So sterben? Nur über meine Leiche!
Seine Romane Tschick und Sand waren Sensationserfolge der an Sensationen armen deutschen Literatur. Am 26. August erschoss sich Wolfgang Herrndorf in Berlin. Jetzt erscheint sein Tagebuch Arbeit und Struktur: klug, brillant geschrieben, verzweifelt und gnadenlos komisch
“Ich brauche eine Waffe.“ Gemeint ist: einen Revolver. Vier Wochen bevor der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf diesen Satz notiert, haben die Ärzte bei ihm ein Glioblastom entdeckt, einen nicht heilbaren, ausweglos tödlichen Hirntumor. Seine Lebenserwartung wird nur noch nach Monaten beziffert. Den Revolver brauche er, schreibt Herrndorf, als „Exitstrategie“.
Schon bald hat er sich eine „.357er Smith & Wesson, unregistriert“ beschafft. Über ihre Herkunft verrät er nichts. Aber sie entwickelt, schreibt er, „eine so durchschlagend beruhigende Wirkung auf mich, dass unklar ist, warum das nicht die Krankenkasse zahlt“. Denn: „Ich könnte mich nicht damit abfinden, vom Tumor zerlegt zu werden. Aber ich kann mich damit abfinden, mich zu erschießen.“ Er will kein Opfer sein, er will um jeden Preis einen letzten Rest Souveränität für sich retten.
Herrndorfs zweite Strategie, Herr seines Unglücks zu werden, entpuppt sich als Glück für die deutsche Literatur: Er arbeitet wie ein Besessener. Bereits vor der Diagnose im Februar 2010 hatte er zwei Bücher veröffentlicht, allerdings mit großen zeitlichen Abständen und geringem Erfolg. Nun holt er zwei halb fertige Manuskripte aus der Schublade und sitzt täglich bis zu
16 Stunden am Schreibtisch, um sie abzuschließen: „Ich schreibe auch schnell, ungefähr dreimal so schnell wie sonst, und zehnmal so viel.“ Und: „Am besten geht’s mir, wenn ich arbeite.“
Schon im Spätsommer 2010 erscheint Tschick, ein gutes Jahr darauf Sand: zwei der aufregendsten und stilsichersten deutschen Romane der jüngsten Zeit. Sie beherrschen wochenlang die Bestsellerlisten, tragen ihm gleich fünf Literaturpreise ein und machen ihn schlagartig zur internationalen Berühmtheit: Tschick wird in 27 Ländern veröffentlicht. Die Auflage der deutschen Ausgabe überspringt mühelos die Millionengrenze.
Neben all dem schreibt Herrndorf noch das Blog Arbeit und Struktur. Ein Internet-Journal, in dem er zunächst nur für Vertraute, dann für jedermann Auskunft gibt: über den Verlauf der Krankheit (Chemo, Bestrahlung, drei Hirn-OPs), den völlig überraschenden Erfolg seiner Bücher, den täglichen Kampf gegen brutale Verzweiflungsschübe und den oft lebensrettenden Beistand seiner Freunde. Am kommenden Freitag erscheint Arbeit und Struktur nun in Buchform (Rowohlt Verlag, 19,95 Euro).
Es ist ein Tagebuch, wie es nur wenige gibt: von erschütternder Intensität, klug, illusionslos, brillant geschrieben und dazu voll gnadenlosem Witz. Es ist nicht nur das letzte Bekenntnis eines Sterbenden, sondern auch eine nachtschwarz grundierte Skizze unserer Jahre, verfasst von einem Spötter, der (von Familie und Freunden abgesehen) auf nichts und niemanden mehr Rücksicht nimmt.
Wenn der Umgang mit dem Tod etwas über den Geisteszustand einer Gesellschaft verrät, stimmen Herrndorfs Erfahrungen wenig hoffnungsfroh: Nachdem seine Romane und damit sein Schicksal bekannter werden, decken ihn nicht nur Laien, sondern auch Ärzte unaufgefordert mit absurden Therapievorschlägen ein: Rettung wird ihm versprochen, wahlweise durch Darmreinigung, grünen Tee, Omega-3-Fettsäuren, getrocknete Apfelsinenkerne oder Gemüsesaft. Vor Energiesparlampen in Kopfhöhe dagegen wird er dringend gewarnt.
Mit Grimm konstatiert Herrndorf zudem eine weit verbreitete, durch keinerlei Rationalität gebremste Neigung zu esoterischen Heilslehren. Immer wieder wird er, der Todgeweihte, zum Ziel enthemmter Bekehrungsversuche: „Wenn mich irgendwas im Leben wirklich aufgebracht hat, dann das gegen jedes Denken, jeden Gedanken und jede Aufklärung immune Gefasel von Sternzeichen, Rudolf Steiner und extravaganten Ahnungen fremder, unbegreiflich tröstlicher Welten.“
Für religiöse Empfindungen bleibt Herrndorf, um das Mindeste zu sagen, unempfänglich: „Priester sind mit Waffengewalt von mir fernzuhalten.“ Jeglicher Glaube an Jenseitiges entlockt ihm nur Kopfschütteln. Der Tod ist für ihn der Endpunkt, er macht unübersehbar, was eigentlich immer offenkundig ist: Nämlich die „unbegreifliche Nichtigkeit menschlicher Existenz. Im einen Moment belebte Materie, im nächsten dasselbe, nur ohne Adjektiv.“
Obwohl Herrndorf gelegentlich betont kaltschnäuzig oder machohaft zu klingen versucht, verschweigt er seine Zusammenbrüche nicht. Epileptische Anfälle setzen ihm zu, das Sichtfeld bekommt Lücken, die Orientierung lässt nach. Er irrt durch Berlin, selbst in vertrauten Straßen findet er sich nicht mehr zurecht, schreit, tobt, schlägt gegen Wände. („Vorteil Berlin: Auf der Torstraße bin ich unter den Gestörten nur Mittelfeld.“) Manchmal sehnt er eine radikale Verschlechterung seines Zustands geradezu herbei, damit er endlich Schluss machen kann: „Ein großer Spaß, dieses Sterben. Nur das Warten nervt.“
Körperlich spürt er zunächst wenig Einschränkungen. Da Sport zeitlebens zu seinen großen Leidenschaften zählte, ist er auch mit Mitte vierzig noch fit und fühlt sich „wie mit zwanzig“. Er spielt in der Nationalmannschaft der Schriftsteller und in einem Berliner Amateurteam und will sich auch von seiner Krankheit nicht davon abbringen lassen.
Doch schließlich raubt ihm der Tumor zunehmend die Kontrolle über seine Bewegungen. So nüchtern wie möglich registriert er den eigenen Verfall: „Fußball gespielt. Ball ins Gesicht bekommen, umgefallen. Hingesetzt, gewartet. Weitergespielt, wieder umgefallen. Aufgehört. Mit dem Fahrrad nach Hause, nicht umgefallen.“ Aber als sein Berliner Team dann bei einem größeren Turnier antritt und schließlich gewinnt, kann er nur noch als Zuschauer am Zaun stehen und muss auch mit diesem Kapitel seines Lebens abschließen.
Noch einmal versucht es Herrndorf mit seiner persönlichen Therapie: mit Arbeit. Bald nach Abschluss seines letzten Romans, Sand, hat er ein neues Manuskript begonnen. Er will die Geschichte des Mädchens Isa erzählen, einer Nebenfigur aus seinem Roman Tschick. Doch er kommt zu langsam voran, er hat immer häufiger anfallsweise Artikulationsprobleme, der Tumor beginnt, das Sprachzentrum zu zerfressen.
Die Frage nach der „Exitstrategie“, nach einem selbst gewählten Schlusspunkt wird immer dring-licher. Er schaut sich auf YouTube eine ausführliche Dokumentation über die Schweizer Organisation Dignitas an, die schmerzloses Sterben durch Medikamente ermöglicht.
Herrndorf reagiert mit Entsetzen und – Witz: „So will ich nicht sterben, so kann ich nicht sterben, so werde ich nicht sterben. Nur über meine Leiche.“
Stattdessen konzentriert sich Herrndorf auf die beruhigende Wirkung seines Revolvers und macht lange Spaziergänge am Hohenzollernkanal, nördlich vom Berliner Hauptbahnhof. Er ist „auf der Suche nach einem guten Ort“. Und er informiert sich genau, wie er die Waffe einsetzen muss, um mit Sicherheit das gewünschte Ergebnis zu erzielen.
Am 26. August 2013 verlässt er nachts seine Wohnung, heißt es im Nachwort des Buches, und schießt sich am Ufer des Hohenzollernkanals in den Kopf: „Er zielte durch den Mund ins Stammhirn. Es dürfte einer der letzten Tage gewesen sein, an denen er noch zu der Tat im Stande war.“
Die Rezension erschien im FOCUS Heft 49/13 vom 2. Dezember 2013
Nein, diese Anekdote kannte ich nicht. Sie hat Witz!
Do not go gentle into that good night.
Rage, rage against the dying of the light.
Dylan Thomas
Interessant und leidenschaftlich geschrieben. Danke.
Freut mich, wenn Sie den Artikel mochten. Dank auch für das schöne, ernste Dylan-Zitat. Kennen Sie die wunderbare Dylan-Anekdote von seinem Sterbebett? Als ihm im Krankenhaus eine blutjunge Nonne die Stirn abtupfte, sagte er: “Danke, ehrwürdige Schwester. Mögen alle Ihre Söhne Bischöfe werden!”