Labor für Literatur als Leseform
Das literarische Leben Berlins ist, wie gesagt, legendär. Was man niemandem erklären muss, der je einen Blick in die prallen Veranstaltungskalender der Stadt geworfen hat. Vollständig kann über die Szene nur der Auskunft geben, der die reizvolle Fähigkeit besitzt, an bis zu siebzehn Orten gleichzeitig zu sein. Mir ist das nicht gegeben, doch das hält mich nicht davon ab, mich immer wieder mal ins Publikum zu mischen. Und vom Erlebten hier gelegentlich zu berichten. Heute: KOOKread.
Klar, „Kook“ heißt im Englischen so viel wie „Verrückter“ oder „Exzentriker“. Wer also zu einem KOOKread geht, sollte sich nachher nicht beschweren, wenn nicht alles läuft wie bei konventionellen Lesungen in ehrwürdigen Literaturhäusern. Zumal die KOOKreads eine Veranstaltungsreihe des KOOKbooks Verlags sind, der sich schon auf seiner Homepage als „labor für poesie als lebensform“ bezeichnet. Verlegerin Daniela Seel ist mit KOOKbooks zu einem Liebling der deutschen Lyrik-Gemeinde geworden – von Literaturpreisen und jubelnden Verlagsporträts überhäuft. Allerdings stellt sie auf derselben Homepage dem genannte Motto die betont skeptische Zeile „literature’s over. let’s go. face it“ gegenüber. Wir lernen: Konsequente Kleinschreibung ist cool, Englisch schadet nicht, Widersprüche erst recht nicht.
Ein wenig exzentrisch ist schon der Ort von KOOKreads. Die Kneipe heißt „Kvartira No. 62“ und befindet sich nicht etwa in der Lübbener Str. 62, sondern in der Lübbener Str. 18. Tiefstes Kreuzberg. Der Mann hinter der Theke spricht mit Vorliebe russisch, bietet Borsch, Pelmeni oder Vareniki und einen höllisch guten Wodka an. Die Ausstattung des Etablissements ist ungefähr so, wie es die Vokabel Etablissement nahe legt: plüschig, dunkle Tapeten, schwere rote Vorhänge, Wandleuchten mit kleinen Schirmchen. Alles getreu der kvartira-eignen Devise: „Die Bar im Stil der russischen Kultursalons der 20ger Jahre“.
Besonders gut gefallen hat mir eine Art realsozialistisch-satirisch-postmoderner Herrgottswinkel, der gleich rechts oberhalb jener Posterbank eingerichtet wurde, von der aus die Autoren lesen: In dem Winkel befindet sich statt des traditionellen Kruzifixes ein Band der Schriften W.I. Lenins in russischen Original samt beschaulich flackernder Kerze.
Ich war schon einmal Ende des vergangenen Jahrs bei einem denkwürdigen KOOKread: Neben den lesenden zwei Autorinnen/einem Autor und dem Moderator fanden sich nur fünf Zuhörer ein. Dennoch wurde die Veranstaltung eisern durchgezogen, was mich sehr für die poetische Unbeirrbarkeit der Akteure eingenommen hat.
Am 28. Januar war das KOOKread sardinenbüchsenmäßig besser besucht und stand unter dem unbedingt beherzigenswerten Titel „Love me tonight for I may never see you again“ (wie gesagt, Englisch schadet nicht). Es lasen der Grazer Christoph Szalay, der ein Ski-Gymnasium besuchte und bis in den ÖSV B-Kader für Nordische Kombination vordrang, bevor er sich für Poesie als Lebensform entschied. Dazu Ron Winkler, der bereits so viele Gedichtbände usw. veröffentlicht hat (auch bei KOOKbooks), dass eine Aufzählung hier echt sperrig wäre. Und die mit mehreren Jugendliteraturpreisen ausgezeichnete Romanautorin Tamara Bach.
Eine Zusammenstellung (2 x Lyrik + 1 x Jugendbuch), auf die nicht jeder Veranstalter gekommen wäre und die dem Abend von Beginn an einen leise exotischen Touch gab. Szalay las sausensible Gedichte über Asbury Park, New Jersey, Winkler eine lyrische Prosa, an der er vor Jahren gearbeitet, die er aber nie fertig gestellt habe, und Tamara Bach Ausschnitte aus einem in betont knappen, mitunter stakkatohaften Sätzen gehaltenen Scheidungskind-Roman. Keiner länger als 25 Minuten.
Der Moderator – oder sollte man in diesem Fall besser von Maitre de Plaisir sprechen? – war Alexander Gumz, selbst Lyriker und Clemens-Brentano-Preisträger. Er macht seine Sache unaufdringlich, kassiert persönlich vier Euro von jedem Zuhörer und fügt mit absolut überzeugendem Augenaufschlag hinzu: „Für die Autoren.“ Die Autoren stellt er mit sehr effektvollen Uneitelkeit vor, kurz, präzise, irgendwie abrupt und immer mit Hinweisen versehen, wo er die Daten im Internet zusammengeklaubt hat. Zum Titel des Abends hatte sich Gumz – vermutlich auch per Internet – durch Szalays Buchtitel anregen lassen, der ihn folgerichtig zu Bruce Springsteens Song “4th of July, Ashbury Park (Sandy)” brachte. Darin findet sich die, wie gesagt, absolut vorbildliche Zeile: “Love me tonight for I may never see you again, hey Sandy girl”.
Daniela „KOOKbooks“ Seel saß derweil im Hintergrund, gleich neben dem Eingang, die Haare neuerdings blond, verkaufte eigenhändig Bücher der vortragenden Autoren und fiel durch den Zwischenruf auf, der Christoph Szalay aufforderte „neue Gedichte“, statt weiter aus dem vorliegenden Band Ashbury Park zu lesen.
Alles in allem ein rundum angenehmer literarischer Abend, nicht zu lang (ca. 90 Minuten einschließlich Bier-Pause), abwechslungsreich, unprätentiös präsentiert, preiswert und mit freundlichem, geduldigem Publikum. Dazu der teuflisch gute Wodka (2 Euro fürs halbvolle Schnapsglas mit einem Scheibchen Saurer Gurke, 3 Euro fürs randvolle Schnapsglas mit dicker Scheibe Saure Gurke). Kurz: Sehr empfehlenswert.