Judith Hermanns Roman “Aller Liebe Anfang”

“Liebe ist eine zwiespältige Empfindung

Ein Gespräch mit Judith Hermann über ihren Roman Aller Liebe Anfang, über die Bereitschaft, in anderen Menschen das Ziel der eigenen Wünsche und Hoffnungen zu sehen und über das Unglück, dass die Liebe mit sich bringen kann, sowie die große Sehnsucht vieler Leser nach Romanen und nach Antworten

Uwe Wittstock: Mit Ihren Kurzgeschichten zählen Sie seit 15 Jahren zu den wichtigsten Erzählerinnen Deutschlands. jetzt legen Sie Ihren ersten Roman Aller Liebe Anfang vor. Ist Ihre Erleichterung groß?

Judith Hermann: "Aller Liebe Anfang". Roman. S.Fischer verlag, Frankfurt am Main 2014, 19,99 Euro

Judith Hermann: Wenn Sie mit Erleichterung meinen, nicht mehr die Frage nach dem Roman hören zu müssen – ja, ich bin erleichtert. Und darüberhinaus alles in allem wohl so erleichtert, wie man es nach der abgeschlossenen Arbeit an einem Buch sein kann, egal ob es ein Roman ist oder ein Erzählungsband. Der Romanautor wird nie gefragt, wann er endlich seine allererste Erzählung schreiben würde, oder? Als Short-Strory-Autor muss man sich bedauerlicherweise rechtfertigen, wenn man keinen Roman schreibt.

Wittstock: Gut, drehen wir die Frage herum: Warum plötzlich ein Roman?

Judith Hermann: Die Schriftstellerin Katja Lange-Müller hat den schönen Satz gesagt: Nicht der Autor entscheidet über die Länge einer Geschichte, sondern die Geschichte entscheidet das selbst. Und genau so ist es. Es gibt im Schreiben den Moment, in dem sich die Geschichte verselbstständigt – es gibt ihn, wenn das Schreiben gelingt. Die Figuren verselbstständigen sich, sie nehmen den Autor, eine Weile lang, sprichwörtlich an die Hand. Sie entwickeln ihr eigenes Leben, ihren eigenen Willen, und sie führen die Geschichte dann eben nach dem eigenen Maß zu einem kurzen oder langen Schluss.

Wittstock: Der Stoff Ihres neuen Buches ließ sich nur als Roman, nicht als Kurzgeschichte erzählen?

Judith Hermann: Ich habe es mehrfach versucht, Stellas Geschichte in einer Erzählung aufzuschreiben, und es ist mir nicht gelungen. Ich hatte deutlich zuwenig Raum, Stella hatte zu wenig Raum. Es ging nur so, wie es jetzt geworden ist.

Wittstock: Sie erzählen von einer Frau, Stella, die begreifen muss, dass ihr Nachbar ein Stalker ist, der sie nie in Ruhe lassen wird. Wie sind Sie zu diesem Stoff gekommen?

Judith Hermann: Für mich ist es gar nicht so deutlich ein Buch über Stalking. Eher eine Geschichte über die Bereitschaft, in einem anderen Menschen das Ziel der eigenen Wünsche und Hoffnungen zu sehen – also über die Bereitschaft, mit der die Liebe beginnt. Eine Geschichte über die verschiedenen Formen der Liebe: zu einem Mann, der oft weg ist, zu einer kleinen Tochter, zu einer engen Freundin, die an einem fernen Ort lebt, mit der Stella aber dennoch alles Wichtige teilt. Stalking ist im Rahmen dieser Geschichte nur das Beispiel für eine Extremform der Liebe, die zur Obsession wird.

Judith Hermann (Berlin, Februar 2014) Foto: Andreas Labes

Wittstock: Das klingt, als wäre die Liebe in Ihrem Roman ein mitunter bedrohliches Gefühl.

Judith Hermann: Liebe ist doch zumindest eine zwiespältige Empfindung. Liebe hat viel mit Abhängigkeit zu tun, mit der Frage, ob man zu viel oder auch zu wenig vom anderen erwartet, ob man von ihm zu viel oder zu wenig bekommt? Liebe ist in der Idealvorstellung stärkend und beglückend. Aber das Unglück, das sie mit sich bringen kann, ist unvergleichlich, oder? Unvergesslich. Das kann bedrohlich sein, und das wissen wir, wenn wir uns auf die Liebe einlassen.

Wittstock: Woher kommt die Sehnsucht der Leser nach Romanen?

Judith Hermann: Ich glaube, das Verhältnis zur Kurzgeschichte ist ein wenig schwierig, weil sie offen bleibt, weil sie auch keine Lösung weiß. Sie stellt Fragen, aber sie gibt keine Antworten und manchmal scheint die eigentliche Geschichte erst nach dem Ende der Geschichte anzufangen. Der Roman zeigt mehr als eine Situation, er verfolgt mindestens einen Handlungsfaden über eine längere Strecke und er führt am Schluss zu einer Art Fazit. Sicher, auch dieses Fazit will keine gültige Antwort auf die Fragen sein, die der Roman aufwirft, aber es wirkt letztlich doch ein wenig so wie eine Entscheidung? Wie eine Botschaft. Und nach solchen Botschaften sehnt man sich, man möchte die Welt gern erklärt bekommen von jemandem, der es vielleicht besser weiß als man selbst – selbst wenn uns im Grunde klar ist, dass der Schriftsteller es auch nicht besser wissen kann.

Wittstock: Welche Botschaft hat Ihr Roman Aller Liebe Anfang?

Judith Hermann: Ich glaube, ich bin in diesem Roman am Schluss doch meiner Neigung zur Kurzgeschichte gefolgt – ich habe ihn so offen wie möglich zu Ende gehen lassen. Ich hoffe, dass sich der Leser schließlich dieses Endes annimmt und selbst entscheidet, was es zu bedeuten hat – und ob es für ihn etwas zu bedeuten hat. Das würde mich freuen.

Veröffentlicht unter Über Bücher | Verschlagwortet mit , | Hinterlasse einen Kommentar

Büchnerpreis 2014 für Jürgen Becker

Ängstlich und bedenkenträgerisch

Heute gab die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt bekannt, den Georg-Büchnerpreis in diesem Jahr dem Kölner Lyriker und Prosaautor Jürgen Becker zu verleihen. Was ist von dieser Entscheidung zu halten?

Als Friedrich Dürrenmatt 1986 den Büchnerpreis erhielt, sagte er bei einer der vielen Reden, die ein Büchnerpreisträger halten muss: “Preise bekommt man immer erst dann, wenn man keine mehr braucht.”

Jürgen Becker: "Wie es weiterging. Ein Durchkang - Prosa aus fünf Jahrzehnten". Suhrkamp Verlag. 21,95 Euro

Nun kann jeder Schriftsteller Preise gebrauchen, und Jürgen Becker wird für die Verwendung der Preissumme von 50.000 Euro auch etwas gutes einfallen. Da bin ich mir sicher. Gemeint hat der damals 65-igjährige Dürrenmatt mit seinem Satz aber wohl etwas anderes. Für einen etablierten Autor im Rentenalter hat ein Preis eine andere Bedeutung, als für einen jungen Autor, der noch um Anerkennung für seine Arbeit kämpfen muss. Hier kann ein wichtige Auszeichnung zugleich zu einer wichtigen Zäsur im Lebensweg und im Werk des Schriftstellers werden.

In der Satzung des Büchnerpreises heißt es: “Zur Verleihung können Schriftsteller und Dichter vorgeschlagen werden, die in deutscher Sprache schreiben, durch ihre Arbeiten und Werke in besonderem Maße hervortreten und die an der Gestaltung des gegenwärtigen deutschen Kulturlebens wesentlichen Anteil haben.”

Ich kenne Jürgen Becker ein wenig, er ist ein ungemein sympathischer Mann und ich freue mich für ihn, wenn er im Herbst den Büchnerpreis entgegennehmen kann. Aber bei allem Freude – ich würde nie behaupten, dass sein Werk “an der Gestaltung des gegenwärtigen deutschen Kulturlebens wesentlichen Anteil” hat. Seine Bücher waren in den sechziger und siebziger Jahren wichtig. Vielleicht hätte man ihm in diesen Jahren den Büchnerpreis geben sollen.

Der Büchnerpreis hatte seine beste Zeiten den sechziger Jahren, als einige sehr frühe und mutige Entscheidungen getroffen wurden: Enzensberger, Bachmann, Grass erhielten die Auszeichnung in aufeinander folgenden Jahren (1963 – 1965), obwohl sie erst Mitte Dreißig waren. Wenn die Akademie heute den Mut hätte, sich unter den Mitte Vierzigjährigen umzuschauen, würden mir Daniel Kehlmann, Ingo Schulze, Judith Herrmann oder – postum – Wolfgang Herrndorf einfallen. Mag sein, dass die literarischen Fähigkeiten dieser Autoren nicht grenzenlos sind. Aber das sind die von Jürgen Becker oder Walter Kappacher (Büchnerpreis 2009) auch nicht. Aber die jüngeren Autoren haben einen spürbaren Einflüss auf die Gegenwartsliteratur – wie es die Büchnerpreis-Satzung verlangt. Und für sie und ihre weitere literarische Arbeit hätte diese Auszeichnung eine außerordentlich hohe Bedeutung.

Die diesjährige Entscheidung der Akademie ist ängstlich und bedenkenträgerisch. Mag sein, dass die Jury wegen ihrer Entscheidung für Sibylle Lewitscharoff im vergangenen Jahr (nach der “Halbwesen”-Rede Lewitscharoffs) Kritik einstecken musste. Aber ich halte es für viel angemessener, einem umstrittenen Autor den Büchnerpreis zuzuerkennen, als einem vollkommen Unumstrittenen, dessen Werk in der Literaturgeschichte eine größere Rolle spielt als in der literarischen Gegenwart.

 

Veröffentlicht unter Personen, Poesie, Über Bücher | Verschlagwortet mit , , , , | 1 Kommentar

Runter kommen sie immer

„A Long Way Down“

Nick Hornbys sehr komische Geschichte über vier Selbstmörder auf dem selben Hochhausdach kommt jetzt ins Kino. Eine gute Gelegenheit, sich auch den Roman (wieder) vorzunehmen, der eine Art literarische Versuchsanordnung ist: Vier Leute haben jeden üblichen sozialen, religiösen oder sonstigen Halt verloren – welchen Grund könnte es für sie geben, hier und heute, also in einer westlichen Gesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts dennoch am Leben festzuhalten?

Nick Hornby: "A Long Way Down". Aus dem Englischen übersetzt von Clara Drechsler und Harald Hellmann. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2013. 9,99 €

Dies ist das lustigste Buch über Selbstmord seit langem. Zugegeben, im ersten Moment klingt das ein wenig leichfertig. Doch das täuscht. Denn der Engländer Nick Hornby, der es zu internationalem literarischen Starruhm gebracht hat, schreibt zwar Romane, die größten Wert darauf legen, ihre Leser gut zu unterhalten. Aber leichtfertig ist er nie. Sondern eher ein bodenständiger Moralist, der mit seinen Büchern hartnäckig die klassischen Fragen stellt: Wie führe ich mein Leben richtig? Wie handele ich verantwortungsvoll? How to be good? Er gehört nicht zu den Autoren, die ihren Lesern vor den Kopf stoßen, sondern zu denen, die ihnen sinnstiftend unter die Arme greifen möchte.

Schon deshalb muß man nicht befürchten, Hornby käme in seinem neuen Roman A Long Way Down auf die Idee, sich über Selbstmord-Kandidaten lustig zu machen. Vielmehr behandelt er sie wie gewöhnliche Menschen, die – wie alle anderen auch – ihre komischen Seiten haben oder in komische Situationen geraten. Bereits der Versuch, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen, ist naturgemäß hoch pathetisch – und also bei unpassenden Zwischenfällen schnell in Gefahr in eine Komödie umzuschlagen.

Martin zum Beispiel, ein abgehalfterter Fernsehmoderator, zieht sich am Sylvesterabend auf das Dach eines Londoner Hochhauses zurück, das sich bei Selbstmördern größerer Beliebtheit erfreut. Er hat durch einen Sex-Skandal sowohl seine Ehe wie seine Karriere ruiniert und nun nicht übel Lust, alle Probleme durch einen Schritt ins Leere zu lösen. Schon hat er sich an die Brüstung gesetzt und läßt die Beine ins Leere baumeln, als Maureen durch die Tür tritt, die mit gleichen Absichten auf das Dach kommt. Sie ist gut fünfzig und hat nur einmal im Leben mit einem Mann geschlafen, der sie danach verließ. Sie aber brachte einen behinderten Sohn zur Welt, dessen einzige erkennbare Regungen seine röchelnden Atemzüge sind und den sie nun seit Jahrzehnten tagein, tagaus zu pflegen hat. Wer könnte nicht verstehen, daß sie diese freudlose Existenz endgültig hinter sich lassen will?

Ein Selbstmörder allein auf einem Hochhausdach ist erschütternd. Trifft er jedoch auf einen zweiten, von dem er sich gestört fühlt und mit dem er über die Reihenfolge der Sprünge diskutieren muß, bekommt die Szene allmählich eine erheiternde Schlagseite. Und während Maureen und Martin noch verhandeln, taucht Jess auf, eine wuterfüllte, gründlich verkorksten Achtzehnjährige, die Tochter eines Staatssekretärs aus der Regierung Tony Blair. Sie ist – wie meist – betrunken und bekifft, hat dazu noch Liebeskummer und gerade auf einer Party beschlossen, es sei eine prima Idee, den verkorksten Abend durch mit einem Sprung ins Nichts abzurunden. Schließlich keucht der Pizzabote JJ das Treppenhaus nach oben, ein alt gewordener, glückloser Rockmusiker, dessen Band auseinandergefallen ist, dessen Freundin ihn vor die Tür gesetzt hat und der ebenfalls das Jammertal des Daseins hinter sich lassen möchte.

Nick Hornby: "A Long Way Down". Penguin Verlag, 2010. 9,95 Euro

Wer will, kann dieses Zusammentreffen von vier Selbstmördern auf einem Hochhausdach in der selben Neujahrsnacht für einen allzu konstruierten Einfall halten. Doch damit täte man dem Roman unrecht. Hornby geht es lediglich um einen möglichst effektvollen Auftakt für seine Geschichte. Er hätte seine Helden auch weit weniger spektakulär in, sagen wir, dem Wartezimmer eines Psychologen oder in einer Selbsthilfegruppe für Suizidgefährdete zusammenführen können. Man sollte das Ganze als eine Art literarische Versuchsanordnung des Moralisten Hornby betrachten: Vier Verzweifelte haben jeden üblichen Halt verloren – welchen Grund könnte es für sie geben, hier und heute, also in einer westlichen Gesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts dennoch am Leben festzuhalten?

Die vier erzählen die Geschichte in kurzen Kapiteln jeweils reihum aus ihrer subjektiven Perspektive. Durch die Begegnung mit den anderen um die nötige Ruhe für den letzten Schritt gebracht, nehmen sie die Treppe für ihren langen Weg nach unten und versuchen, sich zumindest für die nächsten Stunden, Tage, Wochen über die Runden zu retten. Dabei gerät die sonderbare Gruppe in allerlei schräge Situationen und wie es Hornby versteht, den großstädtischen Hintergrund dazu mit all seinen Moden, bizarren Kontrasten und kuriosen Milieus liebevoll auszumalen, ist bewunderungswürdig. Er hat einen unglaublich scharfen Blick für die allerneuesten urbanen Verhaltensweisen und Trends und versteht sie ebenso klug wie überraschend zu analysieren. Es gibt, so weit ich sehen kann, keinen deutschsprachigen Schriftsteller, der ihm in dieser Hinsicht auch nur das Wasser reichen könnte.

Zudem wird man als Leser von den Dialogen wie von einer Leimrute durch das Buch gezogen. Die vier Verzweifelten bilden nämlich keineswegs eine verschworene Gemeinschaft. Im Gegenteil, sie haben auf dem Hochhausdach eine Menge konventionelle Rücksichten hinter sich gelassen und sagen sich ziemlich ungeniert die Meinung. Damit gewinnt Hornby die Freiheit, so viele Bissigkeiten und Sticheleien, vor allem aber so viele Gags und Pointen in ihre Gespräche zu packen, daß es eine helle Freude ist. In dem Wettbewerb, welcher der komischen Romane Hornbys der komischste ist, dürfte A Long Way Down künftig gute Chancen auf einen der Spitzenplätze haben.

"A Long Way Down". Regie: Pascal Chaumeil. Darsteller: Pierce Brosnan, Toni Collette, Imogen Poots, Aaron Paul, Rosamund Pike. Auf DVD erhältlich ab September 2014

Allerdings vernachlässigt Hornby über dem glänzend ausgemalten großstädtischen Hintergrund und den so amüsanten Dialogen das, was bei einem traditionellen Roman im Vordergrund stehen sollte: die seelische Befindlichkeit seiner Helden. Sie bleiben oft schemenhaft, ihre psychische Not wird kaum je plastisch. Am besten noch gelingt es Hornby, die ungebärdige Jess und den gescheiterten Musiker JJ zu literarischem Leben zu erwecken. Allerdings hat er sie erkennbar nach dem Vorbild alter Figuren aus früheren Romanen geschaffen hat, nach Ellie aus About a Boy und Rob aus High Fidelity. Für Maureen jedoch, eine verschüchterte Kirchgängerin, scheinen ihm alle glaubwürdigen Darstellungsmittel zu fehlen. Er legt ihr mitunter ebenso brillant abgezirkelte Aperçus in den Mund wie dem fernsehtrainierten Martin – womit offensichtlich wird, daß Hornbys Pointengewitter nicht der Charakterisierung der Figuren dient, sondern daß die Figuren für ihn oft genug nur Sprachrohre sind für die zum Selbstzweck gewordenen komischen Wortwechsel.

Vielleicht ist es deshalb besser, A Long Way Down nicht als psychologischen Roman zu betrachten, sondern tatsächlich als eine literarische Versuchsanordnung zu der Frage: Was könnte heutzutage geeignet sein, aufgeklärte, aber gefährdete Menschen vom Selbstmord zurückzuhalten? Hornbys Antwort ist strikt diesseitig, von einem religiösen Sinn des Daseins ist bei ihm nicht einmal in Andeutungen die Rede. Selbst Maureen, die sich gelegentlich auf Gott beruft, macht letztlich eine ziemlich nüchterne Kosten-Nutzen-Rechnung auf, wenn sie sich fragt, was sie noch vor Leben zu erwarten hat.

Kommunikation lautet Hornbys Zauberwort. Solange seine Figuren allein sind oder sich durch Schweigen isolieren, erscheint ihnen ihre Lage hoffnungslos. Doch sobald sie Anteil nehmen an anderen und anderen erlauben, Anteil an ihnen zu nehmen, knüpft sich ein hochfeines, kaum wahrnehmbares Netz von Verbindungen, das sie behutsam ans Leben bindet – und dies selbst dann, wenn dieses Beziehungsnetz, wie bei Hornbys Helden, nicht nur freundschaftlicher, sondern durchaus konfliktträchtiger Natur ist.

Sicher, überaus originell ist das nicht, aber doch ein pragmatisches und wohl auch zeittypisches Stückchen Alltagsphilosophie. Mit seiner manchmal recht deutlich spürbaren Neigung, solche guten oder nur gut gemeinten Lebensweisheiten zu verbreiten, liegt der Autor Nick Hornby sicher nicht jedem Leser. Doch welcher Autor könnte das schon von sich sagen? Seine erstaunliche Gabe aber, die Strömungen und Stimmungen, die Macken und Marotten, die Themen und Typen seiner Epoche literarisch einzufangen, macht seine Bücher auf jeden Fall lesenswert.

Veröffentlicht unter Über Bücher | Verschlagwortet mit | Hinterlasse einen Kommentar

Literaturfestival?

Literatur ohne Schriftsteller?

Okay, niemand von uns weiß, was Hölderlin dazu sagen würde. Wozu? Zum 5. Bad Homburger Poesie- & Literaturfestival. Für diesen Höhepunkt deutscher Darbietungskunst wirbt nämlich das Plakat, dass mir heute auf einem Frankfurter Bürgersteig entgegentrat. Zugegeben, es ist eine feine Sache, wenn Kurorte Literaturfestivals organisieren – allerdings glaubt die Hölderlin-Stadt Bad Homburg dabei erstaunlicherweise ganz ohne Schriftsteller auskommen zu können. 

Das Plakat (und auch das Programm) bietet stattdessen lieber Schauspieler auf. (Hanns Zischler als echte Doppelbegabung ist hier eine Ausnahme.) Vermutlich sollen die hochverehrten Kurgäste beim Literaturfestival nicht durch den Anblick ungewaschener Schriftsteller auf der Bühne brüskiert werden. Sondern sich lieber am Anblick gut gekämmten Mimen erfreuen dürfen.

Aber wäre es da nicht besser, das Ganze gleich als “Tatort”-Festival, statt als Literatur-Festival firmieren zu lassen? Dann wären, so weit ich sehen kann,  nur Senta Berger und Hölderlin fehl am Platz, die bei diesem Gipfel deutscher TV-Unterhaltung noch nicht mitgefingert haben. Das verspräche eine bessere Quote als jetzt, wo Literatur angekündigt wird, Literaten aber nicht vorkommen dürfen. 

Veröffentlicht unter Buchmarkt | Hinterlasse einen Kommentar

Raymond Chandler starb vor 55 Jahren

Ein weißer Ritter ganz aus Sprache namens Philip Marlowe

Heute vor 55 Jahren starb Raymond Chandler. Er war der große Schriftsteller der Weltwirtschaftskrise von 1929 und ihrer Auswirkungen. Chandler hat der Lesewelt nicht nur einen unvergesslichen Helden geschenkt und ein paar der schönsten Kriminalromane geschrieben. Er hat auch ein paar bemerkenswerte Dinge über die Gesellschaft während der Turbulenzen eines Finanzdisasters literarisch festgehalten. Wer will, kann auf eigene Gefahr Parallelen zu der von Finanzturbulenzen bedrohten Gegenwart ziehen.

Es war ein Sturz ins Bodenlose. Während der zwanziger Jahre, der Roaring Twenties, reckten sich in USA alle Wachstumskurven dem Himmel entgegen, ein goldenes Zeitalter schien angebrochen. Dann machte der Börsenkrach am 24. Oktober 1929 das Land zur Ruine. Die Löhne halbierten sich, die Arbeitslosenrate stieg auf 25 Prozent, immer mehr Menschen hatten buchstäblich nichts zu Essen, ein Fünftel der Kinder litt an Unterernährung, an den Stadträndern bildeten sich Favelas, in denen Hunderttausende unter Wellblechdächern hausten. Auf dem Höhepunkt der Krise 1932 verlor irgendwo in Los Angeles auch der Manager einer Ölfirma seinen Job. Er war 44 Jahre alt, hatte früher sentimentale Gedichte geschrieben, inzwischen eine ausgeprägte Vorliebe für Alkohol und realistisch betrachtet keine Chance mehr, je wieder auf die Beine zu kommen.

“The Raymond Chandler Papers” Selected Letters and Nonfiction 1909-1959 Herausgegeben von Tom Hiney und Frank MacShane. Grove 2002, 12.95 Euro

Was dem Mann, er hieß Raymond Chandler, außer der Ehe mit einer 18 Jahre älteren Frau noch blieb, war seine Leidenschaft für Sprache. Er war derart hingerissen von dem lakonischen Ton dieses literarischen Jungstars namens Hemingway, der seine Sentimentalität so perfekt hinter knappen, scheinbar kaltschnäuzigen Sätzen verbergen konnte, dass er dessen Stil in einer kleinen Parodie nachzuahmen versuchte. Die einzigen, denen in Chandlers Augen etwas Ähnliches gelang wie Hemingway, waren die Autoren von billigen Heftchen-Krimis, die unter dem Titel „Black Mask“ erschienen – allen voran Dashiell Hammett. Also ließ er seinen Namen im Telefonbuch mit dem Zusatz „Schriftsteller“ versehen, setzte sich hin und schrieb seine erste Crime-Story für „Black Mask“. Sie erschien im Dezember 1933. Das Honorar betrug 180 Dollar, ein Cent pro Wort.

Genre und Epoche waren wie geschaffen füreinander. Der Glaube an das Gute im Menschen stand nicht eben hoch im Kurs. Banken und Spekulanten, die den Crash von 1929 mitausgelöst hatten, vertrieben ganze Völkerscharen von Schuldnern aus ihren Häusern und von ihren Farmen. John Steinbeck beschrieb die nackte Not der zu Wanderarbeitern degradierten Obdachlosen in „Früchte des Zorns“. Entwurzelung und Elend steigerte nicht eben die Immunität gegen die Verlockungen des Verbrechens.

In einem Rückblick auf seine frühen Geschichten schrieb Chandler, ihre Anziehungskraft habe wohl „in der ganz eigentümlichen Atmosphäre der Angst“ gelegen, die sie einfingen: „Ihre Gestalten lebten in einer Welt, in der alles schiefgelaufen war, einer Welt, in der, schon lange vor der Atombombe, die Zivilisation sich eine Maschinerie zu ihrer eigenen Zerstörung geschaffen hatte und mit dem ganzen irren Vergnügen damit umzugehen lernte, mit dem ein Gangster seine erste Maschinenpistole ausprobiert.“

Raymond Chandler: “Der große Schlaf”. Aus dem Englischen von Gunar Ortlepp. Diogenes Verlag, Zürich 2013. 10,90 Euro

Bei all dem hatte das Vertrauen in den Saat als fürsorgende Ordnungsmacht gelitten. Präsident Herbert C. Hoover unternahm zwischen 1929 bis 1932 wenig gegen die Wirtschaftskrise, da er fürchtete öffentliche Hilfen für notleidende Bürger könnten den amerikanischen Individualismus untergraben. Behörden wurden bald nicht mehr als Schutz, sondern als Teil der umfassenden Bedrohung wahrgenommen. Wer auf eine Polizeiwache gehe, so zitiert Chandler in einem seiner Romane einen zeitgenössischen New Yorker Reporter, der sei „aus unsrer Welt hinausgetreten in eine, in der es keine Gesetze gibt.“

Die ironische Pointe an Chandlers Büchern ist, dass sie zwar einige der finstersten Augenblicke der amerikanischen Geschichte porträtieren – zugleich aber den amerikanischen Mythos zutiefst bestätigen. Die Gerechtigkeit hat in der Welt, von der seine Romane berichten, keine Chance, es sei denn, es findet sich ein entschlossener Mann, ein typischer amerikanischer Held, der die Sache in die Hand nimmt und sie gegen alle Widerstände durchsetzt. Das war der weiße Ritter, von dem Chandler schon träumte, als er noch sentimentale Verse verfasste.

Mit Philip Marlowe schuf er den Archetyp des Privatdetektivs, der seither einen festen Platz im kollektiven kulturellen Gedächtnis hat. Marlowe ist Teil seiner aus den Fugen geratenen Gesellschaft, er bewegt sich in ihr wie ein Fisch im Wasser. Aber er ragt dennoch über sie hinaus. Mitten in ehrloser Zeit ist er ein Mann von Ehre. Während alle enthemmt nach Geld grabschen, nimmt er nur Honorare, die ihm nach seinem Moralkodex zustehen. Wenn alle nur auf den eigenen Vorteil aus sind, hält er den Kopf für die Schwachen hin.

Besonders glaubwürdig war diese Figur nie. Dass Chandler es dennoch gelang, sie Millionen von Lesern als realistisches Bild eines knallharten Kerls mit guter Seele zu verkaufen, ist letztlich wohl allein seiner stilistischen Perfektion zu verdanken. Fast alle seiner Sätze geben sich den Anschein, als seien sie nur auf nüchterne Beschreibung, kalte Kalkulation der Interessen oder auf sarkastischen Witz aus und doch glaubt man in jedem zugleich das romantische Herz Marlowes schlagen zu hören.

Raymond Chandler: "Die simple Kunst des Mordes". Briefe, Essays, Notizen, eine Geschichte und ein Romanfragment. Herausgegeben von Dorothy Gardiner und Kathrine S. Walker. Diogenes Verlag, Zürich 2009. 9,90 EuroDa die Black-Mask-Redaktion dazu neigte, alles in einem Manuskript zu streichen, was nicht der Spannung diente oder die Handlung vorantrieb, entwickelte Chandler eine diskrete Kunst, Atmosphäre zu vermitteln, ohne sie sichtbar werden zu lassen oder sie gar zu benennen: „Meine Theorie ging dahin, dass die Leser nur meinten, sie interessierten sich nur für die Handlung; dass sie in Wirklichkeit aber, obwohl sie es nicht wussten, genau an dem interessiert waren, was mich auch interessierte: an der Entstehung von Gefühl durch Dialog und Beschreibung.“

Nach etlichen Erzählungen wagte sich Chandler 1939 an seinen ersten Roman „The big Sleep“. Er wurde gleich zum Erfolg. Die größere Form bot ihm den Platz, Los Angeles als Moloch zu porträtieren, der „so viel Charakter hat wie ein Pappbecher“, als Dschungel, in dem es zuging wie im Raubtierkäfig zur Fütterungszeit. Durch den „New Deal“ Präsident Franklin D. Roosevelts fasste die Wirtschaft Amerikas inzwischen wieder Tritt, doch der von Chandler um Marlowe herum erbaute rabenschwarze literarische Kosmos hatte sich längst in den Köpfen der Leser verselbstständigt und lebte munter fort.

Raymond Chandler: “Der lange Abschied”. Aus dem Englischen von Hans Wollschläger. Diogenes Verlag, Zürich 2013. 12,90 Euro

Die Romane haben Chandler weltberühmt gemacht. Weil ihm ohne die strenge Black-Mask-Redaktion erzählerisch alles erlaubt war, stolperte er darin für kurze Momente aus seiner stilistischer Deckung und ließ Marlowe kurze Predigten halten wie einen Pastor. Chandler spürte das, konnte sich aber nicht mehr disziplinieren: „Das Ärgerliche mit diesem Marlowe ist: man hat zuviel über ihn geschrieben und geredet. Er wird immer selbstbewusster und versucht sein Leben so umzustellen, wie es seinem Ruf bei den Pseudo-Intellektuellen entspricht.“

Doch das bleiben kleine Schwächen. Nimmt man all seine Erzählungen und Romane zusammen, entwirft Raymond Chandler das Panorama einer Gesellschaft quer durch alle Milieus vom Tellerwäscher bis zum Millionär, vom Taschendieb bis zum Mörder. Es zeigt eine Gesellschaft, die alles für möglich hält, an nichts mehr glaubt und im Begriff ist, sich ihr Grab zu schaufeln.

Veröffentlicht unter Personen, Über Bücher | Hinterlasse einen Kommentar

Maxim Biller und Dietmar Dath

Das heiligste Tabu der deutschen Literatur

„Warum ist die deutsche Gegenwartsliteratur so unglaublich langweilig?“ fragt der wackere Randalierer Maxim Biller gestern in der Zeit. Und heute stimmt ihm Dietmar Dath in der FAZ in einer „Entgegnung“, die mit Entgegnung nichts zu tun hat, weitgehend zu. Es ist jetzt gut 20 Jahre her, dass ich über die Neigung der deutschen Gegenwartsliteratur zu gepflegter Langeweile schrieb. (zum Beispiel hier: http://uwe-wittstock.de/0000009b611323225/index.htm) Wenn Biller und Dath nun ins weitgehend gleiche Horn stoßen, müsste mir das recht sein. Ist es aber nicht. Oder nur mit dicken Einschränkungen.

Diese Einschränkungen lassen sich kurz zusammenfassen: Zum einen, sind die Gegenwartsromane (und nur von denen ist bei Biller und Dath die Rede, nicht von Lyrik, Drama oder sonstwas) inzwischen gar nicht mehr so langweilig, wie die beiden behaupten. In den letzten beiden Jahrzehnten hat sich im deutschen Gegenwarts-Erzählen viel getan. Von Mosebach bis Kehlmann, von Wolfgang Herrndorf bis Ferdinand von Schirach, von Ingo Schulze bis Judith Hermann, von Lukas Bärfuss’ Hundert Tagen bis Eugen Ruges Zeiten des abnehmenden Lichts und Capo de Gata sind in der jüngsten Zeit eine Menge Romane und Short-Stories erschienen, denen man manches nachsagen kann, nicht aber, dass sie langweilig sind.

Jetzt 20 Jahre alt: Uwe Wittstock: "Leselust. Wie unterhaltsam ist die deutsche Literatur". Luchterhand Verlag 1994. Bei ZVAB unter: http://www.zvab.com/basicSearch.do?anyWords=&author=Wittstock&title=Leselust&check_sn=on

Zum anderen finde ich Billers Attacke seltsam, weil sie das einzig mögliche Heil für die jüngere deutsche Literatur ausschließlich aus der Feder von Schriftstellern erwartet, deren Muttersprache nicht das Deutsche ist. Da Biller selbst zunächst mit Russisch und Tschechisch aufgewachsen und erst später ins Deutsche hineingewachsen ist, glaube ich zu ahnen, wie er auf seine These verfallen ist. Aber eine überzeugende Begründung liefert er in seiner Polemik nicht, sondern setzt die These schlicht als Tatsache voraus. (Alter Taschenspielertrick.)

Wenn die deutsche Literatur heute angeblich dürftig ist, liegt das in Billers Augen daran, „dass die – wenn man so will – gesellschaftlichen und intellektuellen Produktionsmittel nach wie vor in den Händen der Autochthonen liegen. Kritiker, aber auch Verleger, Lektoren und Buchhändler sind zu 90 Prozent Deutsche. Die, als echte oder habituelle Christen, als Kinder der Suhrkamp-Kultur und Enkel von halbwegs umerzogenen Nazisoldaten, bestimmen, was gedruckt wird und wie, sie sagen, was bei Hugendubel, Thalia und Dussmann auf die alles entscheidenden Verkaufstische kommt, sie zahlen die Vorschüsse, sie verleihen die Preise, sie laden als Verleger zum Abendessen ein.“

Hier bastelt Biller an einer klassischen Verschwörungstheorie: Die Deutschen sind einfach zu blöde, um zu begreifen, was gute Literatur ist. Oder um es mit dem Kritiker Christoph Schröder zu sagen: Es ist nicht sehr wahrscheinlich, „dass ein Haufen von Nazis in deutschsprachigen Verlagen und Lektoraten die wilde, ungezähmte und wirklichkeitsnahe Migrantenliteratur verhindert“.

Maxim Biller: "Letzte Ausfahrt Uckermark". In der "Zeit" vom 20. Februar

Billers Beschreibung der personellen Lage im deutschen Literaturbetrieb ist zwar meines Erachtens richtig: 90 Prozent der entscheidenden Literaturbetriebs-Positionen werden von – um Billers Vokabel zu benutzen – gutbürgerlichen Autochthonen besetzt. Aber was er unterschätzt, ist die Neigung, wenn nicht die Leidenschaft des intellektuellen Bürgertums zur Selbstkritik, ja zum Selbsthass. Biller tut so, als wolle das Milieu der Literaturbetriebsangehörigen nichts anders lesen als Romane, die exakt abgestimmt sind auf die Erwartungen des Literaturbetriebsangehörigenmilieus.

Das mag bei einigen der Angehörigen dieses Milieus so sein, vielleicht sogar bei einer Mehrheit davon. Aber jeder, der den Literaturbetrieb kennt, weiß, dass es gerade hier immer hoch empfindsame und neugierige Quertreiber gibt, die sich nichts sehnlicher wünschen, als Schriftsteller, die den eingeschliffenen Erwartungen des Betriebs widersprechen. Sie fallen vor jedem Nachwuchsautor auf die Knie, der etwas Neues, Unerwartetes, Widerspenstiges versucht – auch wenn dieser Nachwuchsautor ein Migrant ist. Die Opposition gegen das Kultur-Milieu ist längst fester Bestandteil des Kultur-Milieus geworden.

Meine These zur Langeweile beim Lesen deutscher Romane war vor 20 Jahren eine andere: Ich glaubte (und glaube), dass sich Verleger, Kritiker, Lektoren damals zu lange an einigen abgenutzten und normativ gewordenen Spielregeln der Moderne festgehalten hatten: Die Vorstellung, die Romanliteratur, dürfe ihr ästhetisches Glück ausschließlich bei Sprachexperimenten oder formaler Innovation suchen (was manchmal auch ganz schön ist), hielt ich für falsch. Stattdessen plädierte ich dafür, daneben genauso Romane ästhetisch gelten zu lassen, das sich von diesen erschöpften Forderungen der Moderne losmachen und wieder Anschluss suchen an ein traditionelles Erzählen. Ein Erzählen, für das Handlung, Plot, Dramaturgie wichtige (aber nicht die einzigen) Punkte der ästhetischen Überlegungen sind.

Das hat mir damals zwar eine Menge Widerspruch eingetragen, aber auch die Erfahrung, dass man im Literaturbetrieb nie alleine steht, wenn man gegen die Ansichten der Betriebs-Mehrheit aufmuckt. Gern hätte ich mich damals zum einsamen, aber aufrechten Rufer in der Wüste stilisiert – konnte aber feststellen, wie rasch ich Teil eines kleinen, anwachsenden Wüsten-Chores wurde. Heute ist, was damals zu Stürmen im Literaturbetriebs-Wasserglas führte, weitgehend selbstverständlich geworden und kann nur noch komplett geschichtsvergessenen Dogmatiker der literarischen Moderne in Erregung versetzen.

Dietmar Dath: "Weißbrote erzählen". Heute im Feuilleton der FAZ. Angeblich eine Erwiderung auf Billers Aufsatz "Letzte Ausfahrt Uckermark"

Ende der Abschweifung, zurück zu Biller und Dath: Das Heil der Literatur ausschließlich von Autoren zu erwarten, die aus einem Sprachraum in einen anderen wechselten, ist offensichtlicher Unsinn. Interessanter ist dagegen eine Beobachtung von Dath: Nämlich dass, wenn man länger mit jüngeren deutschen Schriftstellern spricht, sie kaum von deutschen Autoren als Vorbildern reden, sondern von Autoren wie „Don Winslow, Zadie Smith oder Toh EnJoe“ und außerdem von „Fernsehserien, Filmen und Platten“.

Einmal abgesehen davon, dass ich keinen Schimmer davon habe, wer Toh EnJoe ist (zugegeben, das ist mein Fehler, Wikipedia teilt mir eben mit, es sei ein japanischer Autor, der vor allem „speculativ fiction or science fiction” schreibe), teile ich Daths Beobachtung: Bei Bier oder Wein spät abends in der Kneipe wird unter Autoren, aber auch unter Kritikern und Lektoren, nicht mehr über Klassiker der Moderne gestritten, sondern von Philip Roth und Jonathan Franzen geschwärmt, von Umberto Eco und García Márquez, von den Sopranos und von House of Cards.

Bemerkenswert daran ist in meinen Augen, wie eng die Verbindung zwischen diesen Autoren und Serien zu den Formen des traditionellen Erzählens sind. Bei Genre-Büchern wie den Krimis von Don Winslow oder Genre-Serien wie Sopranos liegt die Verbindung auf der Hand. Aber auch bei den anderen genannten Autoren scheint sie mir unabweisbar: Es sind Schriftsteller, die, ohne ihre künstlerischen Intentionen und Ambitionen zu verraten, darüber nachdenken, wie sie ihre Romane so erzählen können, dass sie bei Lesern Interesse wecken. Horribile dictu: Ohne ihre ganz persönlichen künstlerischen Ziele aus den Augen zu verlieren, denken sie beim Schreiben ans Publikum!

Das scheint mir bis heute das heiligste Tabu des ambitionierten deutschen Literaturbetriebs und des Feuilletons zu verletzten: Einem Romanschriftsteller zu raten, beim Schreiben auch mal an erprobte Mittel und Tricks zu denken, mit denen er die Aufmerksamkeit seiner Leser wach halten und fesseln kann. Dabei liegt das gerade bei der Romanliteratur nahe: Keine andere der üblichen Literaturformen verlangt vom Leser, so viel Lebenszeit zu investieren, wie der Roman. Ist es da ganz falsch, wenn er vom Roman im Gegenzug erwartet, gut unterhalten zu werden? Beziehungsweise, dass er ihn beiseite legt, wenn er sich – um Biller zu zitieren – nach ein paar Seiten als „unglaublich langweilig“ erweist?

Veröffentlicht unter Geschmacksfragen, Personen, Über Bücher | Verschlagwortet mit , , | 2 Kommentare

Sascha Anderson im Film “Anderson”

Die Schriftsteller und der Verrat

Gestern habe ich die Presse-Vorführung des Films Anderson über Sascha Anderson gesehen – war aber offenbar in der falschen Vorstellung. Denn wie Susanne Schleyer berichtet (https://www.facebook.com/susanne.schleyer?fref=ts), gab es am Nachmittag nach der offiziellen Berlinale-Premiere „riesiges geschrei von betroffenen und sich betroffen fuehlenden. vor dem kino polizei. es haette nur noch gefehlt, dass sich leute pruegeln.“ Das habe ich verpasst. Auch 25 Jahre nachdem der Schriftsteller Sascha Anderson als Stasi-IM enttarnt wurde, sorgt sein Fall scheinbar noch immer für öffentliche Erregung. Erstaunlich.

Da ich kein Betroffener bin, brauche ich mich nicht so zu erregen. Ich habe Anderson 1983 in „Berlin, Hauptstadt der DDR“ besucht und ihn in der FAZ porträtiert als Lyriker und Impresario vom Prenzlauer Berg, der federführend dabei half, die dortige Boheme zum Markenartikel PRENZLAUER BERG zu machen. Er erzählte mir schon damals, und ich schrieb es in meinem Porträt, dass ihn die Stasi regelmäßig verhöre. Was er der Stasi bei diesen Gelegenheiten alles in die Notizblöcke diktierte, sagte er mir nicht.

Sascha Anderson in "Anderson" von Annekatrin Hendel

Ich bin Anderson seither immer wieder mal begegnet und habe gelegentlich auch über ihn oder seine Bücher geschrieben. Zwei der Artikel sind hier zu finden: http://uwe-wittstock.de/blog/?cat=68

Im Film Anderson war Anderson selbstkritischer und vor allem sachlich klarer, als ich ihn je erlebt habe. Anderson neigt zu verschachtelten Satzkonstruktionen, die er gern halbfertig in der Schwebe lässt und deren Sinn mir oft dunkel bleibt. Der Filmerin Annekatrin Hendel ist es jedenfalls gelungen, ihn konkreter als sonst über seine Zuträgereien zum Sprechen zu bringen, und dafür darf sie sich und ihrem Film schon mal ein paar Pluspunkte gutschreiben. So gibt Anderson zum Beispiel unmissverständlich zu, es sei ihm klar gewesen, dass die Stasi Material suchte, um Regimegegnern juristisch korrekte Prozesse nach DDR-Recht machen zu können – und dass er solches Material wissentlich geliefert habe.

Das Ende des Films fand ich allerdings schwach: Hendel stellt eine Szene an den Schluss, in dem Anderson erklärt, weshalb die von ihm verratenen ehemaligen Freunde noch heute vergeblich auf eine Entschuldigung warten. Er bemüht dazu ein rhetorisches Täuschungsmanöver: Er könne doch nicht, sagt Anderson, mit dem Satz „Ich entschuldige mich“ eine Verzeihung gleichsam einfordern. Nein, nur die anderen könnten ihm verzeihen. Dass er stattdessen sehr wohl „um Entschuldigung bitten“ könnte, blendet Anderson aus – und Hendel lässt ihn nicht nur damit davonkommen, sondern gibt Andersons windiger Scheinerklärung sogar noch zusätzliches Gewicht, indem sie den Film damit unkommentiert ausklingen lässt.

(Sascha Anderson teilt dazu per Mail mit, seine Erklärung in der letzten Szene sei verkürzt worden: “vollständig hieß sie, dass ich mich für das, WAS ich getan habe, nicht entschulden (nicht entschuldigen!) kann und werde, aber für das WIE um verzeihung bitten muss und will. was übrigens offline längst (seit über 20 jahren) passiert ist.”)

Wie auch immer: Ob Andersons Bitte um Entschuldigung tatsächlich seit Jahrzehnten ausgeblieben ist, und ob der Fall Anderson deshalb noch heute für Erregung sorgt, könnte aber letztlich nur eine Vollversammlung der Verratenen klären.

Und zu denen gehöre ich nicht, weshalb ich mir beim Anschauen des Films anderes durch den Kopf ging. In dem sehr eindrucksvollen Film Capote, der Philip Seymour Hoffmann seinen Oscar einbrachte, ging es im Kern ebenfalls um den Verrat eines Schriftstellers an einem Freund. Der Film ist kein Dokumentarfilm wie der von Annekatrin Hendel, aber er ist der tatsächliche Lebensgeschichte Truman Capotes hart auf den Fersen und seine Handlung keine Erfindung eines verschwitzten Hollywoodautoren-Hirns.

"Capote". Fox. Regie: Bennett Miller

Capote freundete sich bei den Recherchen zu seinem Tatsachenroman Kaltblütig mit einem der beiden Mörder an, über die er schrieb – und beschaffte ihm bessere Anwälte, die dem Mann Strafaufschub verschafften. Doch als das Buch fertig war, und nur noch das letzte Kapitel – die Hinrichtung der Mörder – fehlte, stellte Capote seine Hilfe ein. Ein ultimativer Verrat: Sein Buch kann erst dann abgeschlossen werden, wenn das Urteil vollstreckt wird – also lässt Capote den Freund im doppelten Sinne des Wortes hängen.

Mit anderen Worten: Schriftsteller sind keine netten Menschen. Wenn sie es mit einem Buch ernst meinen, nehmen sie wenig Rücksicht. Oder genauer: keine Rücksicht. Das Werk ist ihnen wichtig, nicht die Menschen. Vielleicht hat Literatur tatsächlich, wie häufig behauptet wird, eine menschenfreundliche, humanisierende Wirkung. Das Verhalten von Schriftsteller im realen Leben hat diese Wirkung eher selten. Es geht ihnen um ihre Arbeit, nicht um Moral.

Möglicherweise liegt hier eine Lehre, die man aus dem Fall Anderson ziehen kann. Sascha Andersons Hauptwerk waren nicht seine Gedichte, es war seine Arbeit als Impresario, der die Marke PRENZLAUER BERG mitprägte und in Ost und West popularisierte. Eine nicht ganz uneigennützige Arbeit, denn je wichtiger die Marke wurde, desto wichtiger wurde auch deren Zentralfigur Anderson. Diese Arbeit wäre gegen die Stasi nicht möglich gewesen, also hat er sie im Kontakt mit der Stasi vorangetrieben. Für moralische Bedenken war da wenig Platz.

Aber gerade in der DDR wurden Schriftsteller gern als Gegenspieler zum diktatorischen Regime betrachtet – und also in der Rolle von Weisen, Märtyrern oder säkularen Heiligen gesehen. Umso schmerzlicher die Enttäuschung, als sich Einzelne davon als Verräter entpuppten.

P.S.: Sehr gut gefallen hat mir auch die Verzückung, mit der die Ausstellungsmacherin Ingrid Bahß im Film von der Ausstrahlungskraft Andersons berichtete und von der Grandezza, mit der er seine Jeans zu tragen wusste. Dazu wurden alte schwarz-weiß-Fotos eingeblendet, auf denen Anderson wirkte wie ein etwas zerknautscher Bruder von Jim Morrison. Vielleicht sollte man auch nicht unterschätzen, wie sehr Anderson zur Identifikationsfigur und zum role modle der Boheme im DDR-Sozialismus aufgestiegen war. Weshalb dann später die Enttäuschung und die nachträglichen Abgrenzungsbedürfnisse so besonders groß waren – wer möchte sich schon über so lange Zeit mit einem Verräter identifiziert haben.

Veröffentlicht unter Personen | Verschlagwortet mit , , | 2 Kommentare

Mails sonder Zahl

Als der kleine Sonderzahl Verlag mal riesengroß auftrat

Ich verdanke dem Wiener Sonderzahl Verlag einen äußerst unterhaltsamen Samstag. Offenbar hat ein Mitarbeiter des Verlags am Freitagabend per Mail-Verteiler eine Routine-Anfrage an alle bekannten Literaturkritiker verschickt: Ob sie die Programmvorschau künftig digital oder in Papierform erhalten möchten. Der unglückselige Mitarbeiter hat allerdings – vermutlich irrtümlicherweise – dafür gesorgt, dass jede Antwort auf diese Anfrage an sämtliche Adressen des Kritiker-Verteilers weitergeleitet wurde. Und danach offenbar den Arbeitsplatz in Richtung Wochenende verlassen, ohne auf den Rücklauf zu achten.

Mit dem Ergebnis, dass sich in diesem Kritiker-Verteiler in kürzester Zeit eine herrliche Mail-Lawine entwickelte: Es wurde nicht nur jeder Kritiker darüber unterrichtet, wie seine Kollegen die Sonderzahl-Vorschau zu Kenntnis zu nehmen wünschen, ob elektronisch oder analog. Nein, der rasant anschwellende Mail-Gesang informierte auch in Echtzeit über die Nervenstärke der hochverehrten Mit-Kritiker. Freitagabend waren es schon rund 50 Mails in meinem Verzeichnis, Samstagfrüh dann noch einmal 75. Solcher Mitteilungsflut stand mancheiner der sonst so souverän urteilenden Literaturkenner nicht völlig gelassen gegenüber.
Es begann zunächst, wie sich das für Kritiker gehört, fragend und um Aufklärung bemüht:

Aber warum bekomme ich ständig die Antwortmails an diesen Sonderzahl-Verlag geschickt? Scheint irgendetwas falsch verdrahtet zu sein.

Doch bald schon wurde der Ton schärfer:

Erstens brauche ich Ihre Vorschau weder auf Papier noch digital – zweitens brauche ich auf gar keinen Fall alle Meldungen Ihres Verteilers in cc.
Etwas genervt

Dann wurde der scharfe Ton knapper:

Bitte diesen Irrsinn abstellen!

Auch die Zahl der Ausrufezeichen nahm rasant zu:

Es reicht jetzt!!!

Und:

unerhört!!!

Das für Kritiker berufsnotwendige Temperament machte sich in Versalien bemerkbar:

Ich brauche ab sofort NULL Information von Ihnen.

Der Verlag Sonderzahl wird wohl künftig damit rechnen müssen, für einige Literatursachverständige nicht allein seines Programms wegen zu einem festen Begriff geworden zu sein:

diese sonderzahl geht mir irgendwie auf den nerv kann man das abstellen
bitte hören sie alle auf, meinen mailbriefkasten zuzufüllen … zum letzten
mal.
Keine Mails mehr von Sonderzahl! 

Doch nun meldeten sich die Analytiker unter den Lawinenopfern zu Wort:

Ein Wort zur Güte: Begreifen Sie denn nicht, Sonderzahl hat einen dilettantischen IT-Fehler gemacht. Sie können das nicht, die eMail-Massenversände. Anstatt die Adressdatei ins BC  zu setzen, haben die ihre ganze Adressdatei als Empfängerfeld eingesetzt. Jeder der antwortet, antwortet allen, Sie könnes es in der Tat nur stoppen, wenn Sie schweigen. Anders geht es nicht, die Antworten werden automatisch multipliziert und an alle geschickt!

Eine Schweige-Aufforderung an Kritiker zu verschicken, ist freilich eine heikle Sache. Sie erwies sich, selbstverständlich, als nicht erfolgreich. Vielmehr wurden sogar Angebote zur grenzüberschreitenden Entwicklungshilfe wurden gemacht:

Sonderzahl sollte vielleicht endlich mal reagieren vielleicht eine kleinen Nachtschicht einlegen, einen IT-Spezialisten engagieren, etwas unternehmen. Ich kann sonst vielleicht einen IT-Studenten aus der Schweiz schicken :-)  

Naturgemäß fand sich in der Schar der hochtrainierten Rezensenten bald einer, der den kultur-, zivilisations- und zeitkritischen Aspekt der Angelegenheit in angemessen düster-melancholischen Ton herausarbeitete.

Liebe ( und zum Teil sehr aufgebrachte) Kolleginnen und Kollegen,
gerade bin ich nach Hause gekommen und habe nochmals in meine Berufs-Mail geschaut – inzwischen finden sich dort Aberdutzende von Sonderzahl-Antwort-Mails. Ich kann Sie nur bitten, die Sache gelassen hinzunehmen – und vor allem den engagierten kleinen Verlag nicht fortwährend zu beschimpfen und ihm mit Liebesentzug zu drohen.
Was hier abgeht, ist ganz einfach: Es ist der Sieg der alles platt walzenden Eigendynamik von digitaler Kommunikation über jeden/jede von uns – den Verlag selbst eingeschlossen. Irgendetwas – keine Ahnung, was – ist auf dem Sonderzahl-Server oder bei der Programmierung der Mail schiefgelaufen. Der Verlag selbst ist – logischerweise – nicht mehr besetzt, kann also nicht eingreifen. Also rotiert das System selbstherrlich vor sich hin und zeigt uns exemplarisch, was wir als E-Mailer & I-Phoner & Smartphoner wirklich sind: Objekte einer längst sich selbst bestätigenden & eben gelegentlich auch außer Rand & Band geratenden Kommunikation.

Das war in seiner analytischen Brillanz derart adornomäßig unübertrefflich, dass die weiteren Kommentare zwangsläufige einen anderen Aspekt ins Gespräch bringen mussten, um überhaupt noch Punkte machen zu können:

Sehr geehrte Damen und Herren des Sonderzahl-Verlags,
vielleicht ist es Ihrer Aufmerksamkeit entgangen, aber mit einer Rundmail von Freitag, Ihren Vorschauversand betreffend, haben Sie den deutschsprachigen Literaturbetrieb erfolgreich gegen sich und die Produkte Ihres Hauses aufgebracht. Zu diesem speziellen Beitrag zum Wiener Aktionismus kann man nur gratulieren. Man wäre Ihnen für die Beendigung  der Aktion allmählich aber dankbar.

Damit war das Stichwort gefallen, dem einer Kritiker-Versammlung – wie virtuell sich auch immer sein mag – einfach nicht widerstehen kann. Ist es möglich, das kleine Kommunikations-Desaster unter künstlerischer Hinsicht betrachten? Ist es vielleicht sogar möglich, es sich mit salbungsvollen Zitaten (samt Fußnoten) garnieren und menschelnde Lebensweisheiten daraus zu destillieren?

Liebe Leidensgenossinnen und Leidensgenossen ;-)
lassen sie es uns mal als unfreiwilliges Experiment und Kunstaktion betrachten. Hier ein Gedanke zum Thema – von Marina Abramovic:
“Die Geschwindigkeit unseres Lebens beschleunigt sich am Ende dieses Jahrhunderts immer mehr. Unsere Konzentrationsspannen werden immer kürzer. Unsere Kinder Zippen (!) sich durch die Fernsehprogramme (und wir uns analog dazu durch die Apps). Eine Folge davon ist, dass wir immer rastloser und neurotischer werden. Der Mensch sollte wieder ins Nichtstun investieren. Es ist wie bei einer Bank: je mehr man investiert, desto mehr bekommt man zurück. In diesem Fall ist die Zeit das Investment”. (aus Double Edge, Kunstmuseum Kanton Thurgau). 
wenn es also einen Supergau gibt…
nehmen wir es gelassen…
denken darüber nach…
und schmeissen das Handy und/oder den Computer den Berg runter..
vielleicht hilfts ja..

Um ganz offen zu sein: Ich haben leise Zweifel daran, ob die Autorin dieser Anregung der eigenen Aufforderung Taten folgen und ihre IT-Ausrüstung der Schwerkraft überließ. Selbst die Urheber solcher Lebensweisheiten wollen so lebensweise dann doch nicht sein. Aber solchermaßen künstlerisch auf Trapp gebracht, war dann auch die ersten sprachlich rundum gelungene Reaktionen zu bestaunen. Die erste betrachtete den ganzen Vorgang streng unterm Gesichtspunkt moderner Kunst, die bekanntlich ja immer streng im Gegensatz zu dem schlechten Zustand der Realität stehen und eine Gegenwelt errichten soll:

…wenn es Kunst ist, ist es okay, wenn es okay ist, kann es keine Kunst sein und wenn es nicht okay ist, ist es eben doch Kunst – man kommt da gar nicht raus…

Die zweite bemerkenswerte Reaktion beschränkte sich aufs lakonische Sprachspiel:

Mails sonder Zahl

Eine Reaktion, die unmittelbar die adäquate literaturkritische Anerkennung nach sich zog:

Genau: vergesst die Lyrik nicht

Einmal in der Welt der Literatur angekommen, ließ auch eine Talentprobe von Thomas Bernhardschen Furor nicht mehr lange auf sich warten. Sie richtete sich allerdings überraschenderweise (aber Überraschung, Irritation, Brüskierung sind ja vielfach erprobte Mittel der literarischen Moderne) nicht gegen Sonderzahl, sondern gegen die Kollegenschaft:

namentlich an alle schlaumaier, die gestern und heute mit teils dummdreisten
mails diese kiste hier weiter sponnen: ist es wirklich sooo schwer zu
checken?!? es gibt hier a) eine mailingliste sonderzahl2@mail.aufdraht.at
die offenkundig von außen bedient werrden kann und dann das tut was
mailinglisten tun sollen – an alle die auf ihr eingetragen sind weiterleiten
und b) die eigentliche absenderadresse verlag@…
hätte gestern insb. jeder von denen, die hier seither dummdreist spammen und
dummdreist das maul aufreissen, selber auch nur für einen cent
technikverständnis wäre NIE etwas passiert! denn: wer bat denn irgendwen an
die gesamte liste zu schreiben via mutmasslich “antworten an alle”?!? hätte
keiner von jenen die hier herumpoltern und weiteren traffic verursachen
etwas anderes getan als was man tun will wenn man einen einzelnen account
erreichen will, nämlich NUR an verlag@sonderzahl.at  gemailt, aka antwort
einzig und allein an den absender der original-pressestellenafrage, wäre
niemand über deren bisher einmalige bitte mitzuteilen, ob man e-mails oder
gedruckte vorschauen will, hinaus belästigt worden.
und dann noch diese 24/7-anspruchsmentalität – zum kotzen solche sog.
kollegen!

Bemerkenswert, wie hier – als Beispiel experimenteller Schreibweisen – die orthographischen und grammatikalischen Strukturen der Sprache aufgesprengt werden und so die Ordnungslosigkeit des erlebten Kommunikationskataströphchens auch formal in den Text eingeschrieben sind. Von der Zeichensetzung mal ganz zu schweigen. Großer Sport! Ganz großes Kino! Hier zeigt sich, wie Kritik selbst zur Kunst wird – so wie Alfred Kerr es forderte. Hier, in dieser Kritiker-Beschimpfung, spricht der wahre Kritiker-Meister und ihm wird zu huldigen sein, sobald der Sonderzahl-Unfall für die Gründung der ersten Sonderzahl-Selbsthilfe-Gruppe gesorgt hat. Denn auch die wie gefordert:

Ich bin für ein Treffen der Sonderzahl-Opfer auf der nächsten Frankfurter Buchmesse.

Sehr gut! Als Treffpunkt schlage ich vor: den Sonderzahl-Stand. Und bitte, bitte ladet mich dazu ein. Das möchte ich auf keinen Fall versäumen. Selten habe ich über die Literaturkritik hierzuland so Vieles und Vielfarbiges gelernt wie heute bei der gekürte meiner Mails.

PS: Inzwischen gib es eine objektivere und nicht so vergnügungssüchtige Darstellung des Sonderzahl-Spaßes. Hier der Link, für alle, die noch mehr wissen wollen:

http://www.lesenmitlinks.de/meta-spam-2-0/

Veröffentlicht unter Geschmacksfragen, Personen, Über Sprache | Verschlagwortet mit | 1 Kommentar

Khaled Hosseinis “Traumsammler” – eine Rezension (ausnahmsweise in Englisch)

A love that came from the desert

The Kite Runner already made him famous. But with his new novel And The Mountains Echoed (dt. Traumsammler), Khaled Hosseini proves to be a storyteller of international standing.

Khaled Hosseini: "Traumsammler". Übersetzt von Henning Ahrends. S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013. 19,99 Euro

“Who?” The guy at the reception desk in St. Louis has no clue. I repeat and spell “Khaled Hosseini” for him and explain that this hotel is temporarily accommodating one of the most successful writers in America. “Really?”, the guy asks helplessly. However, as soon as I mention the book title The Kite Runner, he becomes alert. “Oh yes”, he happily says, “I know the movie.” A great movie, so striking. Finally he finds Hosseini’s name on his list, rattles his keyboard to connect me, and bids me farewell with the words: “Okay, tomorrow I read the book.”

To read The Kite Runner tomorrow would be a good idea already. Because not only is it a successful, but also a remarkably human book. The first two novels of Hosseini have by now reached a worldwide print run of over 38 million. At some point they could be more famous, even at reception desks, than the film adaptation of Hosseini’s debut.

On the other hand, it is a bit unfair to always link the name of the writer Hosseini to the title The Kite Runner like a trademark. At least now, after his new, third novel And The Mountains Echoed has been published. Because this is the best Hosseini has written so far.

The book contains an enormous range of space and time: It starts with two children in a village removed from the world, somewhere in the Afghan desert. But then the story spreads over decades and continents, and expands to a monumental family epic in the age of internet and globalization.

Hosseini has phenomenally succeeded in coalescing seemingly reluctant elements: the ancient, unfading power of storytelling on the one hand and the virtuously used devices of modern literature on the other hand. The novel that has thus come into being is altogether current, but at the same time seems to stand beyond time: a ravishingly vivid book, yes, but never bitter, gentle, wise, of great world-knowledge, and – if it is permitted to borrow the word from the guy at the reception desk – therefore striking.

Khaled Hosseini: "And The Mountains Echoed". Bloomsbury Trade. 16,95 Euro

Did he want to capture new settings for his literature with the new novel, I ask Khaled Hosseini. After all, his first two books The Kite Runner and A Thousand Splendid Suns are almost exclusively confined to his native country Afghanistan. “I didn’t plan it”, he says, “I followed the ways of my characters. Their story grew under my hands like a tree that develops new, strong, protruding branches.”

But what is it, in spite of everything, that holds his novel together at the core? How does he manage the feat that his story, which leads around half the globe, at the same time conveys a feeling of great intimacy and closeness to his characters? “At the center of the novel”, Hosseini says, “is the story of two siblings, who are very closely connected, but – to their anguish – are separated and marked by the scar of their separation their whole lives.” However, this feeling of having suffered a permanent loss not only bothers those two, but also other important characters – it is basically the motif of the whole novel.

When the reader encounters them for the first time, Abdullah is ten and his sister Pari three years old. Their father, an impoverished day laborer, is struggling hard for the survival of his family in the Afghanistan of the Fifties, and he is on the verge of going under. His first wife bled to death while giving birth to Pari. His second wife, which he married afterwards, had a child that died in the grim winter shortly after its birth. Now the next winter is on its way, and again the hardships are so great that he has to fear cold and hunger will take another victim in the family.

Khaled Hosseini: "Drachenläufer". Übersetzt von Angelika Naujokat und Michael Windgassen. Berliner Taschenbuch Verlag. 9,99 Euro

He therefore decides to sell his daughter Pari to a childless rich couple in Kabul. This not only establishes better future prospects for Pari, but also better chances of survival for the rest of the family. However, the price is almost unbearable: never seeing the beloved child again, and to tear the siblings apart, who have grown up in close intimacy.

Hosseini traces the fates of his characters over decades up until the present: Abdullah, who leaves his home country because of the endless wars and eventually opens a restaurant in the US. Pari, who emigrates with her very western-oriented adoptive mother to Paris. But also the fate of the adoptive father, who stays behind in Kabul, bed-bound by a stroke. Or that of the servant, who holds out for the sick man and finally inherits the grand mansion from him, which he tries to save through the commotion of the years of the Taliban regime.

Hosseini’s narrative strength is tremendous. Sometimes he rushes through the lives of his heroes. Then again he dives deep into the crucial moments along their way and makes every of their emotional impulses accessible to the reader. Whether it is the Greek doctor, who works for a relief organization in Kabul; or the Afghan warlord, who committed severe war crimes against the Sowjet occupiers, and now sometimes gives gifts to his fellow Afghans and sometimes steals from them – Hosseini plainly shows all of them with graphic accurateness in their moral conflicts.

Khaled Hosseini: "Tausend strahlende Sonnen". Übersetzt von Michael Windgassen. Fischer Taschenbuch Verlag. 9,99 Euro

With his first two books, Hosseini already succeeded with something that belongs to the special gifts of literature: he gave Afghanistan a human face when its image was marked by the daily war news. For his readers, the grey figures that the cameras panned after a bombing suddenly were not strangers anymore, but the oppressed, and they at least got an idea of their desperation.

With “And The Mountains Echoed Hosseini transcends even that. He knows how to link the fate of his fellow countrymen – whether they stay in their home country or leave it as refugees – with that of the people in the West. He draws a convincing picture of a connected world, where the affliction of one country doesn’t stop at its borders, but can touch people anytime in continents far away.

The writer Hosseini never lacked success. His very first novel “The Kite Runner, which he wrote as a doctor in the small hours before he left for the hospital to work at his day job, became an international bestseller. But in spite of everything, some critics remained skeptical. In their eyes, Hosseini aimed too much for the emotions of his readers and sometimes took the easy way out by letting his heroes always be heroes and his villains always be villains.

However, such very straight lines between good and bad are not to be found anymore in “And The Mountains Echoed. With this extraordinary novel, Hosseini proves to be a storyteller and expert for the soul of a degree that can compete with colleagues as great as Nadine Gordimer or Gabriel García Márquez.

(Der S.Fischer Verlag hat drei hierzulande erschienene Rezensionen von Hosseinis Traumsammler ins Englische übersetzen lassen, damit sich Hosseini ein Bild von der Resonanz seines Romans in Deutschland machen kann. Darunter war auch meine. Und da der S.Fischer Verlag so freundlich war, mir die Übersetzung zur Verfügung zu stellen, möchte ich sie hier den englischlesenden Büchersäufern nicht vorenthalten.)

Veröffentlicht unter Über Bücher | Verschlagwortet mit , , | Hinterlasse einen Kommentar

Cordula Stratmann hilft. Immer.

Goldene Worte

Vermutlich bin ich derzeit ein wenig dünnhäutig, aber scheinbar wohlmeinende Sätze wie die folgenden gehen mir sagenhaft auf den Wecker: “Endlich sagt es mal jemand: Bücher helfen. Immer.” Cordula Stratmann

Zu finden sind sie auf der Rückseite der frisch aus dem Briefkasten gefischten Frühjahrsvorschau des Insel Verlags.

Goldene Worte selbst noch auf der Rückseite der Programmvorschau des Insel Verlags

Vermutlich sollen derart pauschal daherschwadronierten Weisheiten der literarischen Imagepflege der gewiss freundlich-harmlosen Frau Stratmann und des Insel Verlags dienen. Wer aber den Fehler macht, nur eine Sekunde über sie nachzudenken, wird sofort sonnenklar: Frau Stratmann hat recht. Ein Roman wie Soll und Haben von Gustav Freytag ist eine prima Hilfe für alle Antisemiten, Célines Werke fabelhaft für jeden Rassisten oder Dwingers zartes Prosawerk Panzerführer eine wahre Köstlichkeit für alle Militaristen.

Klar, Frau Stratmann, Bücher helfen. Immer. Stalins Schriften, Maos Bibel oder der Bestseller Mein Kampf des österreichischen Essayisten A. Hitler entstanden aus tiefer Menschenliebe und sind unendlich hilfreich für jeden Massenmörder mit Ambition. Endlich sagt es mal jemand: Stratmanns Goldene Worte helfen. Immer.

Veröffentlicht unter Personen, Über Bücher | Verschlagwortet mit | Hinterlasse einen Kommentar