“Liebe ist eine zwiespältige Empfindung“
Ein Gespräch mit Judith Hermann über ihren Roman Aller Liebe Anfang, über die Bereitschaft, in anderen Menschen das Ziel der eigenen Wünsche und Hoffnungen zu sehen und über das Unglück, dass die Liebe mit sich bringen kann, sowie die große Sehnsucht vieler Leser nach Romanen und nach Antworten
Uwe Wittstock: Mit Ihren Kurzgeschichten zählen Sie seit 15 Jahren zu den wichtigsten Erzählerinnen Deutschlands. jetzt legen Sie Ihren ersten Roman Aller Liebe Anfang vor. Ist Ihre Erleichterung groß?
Judith Hermann: Wenn Sie mit Erleichterung meinen, nicht mehr die Frage nach dem Roman hören zu müssen – ja, ich bin erleichtert. Und darüberhinaus alles in allem wohl so erleichtert, wie man es nach der abgeschlossenen Arbeit an einem Buch sein kann, egal ob es ein Roman ist oder ein Erzählungsband. Der Romanautor wird nie gefragt, wann er endlich seine allererste Erzählung schreiben würde, oder? Als Short-Strory-Autor muss man sich bedauerlicherweise rechtfertigen, wenn man keinen Roman schreibt.
Wittstock: Gut, drehen wir die Frage herum: Warum plötzlich ein Roman?
Judith Hermann: Die Schriftstellerin Katja Lange-Müller hat den schönen Satz gesagt: Nicht der Autor entscheidet über die Länge einer Geschichte, sondern die Geschichte entscheidet das selbst. Und genau so ist es. Es gibt im Schreiben den Moment, in dem sich die Geschichte verselbstständigt – es gibt ihn, wenn das Schreiben gelingt. Die Figuren verselbstständigen sich, sie nehmen den Autor, eine Weile lang, sprichwörtlich an die Hand. Sie entwickeln ihr eigenes Leben, ihren eigenen Willen, und sie führen die Geschichte dann eben nach dem eigenen Maß zu einem kurzen oder langen Schluss.
Wittstock: Der Stoff Ihres neuen Buches ließ sich nur als Roman, nicht als Kurzgeschichte erzählen?
Judith Hermann: Ich habe es mehrfach versucht, Stellas Geschichte in einer Erzählung aufzuschreiben, und es ist mir nicht gelungen. Ich hatte deutlich zuwenig Raum, Stella hatte zu wenig Raum. Es ging nur so, wie es jetzt geworden ist.
Wittstock: Sie erzählen von einer Frau, Stella, die begreifen muss, dass ihr Nachbar ein Stalker ist, der sie nie in Ruhe lassen wird. Wie sind Sie zu diesem Stoff gekommen?
Judith Hermann: Für mich ist es gar nicht so deutlich ein Buch über Stalking. Eher eine Geschichte über die Bereitschaft, in einem anderen Menschen das Ziel der eigenen Wünsche und Hoffnungen zu sehen – also über die Bereitschaft, mit der die Liebe beginnt. Eine Geschichte über die verschiedenen Formen der Liebe: zu einem Mann, der oft weg ist, zu einer kleinen Tochter, zu einer engen Freundin, die an einem fernen Ort lebt, mit der Stella aber dennoch alles Wichtige teilt. Stalking ist im Rahmen dieser Geschichte nur das Beispiel für eine Extremform der Liebe, die zur Obsession wird.
Wittstock: Das klingt, als wäre die Liebe in Ihrem Roman ein mitunter bedrohliches Gefühl.
Judith Hermann: Liebe ist doch zumindest eine zwiespältige Empfindung. Liebe hat viel mit Abhängigkeit zu tun, mit der Frage, ob man zu viel oder auch zu wenig vom anderen erwartet, ob man von ihm zu viel oder zu wenig bekommt? Liebe ist in der Idealvorstellung stärkend und beglückend. Aber das Unglück, das sie mit sich bringen kann, ist unvergleichlich, oder? Unvergesslich. Das kann bedrohlich sein, und das wissen wir, wenn wir uns auf die Liebe einlassen.
Wittstock: Woher kommt die Sehnsucht der Leser nach Romanen?
Judith Hermann: Ich glaube, das Verhältnis zur Kurzgeschichte ist ein wenig schwierig, weil sie offen bleibt, weil sie auch keine Lösung weiß. Sie stellt Fragen, aber sie gibt keine Antworten und manchmal scheint die eigentliche Geschichte erst nach dem Ende der Geschichte anzufangen. Der Roman zeigt mehr als eine Situation, er verfolgt mindestens einen Handlungsfaden über eine längere Strecke und er führt am Schluss zu einer Art Fazit. Sicher, auch dieses Fazit will keine gültige Antwort auf die Fragen sein, die der Roman aufwirft, aber es wirkt letztlich doch ein wenig so wie eine Entscheidung? Wie eine Botschaft. Und nach solchen Botschaften sehnt man sich, man möchte die Welt gern erklärt bekommen von jemandem, der es vielleicht besser weiß als man selbst – selbst wenn uns im Grunde klar ist, dass der Schriftsteller es auch nicht besser wissen kann.
Wittstock: Welche Botschaft hat Ihr Roman Aller Liebe Anfang?
Judith Hermann: Ich glaube, ich bin in diesem Roman am Schluss doch meiner Neigung zur Kurzgeschichte gefolgt – ich habe ihn so offen wie möglich zu Ende gehen lassen. Ich hoffe, dass sich der Leser schließlich dieses Endes annimmt und selbst entscheidet, was es zu bedeuten hat – und ob es für ihn etwas zu bedeuten hat. Das würde mich freuen.