Mails sonder Zahl

Als der kleine Sonderzahl Verlag mal riesengroß auftrat

Ich verdanke dem Wiener Sonderzahl Verlag einen äußerst unterhaltsamen Samstag. Offenbar hat ein Mitarbeiter des Verlags am Freitagabend per Mail-Verteiler eine Routine-Anfrage an alle bekannten Literaturkritiker verschickt: Ob sie die Programmvorschau künftig digital oder in Papierform erhalten möchten. Der unglückselige Mitarbeiter hat allerdings – vermutlich irrtümlicherweise – dafür gesorgt, dass jede Antwort auf diese Anfrage an sämtliche Adressen des Kritiker-Verteilers weitergeleitet wurde. Und danach offenbar den Arbeitsplatz in Richtung Wochenende verlassen, ohne auf den Rücklauf zu achten.

Mit dem Ergebnis, dass sich in diesem Kritiker-Verteiler in kürzester Zeit eine herrliche Mail-Lawine entwickelte: Es wurde nicht nur jeder Kritiker darüber unterrichtet, wie seine Kollegen die Sonderzahl-Vorschau zu Kenntnis zu nehmen wünschen, ob elektronisch oder analog. Nein, der rasant anschwellende Mail-Gesang informierte auch in Echtzeit über die Nervenstärke der hochverehrten Mit-Kritiker. Freitagabend waren es schon rund 50 Mails in meinem Verzeichnis, Samstagfrüh dann noch einmal 75. Solcher Mitteilungsflut stand mancheiner der sonst so souverän urteilenden Literaturkenner nicht völlig gelassen gegenüber.
Es begann zunächst, wie sich das für Kritiker gehört, fragend und um Aufklärung bemüht:

Aber warum bekomme ich ständig die Antwortmails an diesen Sonderzahl-Verlag geschickt? Scheint irgendetwas falsch verdrahtet zu sein.

Doch bald schon wurde der Ton schärfer:

Erstens brauche ich Ihre Vorschau weder auf Papier noch digital – zweitens brauche ich auf gar keinen Fall alle Meldungen Ihres Verteilers in cc.
Etwas genervt

Dann wurde der scharfe Ton knapper:

Bitte diesen Irrsinn abstellen!

Auch die Zahl der Ausrufezeichen nahm rasant zu:

Es reicht jetzt!!!

Und:

unerhört!!!

Das für Kritiker berufsnotwendige Temperament machte sich in Versalien bemerkbar:

Ich brauche ab sofort NULL Information von Ihnen.

Der Verlag Sonderzahl wird wohl künftig damit rechnen müssen, für einige Literatursachverständige nicht allein seines Programms wegen zu einem festen Begriff geworden zu sein:

diese sonderzahl geht mir irgendwie auf den nerv kann man das abstellen
bitte hören sie alle auf, meinen mailbriefkasten zuzufüllen … zum letzten
mal.
Keine Mails mehr von Sonderzahl! 

Doch nun meldeten sich die Analytiker unter den Lawinenopfern zu Wort:

Ein Wort zur Güte: Begreifen Sie denn nicht, Sonderzahl hat einen dilettantischen IT-Fehler gemacht. Sie können das nicht, die eMail-Massenversände. Anstatt die Adressdatei ins BC  zu setzen, haben die ihre ganze Adressdatei als Empfängerfeld eingesetzt. Jeder der antwortet, antwortet allen, Sie könnes es in der Tat nur stoppen, wenn Sie schweigen. Anders geht es nicht, die Antworten werden automatisch multipliziert und an alle geschickt!

Eine Schweige-Aufforderung an Kritiker zu verschicken, ist freilich eine heikle Sache. Sie erwies sich, selbstverständlich, als nicht erfolgreich. Vielmehr wurden sogar Angebote zur grenzüberschreitenden Entwicklungshilfe wurden gemacht:

Sonderzahl sollte vielleicht endlich mal reagieren vielleicht eine kleinen Nachtschicht einlegen, einen IT-Spezialisten engagieren, etwas unternehmen. Ich kann sonst vielleicht einen IT-Studenten aus der Schweiz schicken :-)  

Naturgemäß fand sich in der Schar der hochtrainierten Rezensenten bald einer, der den kultur-, zivilisations- und zeitkritischen Aspekt der Angelegenheit in angemessen düster-melancholischen Ton herausarbeitete.

Liebe ( und zum Teil sehr aufgebrachte) Kolleginnen und Kollegen,
gerade bin ich nach Hause gekommen und habe nochmals in meine Berufs-Mail geschaut – inzwischen finden sich dort Aberdutzende von Sonderzahl-Antwort-Mails. Ich kann Sie nur bitten, die Sache gelassen hinzunehmen – und vor allem den engagierten kleinen Verlag nicht fortwährend zu beschimpfen und ihm mit Liebesentzug zu drohen.
Was hier abgeht, ist ganz einfach: Es ist der Sieg der alles platt walzenden Eigendynamik von digitaler Kommunikation über jeden/jede von uns – den Verlag selbst eingeschlossen. Irgendetwas – keine Ahnung, was – ist auf dem Sonderzahl-Server oder bei der Programmierung der Mail schiefgelaufen. Der Verlag selbst ist – logischerweise – nicht mehr besetzt, kann also nicht eingreifen. Also rotiert das System selbstherrlich vor sich hin und zeigt uns exemplarisch, was wir als E-Mailer & I-Phoner & Smartphoner wirklich sind: Objekte einer längst sich selbst bestätigenden & eben gelegentlich auch außer Rand & Band geratenden Kommunikation.

Das war in seiner analytischen Brillanz derart adornomäßig unübertrefflich, dass die weiteren Kommentare zwangsläufige einen anderen Aspekt ins Gespräch bringen mussten, um überhaupt noch Punkte machen zu können:

Sehr geehrte Damen und Herren des Sonderzahl-Verlags,
vielleicht ist es Ihrer Aufmerksamkeit entgangen, aber mit einer Rundmail von Freitag, Ihren Vorschauversand betreffend, haben Sie den deutschsprachigen Literaturbetrieb erfolgreich gegen sich und die Produkte Ihres Hauses aufgebracht. Zu diesem speziellen Beitrag zum Wiener Aktionismus kann man nur gratulieren. Man wäre Ihnen für die Beendigung  der Aktion allmählich aber dankbar.

Damit war das Stichwort gefallen, dem einer Kritiker-Versammlung – wie virtuell sich auch immer sein mag – einfach nicht widerstehen kann. Ist es möglich, das kleine Kommunikations-Desaster unter künstlerischer Hinsicht betrachten? Ist es vielleicht sogar möglich, es sich mit salbungsvollen Zitaten (samt Fußnoten) garnieren und menschelnde Lebensweisheiten daraus zu destillieren?

Liebe Leidensgenossinnen und Leidensgenossen ;-)
lassen sie es uns mal als unfreiwilliges Experiment und Kunstaktion betrachten. Hier ein Gedanke zum Thema – von Marina Abramovic:
“Die Geschwindigkeit unseres Lebens beschleunigt sich am Ende dieses Jahrhunderts immer mehr. Unsere Konzentrationsspannen werden immer kürzer. Unsere Kinder Zippen (!) sich durch die Fernsehprogramme (und wir uns analog dazu durch die Apps). Eine Folge davon ist, dass wir immer rastloser und neurotischer werden. Der Mensch sollte wieder ins Nichtstun investieren. Es ist wie bei einer Bank: je mehr man investiert, desto mehr bekommt man zurück. In diesem Fall ist die Zeit das Investment”. (aus Double Edge, Kunstmuseum Kanton Thurgau). 
wenn es also einen Supergau gibt…
nehmen wir es gelassen…
denken darüber nach…
und schmeissen das Handy und/oder den Computer den Berg runter..
vielleicht hilfts ja..

Um ganz offen zu sein: Ich haben leise Zweifel daran, ob die Autorin dieser Anregung der eigenen Aufforderung Taten folgen und ihre IT-Ausrüstung der Schwerkraft überließ. Selbst die Urheber solcher Lebensweisheiten wollen so lebensweise dann doch nicht sein. Aber solchermaßen künstlerisch auf Trapp gebracht, war dann auch die ersten sprachlich rundum gelungene Reaktionen zu bestaunen. Die erste betrachtete den ganzen Vorgang streng unterm Gesichtspunkt moderner Kunst, die bekanntlich ja immer streng im Gegensatz zu dem schlechten Zustand der Realität stehen und eine Gegenwelt errichten soll:

…wenn es Kunst ist, ist es okay, wenn es okay ist, kann es keine Kunst sein und wenn es nicht okay ist, ist es eben doch Kunst – man kommt da gar nicht raus…

Die zweite bemerkenswerte Reaktion beschränkte sich aufs lakonische Sprachspiel:

Mails sonder Zahl

Eine Reaktion, die unmittelbar die adäquate literaturkritische Anerkennung nach sich zog:

Genau: vergesst die Lyrik nicht

Einmal in der Welt der Literatur angekommen, ließ auch eine Talentprobe von Thomas Bernhardschen Furor nicht mehr lange auf sich warten. Sie richtete sich allerdings überraschenderweise (aber Überraschung, Irritation, Brüskierung sind ja vielfach erprobte Mittel der literarischen Moderne) nicht gegen Sonderzahl, sondern gegen die Kollegenschaft:

namentlich an alle schlaumaier, die gestern und heute mit teils dummdreisten
mails diese kiste hier weiter sponnen: ist es wirklich sooo schwer zu
checken?!? es gibt hier a) eine mailingliste sonderzahl2@mail.aufdraht.at
die offenkundig von außen bedient werrden kann und dann das tut was
mailinglisten tun sollen – an alle die auf ihr eingetragen sind weiterleiten
und b) die eigentliche absenderadresse verlag@…
hätte gestern insb. jeder von denen, die hier seither dummdreist spammen und
dummdreist das maul aufreissen, selber auch nur für einen cent
technikverständnis wäre NIE etwas passiert! denn: wer bat denn irgendwen an
die gesamte liste zu schreiben via mutmasslich “antworten an alle”?!? hätte
keiner von jenen die hier herumpoltern und weiteren traffic verursachen
etwas anderes getan als was man tun will wenn man einen einzelnen account
erreichen will, nämlich NUR an verlag@sonderzahl.at  gemailt, aka antwort
einzig und allein an den absender der original-pressestellenafrage, wäre
niemand über deren bisher einmalige bitte mitzuteilen, ob man e-mails oder
gedruckte vorschauen will, hinaus belästigt worden.
und dann noch diese 24/7-anspruchsmentalität – zum kotzen solche sog.
kollegen!

Bemerkenswert, wie hier – als Beispiel experimenteller Schreibweisen – die orthographischen und grammatikalischen Strukturen der Sprache aufgesprengt werden und so die Ordnungslosigkeit des erlebten Kommunikationskataströphchens auch formal in den Text eingeschrieben sind. Von der Zeichensetzung mal ganz zu schweigen. Großer Sport! Ganz großes Kino! Hier zeigt sich, wie Kritik selbst zur Kunst wird – so wie Alfred Kerr es forderte. Hier, in dieser Kritiker-Beschimpfung, spricht der wahre Kritiker-Meister und ihm wird zu huldigen sein, sobald der Sonderzahl-Unfall für die Gründung der ersten Sonderzahl-Selbsthilfe-Gruppe gesorgt hat. Denn auch die wie gefordert:

Ich bin für ein Treffen der Sonderzahl-Opfer auf der nächsten Frankfurter Buchmesse.

Sehr gut! Als Treffpunkt schlage ich vor: den Sonderzahl-Stand. Und bitte, bitte ladet mich dazu ein. Das möchte ich auf keinen Fall versäumen. Selten habe ich über die Literaturkritik hierzuland so Vieles und Vielfarbiges gelernt wie heute bei der gekürte meiner Mails.

PS: Inzwischen gib es eine objektivere und nicht so vergnügungssüchtige Darstellung des Sonderzahl-Spaßes. Hier der Link, für alle, die noch mehr wissen wollen:

http://www.lesenmitlinks.de/meta-spam-2-0/

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