooks“ Seel saß derweil im Hintergrund, gleich neben dem Eingang, die Haare neuerdings blond, verkaufte eigenhändig Bücher der vortragenden Autoren und fiel durch den Zwischenruf auf, der Christoph Szalay aufforderte „neue Gedichte“, statt weiter aus dem vorliegenden Band Ashbury Park zu lesen.

Alles in allem ein rundum angenehmer literarischer Abend, nicht zu lang (ca. 90 Minuten einschließlich Bier-Pause), abwechslungsreich, unprätentiös präsentiert, preiswert und mit freundlichem, geduldigem Publikum. Dazu der teuflisch gute Wodka (2 Euro fürs halbvolle Schnapsglas mit einem Scheibchen Saurer Gurke, 3 Euro fürs randvolle Schnapsglas mit dicker Scheibe Saure Gurke). Kurz: Sehr empfehlenswert.

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Streit ums “Blutbuchenfest”

Martin Mosebach vs. Andreas Platthaus

Das Buch „funktioniert“ nicht – schreibt Andreas Platthaus heute in der FAZ. Martin Mosebachs Gesellschaftsroman Das Blutbuchenfest spiele im Jahr 1991, die handelnden Figuren benutzten aber Technik, die es damals noch nicht gab: Smart-Phones, Laptops, das Internet, Emails. Es werde interessant sein zu beobachten, „ob sich Mosebachs Publikum über seine Erzählverschluderung erregt“, meint Platthaus. Noch ist der Roman offiziell gar nicht erschienen, schon wird er in die Tonne getreten. Oder übertreibt Platthaus doch ein wenig?

Zunächst einmal, damit keine Missverständnisse entstehen: Andreas Platthaus ist ein sympathischer Kollege, den ich nicht zuletzt für seine immensen Kenntnisse zur Kunst des Comics, des Cartoons und der Graphic Novel bewundere. Aber gerade weil ich ihn schätze und als differenzierten Kritiker kenne, verblüfft es mich, wenn er es sich in diesem Fall so einfach macht.

Bekanntlich ist Maria Stuart, Königin von Schottland, ihrer Gegenspielerin Elizabeth I. nie begegnet. In Schillers Drama Maria Stuart gewährt ihr der Autor nicht nur ein Treffen, sondern einen langen, hinreißenden Dialog mit Elizabeth. Das widerspricht den historischen Fakten eklatant. Aber „funktioniert“ Schillers Stück deshalb nicht?

Im Gegensatz zur Geschichtsschreibung lässt sich die Literatur nicht auf die Treue zu den Tatsachen festlegen. Wer die Zeit um 1991 mit den Augen des Zeithistorikers oder des Soziologen betrachtet, hat sich sklavisch an die historischen Fakten halten. Doch wer einen Roman über diese Zeit schreibt, muss die Wahrheit seiner Geschichte erfinden – und wenn er zugunsten dieser erfundene Wahrheit ein paar historische Tatsachen so zurechtrückt, wie er es für die innere Logik seines Romans braucht, dann ist das nicht nur sein gutes literarisches Recht, sondern seine literarische Pflicht.

Martin Mosebach: "Das Blutbuchenfest". Roman. Hanser Verlag, München 2014. 24,90 Euro

Mosebachs Blutbuchenfest zeigt eine gerade in ökonomischer Hinsicht konsequent modernisierte Stadtgesellschaft: Die meisten Figuren gehen sehr abstrakt gewordenen, etwas halbseidenen Tätigkeiten nach. Sie leiten eine PR-Agentur, die Kontakte schafft und für derlei luftige Leistungen gut bezahlt wird. Oder sie sind Kuratoren ohne Aufträge, die Kongresse oder Ausstellungen organisieren, für die sich später – vielleicht – die nötigen finanziellen Mittel finden werden. Oder sie haben ihren Job in der Werbung längst verloren und lassen deshalb jetzt für ihren aufwendigen Lebensstil nicht mehr das Spesenkonto, sondern einen gutmütigen Restaurantwirt einstehen.

Ich finde diese Beschreibung der gesellschaftlichen Situation überzeugend und zutreffend. Als langjähriger Bürger Frankfurts bestätige ich gern, wie schön Mosebach manche seiner Schauplätze nach der Frankfurter Wirklichkeit modelliert hat und wie viele seiner Figuren realen Personen dieser Stadt wie aus dem Gesicht geschnitten sind.

Die immer schwerer greifbaren, sich verflüssigenden beruflichen Verhältnisse, die Mosebach schildert und die bereits die neunziger Jahre prägten, sind naturgemäß nicht das einzige Kennzeichen dieses sich radikalisierenden Modernisierungs-Prozesses. Parallel dazu erleben wir eine Revolution der Computer- und Kommunikationstechnik. Die traditionelle Ordnung der Berufstätigkeit löst sich damit immer weiter auf: Mit einem Smart-Phone haben heute viele ihre Produktionsmittel buchstäblich in der Tasche. Wer früher für seine Arbeit einen Schreibtisch brauchte, braucht heute nur noch ein Telefon-Display oder ein Laptop. Er ist räumlich ungebunden, immer mobil, auf Präsenz nicht mehr festlegbar und wird so immer unfassbarer.

Das hat natürlich Folgen für das Leben der Menschen – und diese Folgen versucht Mosebach in seinem Roman erkennbar werden zu lassen. Diese zunehmende Schwerelosigkeit unseres Arbeits- und Gesellschaftslebens ist aber keineswegs eine Erfindung der letzten Jahre, sondern war auch schon in den Neuzigern spürbar. Folglich ist es mir als Leser von Mosebachs Roman schnuppe, ob er nun die jüngsten Erfindungen der IT-Branche entgegen den historischen Fakten in diese Neunziger zurückverlegt. Es geht ja darum, einen gesellschaftlichen Prozess mit den Mitteln eines Erzählers so sichtbar wie möglich zu machen. Und dabei hilft der kleine Zeitsprung, der technische Umwälzungen zehn Jahre früher beginnen lässt, ganz unbedingt.

Martin Mosebach, fotografiert von Peter-Andreas Hassiepen. Copyright bei Peter-Andreas Hassiepen

Andreas Platthaus versteht – und da kann ich ihm überhaupt nicht mehr folgen – Mosebachs Roman als eine Abrechnung mit jenen Menschen, die diesem Modernisierungsprozess unterliegen. Er schreibt: „Denn die ständige Erreichbarkeit ist zentral fürs ganze Geschehen; erst sie macht den behaupteten moralischen Skandal einer egozentrischen Gruppe von Wohlstandsbürgern plausibel, in deren Wohnungen jeweils dieselbe bosnische Putzfrau arbeitet, die im Laufe des Buchs alles verlieren wird, ihr Kind, ihre Heimat, ihre Familie und schließlich auch jeden Respekt vor dem Gastland und seinen Menschen.“

Das ist schlicht falsch. Mosebach verurteilt seine Figuren nicht, er beobachtet sie. Er konstruiert aus dem finsteren Schicksal der bosnischen Putzfrau Ivana keinen Vorwurf gegen jene „Wohlstandsbürger“, die ihr Arbeit geben: 1) Ivanas Kind kommt bei einem Unfalls in Bosnien um. 2) Ihre Heimat geht verloren wegen der lang zurückreichenden ethnischen und religiösen Konflikte in Jugoslawien. 3) Ihre Familie wird vertrieben, weil sie schicksalhaft in diese historischen Konflikte hineingeboren wurde, in denen sie Täter und Opfer zugleich ist.

Daraus einen Vorwurf gegen die „egozentrische Gruppe von Wohlstandsbürgern“ zu konstruieren, wie Platthaus das tut, ist absurd. Im Gegenteil: Mosebach zeigt in den Kapiteln seines Romans, die in Bosnien spielen, sowohl den Reiz als auch die Schrecken der vormodernen Lebensverhältnisse dort sehr deutlich. Es feiert mit der ihm eigenen Sprachpracht manche Schönheit, die seinem Helden dort begegnet, beschreibt aber auch die ausweglose Grausamkeit, mit der sich dort Nachbarn seit Jahrhunderten belauern und bekriegen.

Ebenso wird das moderne Großstadtleben einige hundert Kilometer nördlich in Deutschland nicht verdammt – denn schließlich herrscht hier ein wunderbarer Frieden und auch wenn die Menschen allerlei windigen Geschäften nachgehen, so verstehen sie es doch ihre Konflikte allesamt gewaltlos auszutragen. Zugegeben, die bürgerliche Gesellschaft Frankfurts macht in Mosebachs Roman tatsächlich einen recht egozentrischen Eindruck, aber dass die Bosnier von ihm als vorbildliche Altruisten beschrieben werden, kann niemand behaupten. Mosebach schildert halt Menschen und keine Heiligen.

Platthaus schreibt spürbar abfällig von den „Lobpreisern“ Mosebachs, die ihn um jeden Preis gegen Kritik verteidigen wollen. Um auch hier einem Missverständnis vorzubeugen: Ich kann mit Mosebachs Kampf um liturgische Feinheiten der katholischen Messe wenig anfangen. Und wenn Mosebach öffentlich verlangt, Gotteslästerung solle hierzulande juristisch strenger verfolgt und bestraft werden, stehen mir die Haare zu Berge. Kritik an Mosebach ist selbstverständlich möglich und meines Erachtens gelegentlich angebracht.

Aber ich habe es schon immer für einen Fehler gehalten, von den politischen Stellungnahmen eines Schriftstellers auf seine literarischen Werke kurzzuschließen. Der Schriftsteller Günter Grass, der mit Blechtrommel und Hundejahre großartige Romane geschrieben hat, ist ein anderer als der Bürger Günter Grass, der mir mit seinen Ansichten zu USA oder Israel häufig genug auf die Nerven geht.

Hier, glaube ich, ist der Grund für den Unwillen zu finden, mit dem Platthaus auf Mosebachs neuen Roman reagiert: Er liest das Buch und hat die fröhliche Unverfrorenheit im Kopf, mit der sich Mosebach selbst als Reaktionär und Antimodernist bezeichnet. Und glaubt deshalb in dem Roman ziemlich platte reaktionäre und antimoderne Züge zu entdecken.

Aber das ist nicht der Fall: Die spezifische Erzählweise des Gesellschaftsromans bleibt auch für Mosebach nicht ohne Folgen. Sie ist so etwas wie eine literarische Schule der Toleranz, die jede Gesellschaft als Versammlung von Individuen betrachtet, in der keiner der alleinige Inhaber der Wahrheit ist, sondern in der alle mit dem gleichen Recht ihrer persönlichen Wahrheit und Weltsicht folgen. In diesem Nebeneinander der Standpunkte, das sich nie harmonisch auflöst, sondern nur ausgehalten werden kann, haben antimoderne Sichtweisen ebenso ihren Platz wie solche, die sich für die Moderne begeistern.

Und um diese Gegenüberstellung geht es dem Roman: Hier das vormoderne Lebensverständnis von Ivana, der bosnischen Putzfrau, und dort die hypermoderne Lebenssituation der guten Frankfurter Gesellschaft. Und ob die Angehörigen dieser Gesellschaft nun bereits Anfang der Neunziger ein Smart-Phone in der Tasche hatten oder erst zehn Jahre später, ist dabei literarisch herzlich egal.

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Jón Gnarr, der Punk als Politiker

Smokescreen im Rathaus

Der weltweit lustigste Bürgermeister Jón Gnarr liefert seine politische Programmschrift ab: “Hören Sie genau zu und wiederholen Sie!!!” Reykjavík ist gut mit ihm gefahren, ob Gnarr aber als Bürgermeister so viel Spaß hatte wie erhofft, bleibt offen. Hier eine Erinnerung an seinen Wahlsieg und Ausschnitte aus einem Gespräch mit ihm:

Island kann auch im Frühjahr verdammt kalt sein. Aber ich hatte Glück. Am Abend des 27. Mai 2010 war es angenehm lau. Es war der Tag der Kommunalwahl auf der Vulkaninsel – auf der eine Menge der sonst friedfertigen Isländer kurz vor dem Ausbruch standen.

In Jón Gnarrs Wahlkampf-Hauptquartier versammelten sich seine Unterstützer, darunter Schriftsteller, Sänger, Schauspieler. Gnarr, der bekannteste Komiker des Landes, hatte wenige Monate zuvor die „Beste Partei“ gegründet, einen fabelhaften Wahlwerbespot auf YouTube gepostet (Unbedingt ansehen! Laut!:  http://www.youtube.com/watch?v=xxBW4mPzv6E) und seine Kandidatur für das Amt des Bürgermeisters von Reykjavík verkündet. Die Wahllokale hatten gerade geschlossen, als ich Gnarrs kahler Büroentage besuchte, überall liefen die Fernseher und immer wieder ging ein Raunen durch die Mannschaft.

Allerdings zeigten die Bildschirme nicht die Wahlergebnisse aus Islands Hauptstadt – sondern die des Eurovision Song Contests in Oslo, den an diesem 27. Mai Lena Meyer-Landrut für Deutschland gewann: „Satellite“. Erst danach wurde umgeschaltet: 34,7 Prozent für die Beste Partei, keine andere hatte mehr: Gnarr war neuer Bürgermeister seiner Heimatstadt.

Jón Gnarr: "Hören Sie gut zu und wiederholen Sie". Wie ich einmal Bürgermeister wurde und die Welt veränderte. Übersetzt von Betty Wahl. Tropen Verlag, Stuttgart 2014. 14,95 Euro

Eine Protestwahl, natürlich. Die Finanzkrise 2008 hatte den drei größten Banken Islands das Genick gebrochen, das Land schlidderte haarscharf am Staatsbankrott vorüber, aufgebrachte Bürger lärmten wochenlang mit Töpfen und Pfannen vorm Parlament und manche von ihnen drohten, die Politiker handgreiflich in die Eiswüste zu schicken.

Da kam ihnen einer wie Gnarr gerade recht: Ein Schulabbrecher, der zwei Jahre in einem Internat für Schwererziehbare verbrachte. Ein Punk, der sich lange als Taxifahrer durchschlug. Ein bekennender Anarchist, der jede Ideologie oder Staatstheorie ablehnt, sogar den Anarchismus. Ein Standup-Comedian, der fürs Radio Sitcoms und fürs Fernsehen Sketch-Shows schrieb und dessen einzige politische Leidenschaft es schien, Politikern eine Nase zu drehen.

Doch Gnarr, der nie die ihm zugedachten Rollen übernahm, verweigerte sich auch dieser. Seine Beste Partei bildete mit den Sozialdemokraten eine stabile Koalition, krempelte die Ärmel hoch und begann eine, auch mit der Opposition betont respektvolle Zusammenarbeit zum Wohl der Stadt. „Wir haben den finanziell angeschlagenen Energiekonzern Reykjavíks wieder hingekriegt“, sagt Gnarr, wenn man ihn nach seinen größten politischen Erfolgen fragt, „wir haben die Internet-Plattform ‚Betri Reykjavík’ eingerichtet, die eine sehr direkte Bürgerbeteiligung möglich macht, wir haben eine Schulreform gemacht, für mehr Fahrradwege gesorgt, und, und, und…“

Sein Buch „Hören Sie gut zu und wiederholen Sie!!!“ (Tropen Verlag), das jetzt in Deutschland erscheint, ist ein ebenso unterhalt- wie bedachtsamer Rechenschaftsbericht über seine Expedition in die Gefilde der Politik, gespickt mit Ratschlägen für Protest-Parteigründer weltweit – und eine Aufforderung an jedermann, sich einzumischen: „Wie gut Demokratie funktioniert, hängt davon ab, wie viele von uns aktiv teilnehmen. Wenn es zu wenige sind, wird die Demokratie platt und banal.“ Der Titel des Buches ist wohl wörtlich zu verstehen: Gnarr möchte seine Botschaft per Buch weltweit verbreiten und Nachahmungstäter finden.

Allerdings hat Gnarr seine Rolle im Rathaus vornehmlich als, wie er schreibt, „Smokescreen“ verstanden. Er lenkt die Angriffe der politischen Gegner wie „eine Art Blitzableiter“ auf sich, um dem Rest des Magistrats ruhige Arbeit zu ermöglichen. Um reizvolle Mittel dafür ist er nie verlegen: Mal tritt er mit Kleid und Gesichtsmaske von Pussy Riot auf, um gegen die Verhaftung der russischen Frauen-Band zu protestieren, mal als Yedi-Ritter, wenn er Lady Gaga einen Friedenspreis überreichen soll, oder auch als Drag-Queen bei der jährlichen Gay-Pride-Parade der Stadt – was etliche Politiker und Bürger für unvereinbar halten mit der Würde seines Amtes.

Das ist er allerdings bald los. Zur Wiederwahl im Mai tritt er nicht an. „Die Beste Partei liegt zwar“, sagt er, „in den Umfragen bei 37 Prozent, könnte also wieder gewinnen, aber ich möchte das nicht. Man kennt das doch: Nach ein paar Jahren beginnen alle politischen Bewegungen zu verkrusten und ihren Schwung zu verlieren.“ Die Beste Partei solle nicht enden wie alle anderen Parteien auch: als behäbige Institution. Lieber räume er den Platz. „Dann können andere mit neuen Ideen weitermachen.“

Aber auch Gnarr ist in eigener Sache nicht um neue Ideen verlegen. „Vielleicht gründe ich jetzt nach der Besten Partei eine Beste Religion.“ Ob er nach dem Amt des Bürgermeisters nun in das  des Papstes einer selbstgestifteten Glaubensgemeinschaft wechseln wolle? „Papst!“ ruft er: „Das wäre fabelhaft. Seit meinem Auftritt als Drag-Queen habe ich ja schon Erfahrung mit Crossdressing.“

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Daniel Kehlmann “Requiem für einen Hund”

Kehlmann und Komik

Heute feiert Daniel Kehlmann Geburtstag. Für mich zählt er zu den wichtigsten und reifsten Schriftstellern deutscher Sprache und wird doch erst 39 Jahre alt. Wenn das kein Grund zum Feiern ist! Zu diesem Anlass eine kurze Überlegung von mir zu dem leider wenig beachteten Gesprächs-Band, den Kehlmann und Sebastian Kleinschmidt 2008 veröffentlichten, in dem es um Götter und Genies, Zählen und Erzählen, Tod und Ruhm geht – aber vor allem auch um Komik

Das Buch erschien (ursprünglich im Verlag Matthes & Seitz) unter dem Titel „Requiem für einen Hund“, denn Kehlmanns Hund Nutschki begleitete die Gespräche schweigend und starb kurz darauf. Kehlmann und Kleinschmidt widmeten ihm daraufhin das Bändchen.

Daniel Kehlmann und Sebastian Kleinschmidt: “Requiem für einen Hund”. Rowohlt E-Book Verlag, 7,99 Euro

Die beiden treiben hier nicht das übliche Frage-Antwort-Spiel des Interviews. Sie lassen sich auf einen konzentrierten Dialog über literaturtheoretische Fragen ein. Wieder einmal zeigt sich, dass Kehlmann nicht nur kluge Romane zu schreiben versteht, sondern auch Kluges über die Kunst des Romans zu sagen hat. Meist werden sich Kleinschmidt und er schnell einig. Doch in einem, wie ich finde, aufschlussreichen Punkt bleiben mehr Fragen offen, als Antworten gefunden werden.

Kehlmann hat oft beschrieben, wie glücklich er war, als es ihm in Ich und Kaminski (2003) erstmals gelang, seinen Romanen ein dezidiert komisches Element hinzuzufügen. Da er mit diesem Buch dann bei Kritikern wie Lesern auch seinen ersten großen Erfolg erzielte, ist der Verdacht vielleicht nicht ganz aus der Luft gegriffen, dass gerade dieser Sinn für Komik seine Arbeit auf ein neues literarisches Niveau hob. Kein Zufall also, dass Kleinschmidt und Kehlmann in ihrem Gespräch lange um eine Definition des, wie sie sagen, „Humors“ ringen – obwohl Humor wohl eher die Gabe eines Menschen bezeichnet, Komisches zu genießen, nicht aber das Talent, Komik zu erzeugen.

Lehrreich scheint mir, dass Kleinschmidt versucht, zwischen guter und schlechter Komik zu unterscheiden, dass er mit einem ethischen Argument in eine ästhetische Diskussion eingreift: „Entscheidend ist, das der Humor seinen Vorteil nicht auf Kosten seines Gegenstandes oder seines Gegenübers erringt.“ Er wirbt mit Fontane für die „verklärenden Macht des Humors“.

Kehlmann dagegen verteidigt den „eisigen Sarkasmus“, den „eisigen Humor“. Tatsächlich juckt es einen als Leser ja wenig, wenn in einem Roman Pointen auf Kosten einer naturgemäß fiktiven Romanfigur gemacht werden. Wichtig ist nur, ob die Pointe schlagartig etwas über die Figur klar macht – und sie eben nicht verklärt. Ein kleiner Dialog nur, aber er verrät doch viel über die tief sitzende Bereitschaft hierzulande, die Literatur zuallererst unter moralischen, statt unter ästhetischen Gesichtpunkten zu betrachten.

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Sarah Stricker “Fünf Kopeken”

Nur das Beste über Mara Cassens und Sarah Stricker

Diese Auszeichnung ist schon ziemlich einmalig: 1970 wurde von Mara Cassens der nach ihr benannte “Preis für einen ersten Roman” gestiftet. Inzwischen ist er mit 15.000 Euro dotiert und damit einer der einträglichsten für Debütanten. Von Christoph Hein bis Lukas Bärfuss haben ihn einige inzwischen sehr namhafte Autoren bekommen und konnten – durch diese private Förderung – ihre Arbeit mit etwas geringeren finanziellen Sorgen fortsetzen. Bemerkenswert auch, dass der Preis nicht durch Profis aus dem Literaturbetrieb vergeben wird, sondern durch eine ehrenamtliche Leserjury, die sich aus 15 Mitgliedern des Hamburger Literaturhauses zusammensetzt. Ich wurde gebeten, die Laudatio auf die diesjährige Preisträgerin Sarah Stricker zu halten, was ich gern getan habe, weil ich ihren Roman Fünf Kopeken schon im Herbst mit Vergnügen gelesen hatte. Gestern, am 9. Januar, wurde die Auszeichnung im Hamburger Literaturhaus vergeben, hier meine Laudatio:

Die komische Tragödie des Hauses “Mode-Schneider”

Lob für einen starken Familien-, Liebes- und Berlinroman samt kleiner Schlenker hin zu Leo Tolstoi und Philip Larkin

Einer der berühmtesten Romane der Weltliteratur, Anna Karenina, beginnt mit dem Satz: „Alle glücklichen Familien ähneln einander; jede unglückliche ist auf ihre Art unglücklich.“

Ich bewundere, mehr noch: ich verehre den Romancier Leo Tolstoi, seine Werke sind ein literarischer Maßstab, aber für diesen Anfangssatz von Anna Karenina verehre ich ihn nicht. Denn ich halte ihn für falsch oder zumindest für reichlich unklar. Zunächst einmal ist es schwer, als Außenstehender zu beurteilen, ob eine Familie zu den glücklichen oder zu den unglücklichen gehört, oder zu jenen, deren Befindlichkeit irgendwo in der himmelweiten Spanne zwischen Glück und Unglück beheimatet ist. Ein Zwischenzustand, der mir weit verbreitet erscheint, der aber in Tolstois apodiktischem Satz gar nicht vorkommt.

Zum anderen glaube ich bei Familien, die ich als glücklich bezeichnen würde, erhebliche Konstruktionsunterschiede feststellen zu können: Mal sind sie aus einer ersten, mal aus einer zweiten Ehe entstanden und manchmal haben sie mit Ehe absolut nichts im Sinn. Mal begegnen sich die Partner auf Augenhöhe, mal scheint zwischen ihnen ein gewisses Machtgefälle zu existieren. Mal haben sie viele Kinder, mal nur eins. Kurz: Diese glücklichen Familien sind sich untereinander nicht sehr ähnlich. Im Gegensatz dazu sind Ursachen für familiäres Unglück keineswegs immer so individuell, wie Tolstois Satz es behauptet. Nein, unter bestimmten gesellschaftlichen Umständen und in bestimmten Zeitphasen scheint es mitunter recht weit verbreitete Unglücksverhältnisse zu geben.

Sarah Stricker: "Fünf Kopeken". Roman. Eichborn Verlag, Köln 2013. 19,99 Euro

Von einem solchen charakteristischen Unglücksverhältnis erzählt Sarah Stricker in ihrem Roman Fünf Kopeken, den wir heute feiern. Die Grundstruktur ihrer drei Generationen überspannende Familiengeschichte klingt zumal in Deutschland vertraut. Der Großvater war einst Soldat in Hitlers Armee, dann Kriegsgefangener. Bei seiner Heimkehr fand er ein moralisch abgewirtschaftetes, materiell zerstörtes Land vor. Ideale Voraussetzungen für den Heimkehrer, um mit der verinnerlichten soldatischen Disziplin und Organisationskraft nach dem militärischen Misserfolg nun den geschäftlichen Erfolg zu suchen. Der Großvater gehört, formelhaft gesagt, zur Wirtschaftswunder-Generation, sein Leben wird zu einem pausenlosen Gefecht um den ökonomischen Nutzen. Zweifel oder Zögern kennt er nicht, sondern nur den ewigen Imperativ des finanziellen Höher-Schneller-Weiter. „Er ging nicht“, schreibt Sarah Stricker über ihn, „er rannte. Er fuhr nicht, er raste. Er überlegte nicht, er wusste. Vor allem: es besser.“

Und seine Frau, die Großmutter dieser Romanfamilie, hat den Krieg als jugendliches Opfer des Bombenkriegs erlebt. Alles was eben noch verlässlich erschien, alles was ihrem Leben Form und Halt gegeben hatte, sah sie über Nacht in Rauch aufgehen: Ihre Familie, ihre Stadt, ja ihr ganzes Land mitsamt seiner staatlichen Ordnung. Es gab für sie, musste sie lernen, nichts, mit dem sie rechnen, nichts auf das sie bauen konnte. Also wurde, wie Sarah Stricker schreibt, die Angst „die erste und einzige wahre Liebe meiner Großmutter … Alles was danach kam, waren nur Variationen.“

Das ist zweifellos eine unheilvolle Ausgangslage. Doch zu den vertrackten Eigenschaften der Menschennatur gehört, wie gut sie sich einzurichten versteht, selbst wenn alles in Trümmern liegt. Hätte Sarah Stricker es sich literarisch leicht gemacht, hätte sie das weitere Leben dieses vom Krieg geprägten Paares als eine Art permanenten emotionalen Lazarettaufenthalt beschrieben. Aber sie beweist ihre Qualitäten als Erzählerin nicht zuletzt, indem sie zeigt, dass die beiden ihr Leben nicht als Ausnahmezustand, sondern als ihre spezifische Normalität empfinden – und folglich überhaupt keine Hemmungen haben, ihre Werte, Vorstellungen und Ziele, die sie für ebenso normal halten, an ihre Tochter weiterzugeben.

Ihnen fehlt vor allem die Fähigkeit zur Freude, zum Genuss, zum sinnfreien Wohlgefühl. Was vielleicht kein Wunder ist nach dem totalen Zusammenbruch, den sie erlebten. Denn zur echten Hingabe an die Lebenslust gehört wohl auch eine Bereitschaft zum vorübergehenden Kontrollverlust. Aber wer sich einmal so gründlich wie sie dem unkontrollierbaren Chaos eines Kriegs ausgeliefert sah, dem ist der Spaß daran, die Zügel auch nur zeitweise aus der Hand zu legen, möglicherweise für immer vergangen.

Sarah Stricker, geboren 1980 in Speyer, besuchte die Deutsche Journalistenschule in München und lebt seit 2009 in Tel Aviv. Copyright für das Foto: Oliver Favre

Wenn es unter diesen Umständen auch ihre Tochter nicht leicht hat mit der Lust, muss das niemanden überraschen. Von Kindesbeinen an wird von den Eltern ihr Verstand gefeiert und gefördert, ihre Leistungsfähigkeit bejubelt, ihre Hingabe an die Ziele der Familie verherrlicht. Aber alles andere, ihr Körper, ihre Gefühle, ihre Wünsche werden nicht weiter beachtet und sind schließlich auch ihr selbst fremder als das fernste Ausland. Sie erlebt das klassische Drama des begabten Kindes, das Anerkennung nur dann erhält, wenn es die Bedürfnisse seiner Eltern erfüllt, nie aber eine Chance hat, die eigenen Bedürfnisse zu entdecken.

Wodurch nicht zuletzt ihr Liebesleben zum Desaster wird. Denn als sie Arno kennenlernt, einem Mann, der nichts von ihr fordert, sondern ihr seine Zuneigung bedingungslos entgegenbringt, ist sie überrascht, irritiert, ja sogar abgestoßen und kann in ihm nur einen Schwächling sehen. Wogegen sie ihrem Nachbarn Alex sofort verfällt, denn der nimmt sich von ihr rücksichtslos nur das, was er haben will und kümmert sich ansonsten nicht um sie. Damit kommt sie gut zurecht, bei ihm fühlt sie sich sofort Zuhause, denn dieses Verhalten ist sie von Kindesbeinen an gewohnt.

Sarah Stricker hat aus dem, was man im Jargon der Psychologen eine dysfunktionale Familie nennen würde, nicht nur ein temperamentvolles Familienspektakel gemacht, sondern auch eine tieftraurige Liebesgeschichte über ein Mädchen, das Liebe nicht erträgt und einen hinreißendes Porträt der wilden Stadt Berlin um die Jahrtausendwende. Ihr Buch ist ein fabelhaftes Beispiel dafür, dass ein Roman über triste Lebensverhältnisse keineswegs ein trister Roman sein muss, sondern vom Autor auf rasante und rhetorisch pointierte Weise mit gelegentlich sogar komödiantischen Zügen erzählt werden kann.

In den sechziger Jahren produzierte der Hessische Rundfunk eine herrliche Fernsehserie, „Die Firma Hesselbach“, die bis heute bei Kennern einigen Ruhm genießt. Die Firma Mode-Schneider, die von Sarah Strickers Romangroßvater gegründet und schließlich von der Pfalz nach Berlin umgesiedelt wird, hat gelegentlich Hesselbachsche Züge. Wenn Tante Gundl bei dieser Übersiedlung buchstäblich auf der Strecke bleibt, ist das von haarsträubender Komik und Tragik zugleich. Man kann nur bewundern, mit welcher Sicherheit es Sarah Stricker gelingt, Elemente des Volkstheaters mit präziser psychologischer Analyse und einem kritischen Blick auf deutsche Realitäten und Mentalitäten zur Zeit der Wiedervereinigung zu verbinden. Es ist ihre Sprache, die ihrer Familiengeschichte alle idyllischen, aber auch alle in Schwermut schwelgenden Töne austreibt. Sie erzählt mit Intelligenz und Witz und Verve und mit einem gnadenlosen Biss, mit dem es in meinen Augen in erzähltechnischer Hinsicht eine besondere Bewandtnis hat.

Doch bevor ich auf diesen Punkt eingehe, möchte ich noch ein kleine literarische Reminiszenz einflechten. Denn nicht nur durch den Inhalt von Sarah Strickers Roman, sondern mindestens ebenso so durch seinen Tonfall fühlte ich mich beim Lesen immer wieder an das Gedicht This Be The Verse des großen britischen Lyrikers Philip Larkin erinnert. Es ist gerade zwölf Zeilen lang und hat eine unvergessliche Anfangszeile:

They fuck you up, your mum and dad.
They may not mean to, but they do.
They fill you with the fault they had
And add some extra, just for you.

But they were fucked up in their turn
By fools in old-style hats and coats,
Who half the time were soppy-stern
And half at one another’s throats.

Man hands on misery to man.
It deepens like a coastel shelf.
Get out as early as you can,
And don’t have any kids yourself.

Philip Larkin: "The Complete Poems". Herausgegeben von Archie Burnett. Farrar, Strauss & Giroux. 27, 95 Euro

Larkins Anfangszeile ist bis heute wunderbar provokativ und sie muss in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als Larkin sein Gedicht schrieb, noch ein wenig provokativer gewirkt haben also heute, weil er den Mut hatte, eine dem Alltagsslang entlehnte, betont vulgäre Phrase wie „fuck up“ in die noblen Sphären des lyrischen Sprechens und der dichterischen Lebensweisheiten einzuführen.

Auch Sarah Strickers Roman hat einen provokativen Auftakt. Ich habe keine Rezension gelesen, in der die ersten zwei Sätze des Buches nicht zitiert worden wären. Die wollte sich kein Rezensent entgehen lassen. Sie lauten: „Meine Mutter war sehr hässlich. Etwas anderes hätte mein Großvater ihr nie erlaubt.“ Zwei großartige Sätze, und zwar nicht nur weil sie bei Leser von Beginn an jede Schläfrigkeit verscheuchen, da sie offenbar, wie Sarah Stricker in einem Interview sagt, an ein Tabu rühren, nämlich das Tabu, die eigene Mutter öffentlich nicht allzu ruppigen ästhetischen Urteilen zu unterwerfen.

Literarisch großartig ist dieser Auftakt auch, weil hier mit nur zwei Sätzen gleich drei Hauptfiguren des Romans in wesentlichen Punkten gekennzeichnet werden. Im Grunde hat der Leser mit diesen beiden Sätzen das Familiendrama des Romans bereits vor Augen: Nämlich eine Frau, die offenkundig wenig Glück hat im Leben; dazu ihren Vater, der, ohne großes Interesse am Wohlergehen seiner Tochter, unerbittlich Macht über sie ausübt. Und schließlich lassen die zwei Sätze Rückschlüsse zu über jenes Mädchen, von dem die Sätze stammen, Rückschlüsse über die Enkelin des genannten Großvaters: Sie nämlich, so teilt uns schon der Ton der Sätze mit, nimmt für sich in Anspruch, das Familiendrama genau durchschauen und ungeschminkt darüber Auskunft geben zu können.

Wir erfahren im Roman nicht viel über diese Enkelin: Sie ist die Tochter von Arno, jenem demütig liebenden Mann, den ihre Mutter als Schwächling verachtet, sie wurde nach der deutschen Wiedervereinigung geboren und sie ist inzwischen alt genug, ihre ersten beruflichen Schritte als Journalisten zu tun. Ansonsten verrät uns diese Erzählerin kaum etwas über sich. Wir hören von ihr nur, mit welcher Gnadenlosigkeit sie die Fehler der anderen aufspießt, ihre Schwächen offenlegt und über deren lebenslange Unbelehrbarkeit den Kopf schüttelt.

Eine wirklich sympathische Figur ist diese Erzählerin nicht, und ich halte das für einen literarisch höchst gewitzten und geschickten Kunstgriff Sarah Strickers. Denn mit der Bissigkeit ihrer Urteile über Mutter und Großvater, mit ihrer entschiedenen Überzeugung, die Familienmitglieder durchschauen zu können, mit eben dieser Haltung erweist sie sich als perfekte Enkelin ihres Großvaters. Denn so wie sie es ihm nachsagt, kennt sie kein Zweifeln und kein Zögern, so wie er weiß sie nicht nur alles, sondern „vor allem: es besser“.

Eine Pointe dieses Romans über eine unglückliche Familienkonstellation ist also, dass dieses Unglück keineswegs nach zwei Generationen sein Ende findet. „Man hands on misery to man“, sagt Philip Larkin.  Auch in der dritten Generation pflanzt es sich fort. Doch diese allmählich milder werdende Stufe des Familienunglücks nicht in der Romanhandlung zur Sprache zu bringen, sondern in der Romansprache deutlich zu machen, also nicht durch das was erzählt wird, sondern dadurch wie erzählt wird, ist eine glänzende literarische Leistung. Ich gratuliere der Jury des Mara-Cassens-Preises zu ihrer Entscheidung, Sarah Stricker diese Auszeichnung zuzusprechen und möchte Sarah Stricker zu dem Preis, aber vor allem zu ihrem beeindruckenden Debüt beglückwünschen.

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Berliner Buchbetriebs-Bericht: Alice Munro

“Was machen Sie denn hier?”

Das literarische Leben Berlins ist legendär. Was man keinem sagen muss, der je einen Blick in die Veranstaltungskalender der Stadt geworfen hat. Vollständig kann über die Szene nur der Auskunft geben, der die reizvolle Fähigkeit besitzt, an bis zu siebzehn Orten gleichzeitig zu sein. Mir ist das nicht gegeben, doch das hält mich nicht davon ab, mich immer wieder mal irgendwo ins Publikum zu mischen. Vielleicht ist es, dachte ich gestern, interessant oder gelegentlich sogar amüsant, über das Erlebte Auskunft zu geben. Also möchte ich mich hier hin und wieder an einem Berliner Buchbetriebs-Bericht (sog. BBbB) versuchen. Mal schaun, ob’s Spaß macht.

Alice Munro: "Liebes Leben". Erzählungen. Übersetzt von Heidi Zernig. S.Fischer Verlag, 21,99 Euro

Was würde sich zum Auftakt besser eignen, als die Buchpremiere zu Ehren einer Literatur-Nobelpreisträgerin am Tage der Nobelpreis-Verleihung? Obwohl Alice Munro gestern weder in Stockholm noch in Berlin dabei war. In Stockholm vertrat sie ihre Tochter, in Berlin lasen die Munro-Verehrerinnen Judith Hermann, Monika Maron und Eva Menasse eine Erzählung aus dem neuen Munro-Band Liebes Leben, umrahmt durch biographisch-literaturkritischen Vor- bzw. Nachbemerkungen von Manuela Reichart. Und zwar im Babylon-Kino, das einst in Berlin – Hauptstadt der DDR eine ähnliche Rolle spielte wie der Zoo-Palast im alten West-Berlin. Der offenbar seit Jahren hingebungsvoll konservierte leicht angestaubte Charme des Ortes gab dem Ganzen zusätzlichen Reiz.

„Was machen Sie denn hier?“ fragte mich die Dame, neben die ich mich setzte. Sie wollte damit, wie sich herausstellte, nicht andeuten, dass wir uns kannten. Sie wollte vielmehr ihrer Überraschung Ausdruck geben, einen Mann bei der Präsentation eines Buches einer Autorin durch vier Autorinnen zu sehen. Zur Ehrenrettung der Dame muss ich hinzufügen, der Anteil männlicher Zuhörer im Saal war tatsächlich erstaunlich gering (er ist meiner Erfahrung nach bei Lesungen jedoch nie sonderlich hoch). Mir hängt allerdings der Geschlechterdiskurs in literarischen Fragen besonders weit zum Hals heraus. Ich habe deshalb, um ehrlich zu sein, den Gedankenaustausch mit der Sitznachbarin vergleichsweise kurz gehalten. Alice Munro schreibt weder Frauen- noch Männerliteratur, sondern eben Weltliteratur aus der Perspektive einer Frau, und die sollte für jeden Menschen von Interesse sein – ebenso wie Weltliteratur aus der Perspektive eines Mannes.

Alice Munro: "Love Life". Stories. Random House US, 16.95 Euro

Das Programm war tadellos, die Anmerkungen Manuela Reicharts klug, die drei lesenden Autorinnen eindrucksvoll, die Erzählung selbst fabelhaft. Aus Alice Munros Sätzen ist auch noch der letzte Funke Eitelkeit getilgt, sie verzichtet auf alles Prunkende oder Prächtige in ihrer Sprache, ja sogar auf das heimliche Gepränge allzu demonstrativer Lakonie. Im ersten Moment kann ein unbedachter, wenig erfahrener das Leser mit Schlichtheit verwechseln. Vor ein paar Jahren legte ich an der Universität in Jena einem Seminar mit Germanistik-Studenten eine anonymisierte Erzählung Alice Munros vor und bat sie, Rezensionen darüber zu schreiben. Fast die Hälfte lieferten glatte Verrisse ab, sie hielten die Geschichte für eine dürftige Anfängerarbeit ohne die geringste Kunstfertigkeit. In Deutschland wird, fürchte ich, der Wert von Literatur noch viel zu oft nach dem Grad des sprachliches Schwulstes auf der nach oben offenen Bombast-Skala bewertet. Identifiziert hat die Autorin keiner der knapp dreißig Seminar-Teilnehmer.

Was diesen Punkt angeht, erwiesen sich die Ausführungen des S.Fischer-Verlagschefs Jörg Bong im Babylon als aufschlussreich: Seit etlichen Jahren verlege, sagte Bong, der S.Fischer Verlag Alice Munro, leider ohne große Auflagenerfolge. Doch nach der Nobelpreis-Nachricht im Oktober konnten, so berichtete er mit Stolz in Stimme und Blick, in nur zwei Monaten 600.000 Exemplare ihrer Bücher hierzulande an die Leserinnen und (darauf bestehe ich:) Leser gebracht werden.

Alice Munro: "Love Life". Stories. Random House US, Vintage London, 11,95 Euro

Gute Literatur, gute Nachrichten: lauter Anlässe zur Freude also. Kommt hinzu, dass die Sitze im Babylon-Kino wirklich saubequem sind, weitaus bequemer als die Stühle bei Lesungen üblicherweise. Zu allem Überfluss ließ die Kanadische Botschaft danach im Foyer noch Weißwein ausschenken, mit dem es sich der Meisterin nach Clinton, Ontario, hervorragend zuprosten ließ. Wenn die Stockholmer Akademie immer ein so gutes Händchen bei der Auswahl ihrer Laureaten erwiese, dürfte aus der Veranstaltung von mir aus gern eine feste jährliche Reihe gemacht werden.

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Wolfgang Herrndorf “Arbeit und Struktur”

So sterben? Nur über meine Leiche!

Seine Romane Tschick und Sand waren Sensationserfolge der an Sensationen armen deutschen Literatur. Am 26. August erschoss sich Wolfgang Herrndorf in Berlin. Jetzt erscheint sein Tagebuch Arbeit und Struktur: klug, brillant geschrieben, verzweifelt und gnadenlos komisch

“Ich brauche eine Waffe.“ Gemeint ist: einen Revolver. Vier Wochen bevor der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf diesen Satz notiert, haben die Ärzte bei ihm ein Glioblastom entdeckt, einen nicht heilbaren, ausweglos tödlichen Hirntumor. Seine Lebenserwartung wird nur noch nach Monaten beziffert. Den Revolver brauche er, schreibt Herrndorf, als „Exitstrategie“.

Schon bald hat er sich eine „.357er Smith & Wesson, unregistriert“ beschafft. Über ihre Herkunft verrät er nichts. Aber sie entwickelt, schreibt er, „eine so durchschlagend beruhigende Wirkung auf mich, dass unklar ist, warum das nicht die Krankenkasse zahlt“. Denn: „Ich könnte mich nicht damit abfinden, vom Tumor zerlegt zu werden. Aber ich kann mich damit abfinden, mich zu erschießen.“ Er will kein Opfer sein, er will um jeden Preis einen letzten Rest Souveränität für sich retten.

Wolfgang Herrndorf: "Arbeit und Struktur". Rowohlt Verlag, 19,95 Euro

Herrndorfs zweite Strategie, Herr seines Unglücks zu werden, entpuppt sich als Glück für die deutsche Literatur: Er arbeitet wie ein Besessener. Bereits vor der Diagnose im Februar 2010 hatte er zwei Bücher veröffentlicht, allerdings mit großen zeitlichen Abständen und geringem Erfolg. Nun holt er zwei halb fertige Manuskripte aus der Schublade und sitzt täglich bis zu
16 Stunden am Schreibtisch, um sie abzuschließen: „Ich schreibe auch schnell, ungefähr dreimal so schnell wie sonst, und zehnmal so viel.“ Und: „Am besten geht’s mir, wenn ich arbeite.“

Schon im Spätsommer 2010 erscheint Tschick, ein gutes Jahr darauf Sand: zwei der aufregendsten und stilsichersten deutschen Romane der jüngsten Zeit. Sie beherrschen wochenlang die Bestsellerlisten, tragen ihm gleich fünf Literaturpreise ein und machen ihn schlagartig zur internationalen Berühmtheit: Tschick wird in 27 Ländern veröffentlicht. Die Auflage der deutschen Ausgabe überspringt mühelos die Millionengrenze.

Neben all dem schreibt Herrndorf noch das Blog Arbeit und Struktur. Ein Internet-Journal, in dem er zunächst nur für Vertraute, dann für jedermann Auskunft gibt: über den Verlauf der Krankheit (Chemo, Bestrahlung, drei Hirn-OPs), den völlig überraschenden Erfolg seiner Bücher, den täglichen Kampf gegen brutale Verzweiflungsschübe und den oft lebensrettenden Beistand seiner Freunde. Am kommenden Freitag erscheint Arbeit und Struktur nun in Buchform (Rowohlt Verlag, 19,95 Euro).

Es ist ein Tagebuch, wie es nur wenige gibt: von erschütternder Intensität, klug, illusionslos, brillant geschrieben und dazu voll gnadenlosem Witz. Es ist nicht nur das letzte Bekenntnis eines Sterbenden, sondern auch eine nachtschwarz grundierte Skizze unserer Jahre, verfasst von einem Spötter, der (von Familie und Freunden abgesehen) auf nichts und niemanden mehr Rücksicht nimmt.

Wenn der Umgang mit dem Tod etwas über den Geisteszustand einer Gesellschaft verrät, stimmen Herrndorfs Erfahrungen wenig hoffnungsfroh: Nachdem seine Romane und damit sein Schicksal bekannter werden, decken ihn nicht nur Laien, sondern auch Ärzte unaufgefordert mit absurden Therapievorschlägen ein: Rettung wird ihm ­versprochen, wahlweise durch Darmreinigung, grünen Tee, Omega-3-Fettsäuren, getrocknete Apfelsinenkerne oder Gemüsesaft. Vor Energiesparlampen in Kopfhöhe dagegen wird er dringend gewarnt.

Mit Grimm konstatiert Herrndorf zudem eine weit verbreitete, durch keinerlei Rationalität gebremste Neigung zu esoterischen Heilslehren. Immer wieder wird er, der Todgeweihte, zum Ziel enthemmter Bekehrungsversuche: „Wenn mich irgendwas im Leben wirklich aufgebracht hat, dann das gegen jedes Denken, jeden Gedanken und jede Aufklärung immune Gefasel von Sternzeichen, Rudolf Steiner und extravaganten Ahnungen fremder, unbegreiflich tröstlicher Welten.“

Für religiöse Empfindungen bleibt Herrndorf, um das Mindeste zu sagen, unempfänglich: „Priester sind mit Waffengewalt von mir fernzuhalten.“ Jeglicher Glaube an Jenseitiges entlockt ihm nur Kopfschütteln. Der Tod ist für ihn der Endpunkt, er macht unübersehbar, was eigentlich immer offenkundig ist: Nämlich die „unbegreifliche Nichtigkeit menschlicher Existenz. Im einen Moment belebte Materie, im nächsten dasselbe, nur ohne Adjektiv.“

Obwohl Herrndorf gelegentlich betont kaltschnäuzig oder machohaft zu klingen versucht, verschweigt er seine Zusammenbrüche nicht. Epileptische Anfälle setzen ihm zu, das Sichtfeld bekommt Lücken, die Orientierung lässt nach. Er irrt durch Berlin, selbst in vertrauten Straßen findet er sich nicht mehr zurecht, schreit, tobt, schlägt gegen Wände. („Vorteil Berlin: Auf der Torstraße bin ich unter den Gestörten nur Mittelfeld.“) Manchmal sehnt er eine radikale Verschlechterung seines Zustands geradezu herbei, damit er endlich Schluss machen kann: „Ein großer Spaß, dieses Sterben. Nur das Warten nervt.“

Körperlich spürt er zunächst wenig Einschränkungen. Da Sport zeitlebens zu seinen großen Leidenschaften zählte, ist er auch mit Mitte vierzig noch fit und fühlt sich „wie mit zwanzig“. Er spielt in der Nationalmannschaft der Schriftsteller und in einem Berliner Amateurteam und will sich auch von seiner Krankheit nicht davon abbringen lassen.

Doch schließlich raubt ihm der Tumor zunehmend die Kontrolle über seine Bewegungen. So nüchtern wie möglich registriert er den eigenen Verfall: „Fußball gespielt. Ball ins Gesicht bekommen, umgefallen. Hingesetzt, gewartet. Weitergespielt, wieder umgefallen. Aufgehört. Mit dem Fahrrad nach Hause, nicht umgefallen.“ Aber als sein Berliner Team dann bei einem größeren Turnier antritt und schließlich gewinnt, kann er nur noch als Zuschauer am Zaun stehen und muss auch mit diesem Kapitel seines Lebens abschließen.

Noch einmal versucht es Herrndorf mit seiner persönlichen Therapie: mit Arbeit. Bald nach Abschluss seines letzten Romans, Sand, hat er ein neues Manuskript begonnen. Er will die Geschichte des Mädchens Isa erzählen, einer Nebenfigur aus seinem Roman Tschick. Doch er kommt zu langsam voran, er hat immer häufiger anfallsweise Artikulationsprobleme, der Tumor beginnt, das Sprachzentrum zu zerfressen.

Die Frage nach der „Exitstrategie“, nach einem selbst gewählten Schlusspunkt wird immer dring-licher. Er schaut sich auf YouTube eine ausführliche Dokumentation über die Schweizer Organisation Dignitas an, die schmerzloses Sterben durch Medikamente ermöglicht.

Herrndorf reagiert mit Entsetzen und – Witz: „So will ich nicht sterben, so kann ich nicht sterben, so werde ich nicht sterben. Nur über meine Leiche.“
Stattdessen konzentriert sich Herrndorf auf die beruhigende Wirkung seines Revolvers und macht lange Spaziergänge am Hohenzollernkanal, nördlich vom Berliner Hauptbahnhof. Er ist „auf der Suche nach einem guten Ort“. Und er informiert sich genau, wie er die Waffe einsetzen muss, um mit Sicherheit das gewünschte Ergebnis zu erzielen.

Am 26. August 2013 verlässt er nachts seine Wohnung, heißt es im Nachwort des Buches, und schießt sich am Ufer des Hohenzollernkanals in den Kopf: „Er zielte durch den Mund ins Stammhirn. Es dürfte einer der letzten Tage gewesen sein, an denen er noch zu der Tat im Stande war.“

Die Rezension erschien im FOCUS Heft 49/13 vom 2. Dezember 2013

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Doris Knecht “Besser”

Ist es okay, die Putzfrau schwarz zu bezahlen? Und andere ewige Fragen

Expedition in heike Territorien der Literatur: Die Wiener Schriftstellerin Doris Knecht wirft in ihrem Roman Besser einen tiefen Blick ins zeitgenössische Familienseelenleben. Dafür erhielt sie den Buchpreises der Stiftung Ravensburger 2013. Ich wurde gebeten, die Laudatio zu halten, was ich gern getan habe, denn schon Doris Knechts erster Roman Gruber geht (2011) hat mir sehr gut gefallen

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Doris Knecht,

Schriftsteller haben es niemals leicht und Autoren von Familienromanen haben es schwer. Denn sie schreiben für ein Experten-Publikum. Fast alle Menschen sind in Familien aufgewachsen, mögen es große Familien gewesen sein oder kleine, und viele von ihnen haben selbst Familien gegründet, kleine oder große, glückliche oder nicht so glückliche, kurz gesagt: Fast alle Menschen haben die Tiefs und Hochs des Familienlebens am eigenen Leib erfahren. Das stellt besondere Anforderungen an den Schriftsteller, wenn er mit dem, was er über Familie erzählen möchte, glaubwürdig bleiben, Klischees umschiffen und die einzige literarische Todsünde vermeiden will, die es gibt, nämlich: seine Leser zu langweilen.

Doris Knecht: "Besser" Roman. Verlag Rowohlt Berlin, 288 Seiten, 19,95 Euro

Andere Themen bringen da größere literarische Spielräume mit sich: Ich bewundere Hemingway für das, was er über Großwildjagd schrieb, aber – um ehrlich zu sein – ich habe von Großwildjagd keinen blassen Schimmer. Ein so suggestiver Autor wie Hemingway kann mir da viel erzählen. Ebenso bin ich ein großer Verehrer des jungen John le Carré, doch ob es in der Welt der Geheimdienste tatsächlich so zuging, wie dieser Meister des Spionageromans es darstellte, kann ich nicht überprüfen. Die jüngere deutschsprachige Literatur hält für ihre Leser erstaunlich vielen Polar-Expeditionen, Himalaya-Besteigungen oder Aufenthalte in psychiatrischen Anstalten bereit. Viele dieser Bücher habe ich mit Vergnügen und Neugier gelesen. Doch ob und in wie weit das, was ich da las, seinen Ursprung in dichterischer Freiheit oder sorgfältiger Recherche, in Erfindung oder Erfahrungen hatte, bleibt für mich weitgehend im Dunkeln.

Doris Knecht hat wenig übrig für Themen wie diese. Die Jagd auf Großwild, auf Spione oder 8000-Gipfel reizt sie augenscheinlich nicht. Sie hält sich – zumindest in ihren ersten beiden Romanen – an klassische Themen des psychologischen Romans. In „Gruber geht“, ihrem Debüt, erzählt sie von Krankheit und von Liebe und davon, welchen Umgang zwei Menschen mit diesen Grunderfahrungen des Lebens pflegen, die geprägt sind durch die Moden, Marotten und Ideen unserer Gegenwart. In Besser, dem Roman, den es hier zu feiern gilt, beschreibt sie Zweifel am traditionellen Familienleben, die mir eng mit diesem Geist unserer Zeit und einem bestimmten kulturellen Milieu verknüpft zu sein scheinen, mit Leuten, die unverkennbar im Hier und Heute beheimatet sind, im deutschsprachigen Raum der Zehnerjahre des 21. Jahrhunderts.

Doris Knecht: "Gruber geht". Rowohlt Taschenbuch Verlag, 237 Seiten, 8,99 Euro

Das ist alles andere als leicht und birgt für den Schriftsteller erhebliche Risiken. Ich weiß nicht, wie sich Jäger unterhalten, die gerade irgendeinem Großwild den Garaus gemacht oder Bergsteiger, die ihr Biwak an einer vermutlich recht zugigen Hochgebirgswand aufgeschlagen haben. Aber die Tonlage, in der die unbürgerlichen Bürgersleut unserer Epoche miteinander reden, kenne ich haargenau. Ich weiß, wie man in diesem Milieu über Kindererziehung spricht oder über Seitensprünge, über einen Karriereknick oder die ewige Frage, ob es okay ist, die Putzfrau schwarz zu bezahlen. Denn dieses Milieu ist mein Milieu. Und das Milieu vieler Hunderttausender anderer Zeitgenossen und Bücherleser. Es kann heute und hierzulande besichtigt werden: im Restaurant am Nebentisch, wo zwei Paare vom jüngsten Urlaub schwärmen, im Büro, wo Kollegen vorm nächsten Meeting noch ein paar Bemerkungen über die neue Staffel von „Homeland“  austauschen oder auf Straßenfesten, bei gymnasialen Elternsprechtagen, in Fitness-Clubs oder diesem netten neuen Bio-Supermarkt in der Nachbarschaft.

Wehe dem Schriftsteller, der über solche ganz und gar vertrauten und landläufigen Lebensformen schreibt, und den Tonfall nicht zu hundert Prozent trifft. Wehe dem, der uns literarisch zu porträtieren versucht und dem dabei auch nur ein Strich um eine Winzigkeit verrutscht. Er wird gnadenlos gerichtet, denn jeder Fehler fällt so gnadenlos auf wie der Pfiff mit einer Trillerpfeife während eines Kammerkonzerts.

Also stürzt sich jeder Autor, der einen zeitgenössischen bürgerlichen Familienroman schreibt, in haarsträubende literarische Gefahren. Denn er oder sie schreibt zwangsläufig für Experten im doppelten Sinne, in Familien- und Milieufragen, für Fachleute, denen ureigene lebenslange Erfahrungen das Ohr sensibilisiert, den Blick geschärft und den Verstand hellwach gemacht haben für eben dieses Thema.

Doris Knecht hat sich in das Abenteuer gestürzt und es nicht nur glänzend bestanden, sondern auf ihrer Expedition in jene heiklen Territorien der Literatur eine bemerkenswerte Trophäe erbeutet.  Mit ihrem prüfenden Blick ins heutige Familienseelenleben, spürte sie eine spezifische Gefahr für eben jenes Familienleben auf, die in anderen Epochen vielleicht nur schwer vorstellbar gewesen wäre.

Die Hauptfigur und Erzählerin ihres Romans Antonia betrachtet sich, wie sie selbst sagt, als Teil einer glücklichen Familie. Sie hat einen wohlhabenden Mann, der ihr sogar Wünsche von den Augen abliest, von denen sie bezweifelt, sie je gehabt zu haben. Zwei kleine Kinder, die sie über alle Maßen liebt, obwohl deren Trotzphasen sie naturgemäß an den Rand des Nervenzusammenbruchs bringen. Einen Beruf als Künstlerin, der ihr große Freiheiten lässt. Einen Liebhaber für die leidenschaftlichen Momente des Lebens und dazu noch eine Kreditkarte mit großzügig bemessenem Finanzrahmen.

Alles in allem kein übles Arrangement. Wenn Antonia um sich blickt, kann sie wenig entdecken, das einem handfesten Problem ähnlich sieht. Nur wenn sie in sich blickt, entdeckt sie einen wirklich gefährlichen Gegenspieler ihres Glücks: Sich selbst. Sie ist fest davon überzeugt, nicht zu ihrer fabelhaften Familie zu passen, denn sie ist nicht fabelhaft. Sie hat Fehler, ja schlimmer noch, sie hat Vergangenheit: Eine Mutter, die Alkoholikerin war, einen Jugendfreund, der im Gefängnis landete und dazu ein paar Erfahrungen mit Drogen, die sie problemlos hätten das Leben kosten können.

Nein, Antonia ist davon überzeugt, nicht in die perfekte Welt zu gehören, in die sie da durch Heirat hineingeriet, sie ist nicht aufrichtig, sie hat Geheimnisse, sie hat gelegentlich eine schwer bezähmbare Wut auf ihre trotzigen Kinder, ja sie hat sogar einen Liebhaber. All das gibt ihr ein merkwürdiges Gefühl von Unter- und Überlegenheit zur selben Zeit:  Sie glaubt die bedrohlich scharfen Kanten der Realität besser zu kennen als die vermeintlich so behütet aufgewachsenen Wohlstandsbürger um sich her. Und zugleich glaubt sie, schlechter zu sein, weil sie Lügen mit sich herumschleppt und niemals so wahrhaftig, so glaubwürdig, so moralisch auftreten kann wie die anderen.

Mit anderen Worten, Antonia fehlt etwas, das heute wie eine Kardinaltugend gehandelt und ungeniert eingefordert wird: Sie ist nicht authentisch, sie ist nie ganz und gar sie selbst. Sie kennt vielmehr den Unterschied zwischen Sein und Schein nur allzu genau, sie spürt den Bruch, der sich durch ihre Existenz zieht, nur allzu deutlich.

Lange Zeit sieht es in Doris Knechts Roman so aus, als würde Antonias glückliche Familie irgendwann scheitern an dieser mangelnden Authentizität Antonias. Doch so leicht hat es sich Doris Knecht nicht gemacht. Zu den klugen Wendungen ihres Romans, die aus dem Roman einem wirklich starken Roman machen, gehören zwei Einsichten Antonias: Nämlich, dass die anderen ebenfalls ihre kleinen oder größeren Geheimnisse, ihre charakterlichen Brüche und gegebenenfalls nebenehelichen Affären haben. Auch sie sind nicht so authentisch, aufrichtig, wahrhaftig, wie sie im ersten Moment scheinen – ja vielleicht gibt es das wahrhaft authentische Leben gar nicht so oft und vielleicht ist es auch gar nicht so beneidenswert, wie uns die Mode einreden will. Zum anderen begreift Antonia, wie widerstandsfähig, wie belastbar und tolerant das Lebenskonzept Familie sein kann. Ist ihr Mann tatsächlich so ahnungslos, wie sie glaubt, oder hat er einfach gelernt, sie mitsamt ihren Schwächen zu akzeptieren?

Doris Knechts Roman ist nicht zuletzt deshalb ein starker Roman, weil die Verhältnisse, die sie in ihrer Geschichte schildert, nie rundum gut sind, dafür aber immerhin ein wenig besser werden – worauf der Romantitel anspielt. Antonia ist nicht gut, ihre Familie auch nicht in jedem einzelnen Punkt und ihr Freundes- und Bekanntenkreis erst recht nicht. Aber sie alle, Antonia, ihre Familie und Freunde haben die Chance, besser zu werden und manchmal bringen sie die Kraft auf, diese Chance tatsächlich zu ergreifen.

Zugegeben, einen heroischen Eindruck macht das nicht. Aber wenn nur Helden oder rundum gute, perfekte Menschen würdig wären, Familien zu gründen und in Familien zu leben, wäre dieses Lebensmodell vermutlich längst verschwunden. Doris Knechts Familienroman zeigt, dass Familie nichts Perfektes sein muss, dass Familienmitglieder nicht authentisch oder fehlerlos sein müssen – und eine Familie dennoch wunderbar funktionieren kann.

Isaiah Berlin, der große Ideengeschichtler aus Oxford, hat einmal gesagt, der Mensch sei aus einem krummen Holz geschnitzt, allzu viel Gerades darf man nicht von ihm erwarten. Doris Knecht porträtiert in ihrem Roman ein solches krummes Holz und zeigt, welche erstaunliche Fähigkeit Familie hat, es mit anderen, ebenfalls nicht vollkommen geraden Hölzern zu einem Ganzen zusammenzufügen. Dafür wird sie heute Abend mit dem Buchpreis der Stiftung Ravensburger Verlag ausgezeichnet und ich gratuliere ihr sehr herzlich.

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Die besten Bücher 2013

In eigener Sache

Jobst-Ulrich Brand und ich habe in den letzten Wochen das neue Magazin

“Die besten Bücher 2013″

entwickelt. Seit heute ist es auf dem Markt: An allen guten Kiosken, Zeitschriftenhandlungen und bei allen Buchhandlungen der Hugendubel-Kette. Das Heft ist eine Kooperation zwischen Focus Spezial und Hugendubel. Wir hoffen auf eine interessierte und naturgemäß glückstrahlende Leserschaft!

Eine Menge Kollegen und Autoren haben mitgemacht und mitgeschrieben: Ellen Daniel, Elke Hartmann-Wolff, Elke Heidenreich, Barbara Jung, Ralf-Peter Märtin, Matthias Matting, Harald Pauli, Iris Röll und Lisa Timm. Als Art-Direktorin hat Susanne Achterkamp das Projekt begleitet. Großen Dank an alle.

Für das Heft waren wir unter anderem in Charlottesville, Virginia, bei John Grisham,
in Toronto bei Carsten Stroud,
in London bei Jonathan Stroud (mit Carsten Stroud weder verwandt noch verschwägert),
in New York bei Elizabeth Gilbert und Junot Diaz,
in Chicago bei Gillian Flynn
und zusammen mit Eugen Ruge in Cabo de Gata (Südspanien)

Wir haben Gespräche unter anderem geführt mit:

Dan Brown, Finn-Ole Heinrich, Kahled Hosseini, Daniel Kehlmann, Ian McEwan, Terézia Mora, Ferdinand von Schirach und David Wagner

Wir hoffen dingend, mit diesen etlichen tausend Reisekilometer und vielen, vielen Interview-Stunden ein opulentes, lebendiges und bestens informiertes Bücher-Magazin anbieten zu können.

Und dazu haben wir mit Daniel Kehlmann und Ferdinand von Schirach zwei der besten  und bekanntesten deutschsprachigen Schriftsteller gewonnen, je eine Kurzgeschichte exklusiv für das Magazin zu schreiben. Dass beide Autoren gern auf unseren Wunsch eingingen, macht uns stolz und zeigt, dass auch sie neugierig sind auf diese neue Zeitschrift.

Sie hat 114 liebevoll bedruckte Seiten, erscheint in einer sagenhaften Auflage von 120.000 Exemplaren und zum sensationell günstigen Preis von nur: 4,90 Euro!

Also, wie gesagt: Seit heute ist es auf dem Markt: An allen guten Kiosken, Zeitschriftenhandlungen und bei allen Buchhandlungen der Hugendubel-Kette.
Ende des Werbeblocks.

 

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Raymond Chandler wird 125

Ein weißer Ritter ganz aus Sprache namens Philip Marlowe

Vor 125 Jahren wurde Raymond Chandler, der große Schriftsteller der Weltwirtschaftskrise, geboren. Er hat der Lesewelt nicht nur einen unvergesslichen Helden geschenkt und ein paar der schönsten Kriminalromane geschrieben, sondern ein paar bemerkenswerte Dinge über die Gesellschaft während der Turbulenzen eines Finanzdisasters literarisch festgehalten. Wer will, kann auf eigene Gefahr Parallelen zur Gegenwart ziehen.

Es war ein Sturz ins Bodenlose. Während der zwanziger Jahre, der Roaring Twenties, reckten sich in USA alle Wachstumskurven dem Himmel entgegen, ein goldenes Zeitalter schien angebrochen. Dann machte der Börsenkrach am 24. Oktober 1929 das Land zur Ruine. Die Löhne halbierten sich, die Arbeitslosenrate stieg auf 25 Prozent, immer mehr Menschen hatten buchstäblich nichts zu Essen, ein Fünftel der Kinder litt an Unterernährung, an den Stadträndern bildeten sich Favelas, in denen Hunderttausende unter Wellblechdächern hausten. Auf dem Höhepunkt der Krise 1932 verlor irgendwo in Los Angeles auch der Manager einer Ölfirma seinen Job. Er war 44 Jahre alt, hatte früher sentimentale Gedichte geschrieben, inzwischen eine ausgeprägte Vorliebe für Alkohol und realistisch betrachtet keine Chance mehr, je wieder auf die Beine zu kommen.

"The Raymond Chandler Papers" Selected Letters and Nonfiction 1909-1959 Herausgegeben von Tom Hiney und Frank MacShane. Grove 2002, 12.95 Euro

Was dem Mann, er hieß Raymond Chandler, außer der Ehe mit einer 18 Jahre älteren Frau noch blieb, war seine Leidenschaft für Sprache. Er war derart hingerissen von dem lakonischen Ton dieses literarischen Jungstars namens Hemingway, der seine Sentimentalität so perfekt hinter knappen, scheinbar kaltschnäuzigen Sätzen verbergen konnte, dass er dessen Stil in einer kleinen Parodie nachzuahmen versuchte. Die einzigen, denen in Chandlers Augen etwas Ähnliches gelang wie Hemingway, waren die Autoren von billigen Heftchen-Krimis, die unter dem Titel „Black Mask“ erschienen – allen voran Dashiell Hammett. Also ließ er seinen Namen im Telefonbuch mit dem Zusatz „Schriftsteller“ versehen, setzte sich hin und schrieb seine erste Crime-Story für „Black Mask“. Sie erschien im Dezember 1933. Das Honorar betrug 180 Dollar, ein Cent pro Wort.

Genre und Epoche waren wie geschaffen füreinander. Der Glaube an das Gute im Menschen stand nicht eben hoch im Kurs. Banken und Spekulanten, die den Crash von 1929 mitausgelöst hatten, vertrieben ganze Völkerscharen von Schuldnern aus ihren Häusern und von ihren Farmen. John Steinbeck beschrieb die nackte Not der zu Wanderarbeitern degradierten Obdachlosen in „Früchte des Zorns“. Entwurzelung und Elend steigerte nicht eben die Immunität gegen die Verlockungen des Verbrechens.

In einem Rückblick auf seine frühen Geschichten schrieb Chandler, ihre Anziehungskraft habe wohl „in der ganz eigentümlichen Atmosphäre der Angst“ gelegen, die sie einfingen: „Ihre Gestalten lebten in einer Welt, in der alles schiefgelaufen war, einer Welt, in der, schon lange vor der Atombombe, die Zivilisation sich eine Maschinerie zu ihrer eigenen Zerstörung geschaffen hatte und mit dem ganzen irren Vergnügen damit umzugehen lernte, mit dem ein Gangster seine erste Maschinenpistole ausprobiert.“

Raymond Chandler: "Der große Schlaf". Aus dem Englischen von Gunar Ortlepp. Diogenes Verlag, Zürich 2013. 10,90 Euro

Bei all dem hatte das Vertrauen in den Saat als fürsorgende Ordnungsmacht gelitten. Präsident Herbert C. Hoover unternahm zwischen 1929 bis 1932 wenig gegen die Wirtschaftskrise, da er fürchtete öffentliche Hilfen für notleidende Bürger könnten den amerikanischen Individualismus untergraben. Behörden wurden bald nicht mehr als Schutz, sondern als Teil der umfassenden Bedrohung wahrgenommen. Wer auf eine Polizeiwache gehe, so zitiert Chandler in einem seiner Romane einen zeitgenössischen New Yorker Reporter, der sei „aus unsrer Welt hinausgetreten in eine, in der es keine Gesetze gibt.“

Die ironische Pointe an Chandlers Büchern ist, dass sie zwar einige der finstersten Augenblicke der amerikanischen Geschichte porträtieren – zugleich aber den amerikanischen Mythos zutiefst bestätigen. Die Gerechtigkeit hat in der Welt, von der seine Romane berichten, keine Chance, es sei denn, es findet sich ein entschlossener Mann, ein typischer amerikanischer Held, der die Sache in die Hand nimmt und sie gegen alle Widerstände durchsetzt. Das war der weiße Ritter, von dem Chandler schon träumte, als er noch sentimentale Verse verfasste.

Mit Philip Marlowe schuf er den Archetyp des Privatdetektivs, der seither einen festen Platz im kollektiven kulturellen Gedächtnis hat. Marlowe ist Teil seiner aus den Fugen geratenen Gesellschaft, er bewegt sich in ihr wie ein Fisch im Wasser. Aber er ragt dennoch über sie hinaus. Mitten in ehrloser Zeit ist er ein Mann von Ehre. Während alle enthemmt nach Geld grabschen, nimmt er nur Honorare, die ihm nach seinem Moralkodex zustehen. Wenn alle nur auf den eigenen Vorteil aus sind, hält er den Kopf für die Schwachen hin.

Besonders glaubwürdig war diese Figur nie. Dass Chandler es dennoch gelang, sie Millionen von Lesern als realistisches Bild eines knallharten Kerls mit guter Seele zu verkaufen, ist letztlich wohl allein seiner stilistischen Perfektion zu verdanken. Fast alle seiner Sätze geben sich den Anschein, als seien sie nur auf nüchterne Beschreibung, kalte Kalkulation der Interessen oder auf sarkastischen Witz aus und doch glaubt man in jedem zugleich das romantische Herz Marlowes schlagen zu hören.

Raymond Chandler: "Die simple Kunst des Mordes". Briefe, Essays, Notizen, eine Geschichte und ein Romanfragment. Herausgegeben von Dorothy Gardiner und Kathrine S. Walker. Diogenes Verlag, Zürich 2009. 9,90 EuroDa die Black-Mask-Redaktion dazu neigte, alles in einem Manuskript zu streichen, was nicht der Spannung diente oder die Handlung vorantrieb, entwickelte Chandler eine diskrete Kunst, Atmosphäre zu vermitteln, ohne sie sichtbar werden zu lassen oder sie gar zu benennen: „Meine Theorie ging dahin, dass die Leser nur meinten, sie interessierten sich nur für die Handlung; dass sie in Wirklichkeit aber, obwohl sie es nicht wussten, genau an dem interessiert waren, was mich auch interessierte: an der Entstehung von Gefühl durch Dialog und Beschreibung.“

Nach etlichen Erzählungen wagte sich Chandler 1939 an seinen ersten Roman „The big Sleep“. Er wurde gleich zum Erfolg. Die größere Form bot ihm den Platz, Los Angeles als Moloch zu porträtieren, der „so viel Charakter hat wie ein Pappbecher“, als Dschungel, in dem es zuging wie im Raubtierkäfig zur Fütterungszeit. Durch den „New Deal“ Präsident Franklin D. Roosevelts fasste die Wirtschaft Amerikas inzwischen wieder Tritt, doch der von Chandler um Marlowe herum erbaute rabenschwarze literarische Kosmos hatte sich längst in den Köpfen der Leser verselbstständigt und lebte munter fort.

Raymond Chandler: "Der lange Abschied". Aus dem Englischen von Hans Wollschläger. Diogenes Verlag, Zürich 2013. 12,90 Euro

Die Romane haben Chandler weltberühmt gemacht. Weil ihm ohne die strenge Black-Mask-Redaktion erzählerisch alles erlaubt war, stolperte er darin für kurze Momente aus seiner stilistischer Deckung und ließ Marlowe kurze Predigten halten wie einen Pastor. Chandler spürte das, konnte sich aber nicht mehr disziplinieren: „Das Ärgerliche mit diesem Marlowe ist: man hat zuviel über ihn geschrieben und geredet. Er wird immer selbstbewusster und versucht sein Leben so umzustellen, wie es seinem Ruf bei den Pseudo-Intellektuellen entspricht.“

Doch das bleiben kleine Schwächen. Nimmt man all seine Erzählungen und Romane zusammen, entwirft Raymond Chandler das Panorama einer Gesellschaft quer durch alle Milieus vom Tellerwäscher bis zum Millionär, vom Taschendieb bis zum Mörder. Es zeigt eine Gesellschaft, die alles für möglich hält, an nichts mehr glaubt und im Begriff ist, sich ihr Grab zu schaufeln.

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