Die “Kanalratten” des Maxim Biller

Szenen einer ungespielten Ratten-Party

Maxim Biller hat ein Theaterstück geschrieben, das seit fünf Jahren niemand aufführen will. Es hört auf den aparten Titel Kanalratten, wurde jetzt als Buch gedruckt und kann also immerhin gelesen werde. Damit geht es ihm besser als Billers Roman Esra, der 2003 herauskam, aber umgehend verboten wurde. Offenbar hat Biller ein bemerkenswertes Talent für eine Literatur, die nicht mit offenen Armen empfangen wird.

Ich lese ganz gern Theaterstücke. Bedauerlicherweise kommen sie in der Literaturkritik heute so gut wie gar nicht vor. Das liegt auch an der Arbeitsteilung innerhalb des Feuilletons: Die Literaturkritiker kümmern sich um Romane, Erzählungen und, selten genug, um Essay- oder Lyrikbände. Neue Theatertexte dagegen fallen ins Ressort der Theaterkritiker, die ihnen ein paar rezensierende Sätze widmen, sobald sie aufgeführt werden.

Das finde ich zwar schade, denn ich halte das Drama für einen wesentlichen Teil der Literatur, und sehe nicht ein, weshalb der in der Literaturkritik nicht vorkommen sollte. Aber wie alle nicht mehr taufrischen Institutionen kennt auch das Feuilleton ungeschriebene Regeln und es ist bequemer, sich an sie zu halten als gegen sie zu verstoßen – denn der Kollege Theaterkritiker vom Nachbarschreibtisch reagiert nun mal pampig, sobald der Literaturkritiker einen großen Aufsatz über, sagen wir, Heiner Müllers oder Dea Lohers Stücke auf der Seite für die Buchbesprechungen druckt.

Maxim Biller: "Kanalratten". Zwei Stücke. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2013. 192 Seiten, 9,99 Euro

So weit, so kleinkariert – aber im Prinzip funktioniert das System. Es sei denn, ein Stück wird zwar geschrieben, aber nicht gespielt. Dann fühlt sich keiner der beiden Kritiker so recht zuständig und es fällt durch den Rost.

Aber, so dürfen wir uns trösten, oft kommt das nicht vor. Üblicherweise gieren Regisseure danach, jeden neuen Bühnentext eines einigermaßen bekannten Autors uraufzuführen. Denn selbst wenn das Stück hundsmiserabel ist, garantiert ihnen schon der Name des Autors in Verbindung mit dem fanfarenhaften Wort „Uraufführung“ eine spürbar erhöhte Aufmerksamkeit der Theaterkritiker. Und warum sollte ein Regisseur auf die verzichten? Schließlich bemisst sich ein Gutteil seines Marktwerts in unserem durchsubventionierten Theaterbetrieb exakt nach ebendieser publizistischen Aufmerksamkeit. Sogar Romane oder Filmdrehbücher werden mittlerweile eher schlecht als recht auf die Bühnen gewuchtet, solange sie von Schriftstellern stammen, mit deren Prominenz sich die Theater schmücken können.

Dennoch hat es Biller, der nicht zu den vollständig unbekannten Schriftstellern gehört, das Kunststück fertiggebracht, dass seine Kanalratten bis heute ungespielt blieben. Nüchtern betrachtet ist das zumindest in einer Hinsicht verständlich. Biller hat zuvor schon zwei andere Bühnentexte geschrieben: Kühltransport (2002 in Mainz am Staatstheater uraufgeführt) und Menschen in falschen Zusammenhängen (uraufgeführt 2006 am Berliner Maxim-Gorki-Theater). Beide waren keine Erfolge, oder um es mit einem schönen alten Theaterbegriff zu sagen: Sie sind durchgefallen.

Ansichten aus dem Berliner Journalisten-Milieu

Doch Kanalratten ist von anderer Qualität als diese Fingerübungen. Das Stück erzählt vom Berliner Journalisten-Milieu: Der jüdisch-deutsche Autor Josef hat lange in Israel gelebt und kehrt nach Deutschland zurück. Henning, der Chefredakteur einen großen Zeitung, gibt eine kleine Party, um ihn Willkommen zu heißen – und um gleich im Anschluss ein Interview mit ihm über die Gründe zu machen, die ihn wieder in das vor Jahren mit beträchtlichem publizistischen Getöse verlassene Deutschland zurückführen. Beide Männer sind sich zugleich durch Liebesrivalitäten verbunden: Josef war vor seiner Übersiedlung nach Israel mit Anna, der Redakteurin einer großen Wochenzeitung, liiert. Jetzt ist sie mit Henning verheiratet.

Biller liebt solche Konstellationen, sonderlich originell sind sie nicht, aber immer ein zuverlässiges Mittel, die Spannungen zwischen literarischen Figuren wirkungsvoll anzuheizen. Es gibt noch vier weitere Personen in dem Stück: drei davon sind – wie Anna und Josef – Juden. Die vierte ist ein Assistent Hennings, der seinem ebenso sadistisch wie kindisch veranlagten Chef mit verängstigter Unterwürfigkeit jedes niederste journalistische Gelüste bereitwillig von den Augen abliest und erfüllt.

Vielleicht ist das ein Problem des Stückes: Zuschauer oder Leser, die von Zeitungsmachern nicht viel mehr wissen können als das, was in den Zeitungen steht, könnten den infantilen Medien-Stalinisten Henning und seinen völlig haltlos daherargumentierenden Knecht für unglaubwürdige Erfindungen halten. Doch gerade diese Figurenkonstellation hat mich beim Lesen besonders amüsiert, weil ich in meiner Berufslaufbahn mehr als einmal Gelegenheit hatte, sie in ihrer ganzen Schauerlichkeit in der Realität bewundern dürfen.

Debatten als Gesellschaftsspiel

Natürlich geht es in Billers Stück, wie nicht selten in Billers Büchern, auch um die Frage, wie ein Jude heute im Land des Holocaust leben kann und mit welchen Befangenheiten, bewussten oder unbewussten Aggressionen, ahnungslosen Ranschmeißereien oder offenem Misstrauen ihm die nichtjüdischen Deutschen begegnen. Chefredakteur Henning bewirtschaftet die bundesdeutsche Vergangenheitspolitik in seiner Zeitung als reich sprießendes Debattenfeld – was an den realen Konflikten wenig ändert, aber seiner publizistischen Macht sehr zugutekommt. Er organisiert, inszeniert, forciert die vielgefeierten deutschen Debatten als ein Gesellschaftsspiel, in dem letztlich er selbst immer Sieger ist und die anderen mehr oder minder naiv ihre vorgegebenen Rollen ausfüllen dürfen.

Kurz: Das Stück ist durchaus einen Theaterabend wert. Zumal im Vergleich mit den postdramatischen Harmlosigkeiten, die oft genug auf den Bühnen hierzulande zu sehen sind. Woran liegt es, wenn es dennoch nicht gespielt wird?

Offen gestanden, ich habe keine Ahnung. Und statt mich in Spekulationen zu stürzen, berichte ich lieber von zwei kurzen Gesprächen zu Kanalratten. In Berlin traf ich Maxim Biller, brachte das Gespräch auf das Stück und fragte ihn. Verschiedene Regisseure hätten es gelesen, erzählte er, aber keiner hätte es machen wollen. Einer von ihnen habe zu ihm gesagt, er habe keine Lust wegen der Inszenierung dieses Stückes im ganzen Land als Antisemit an den Pranger gestellt zu werden.

Okay, wer will das schon? Aber das Stück gibt, so weit ich sehen kann, wenig Anlass für antisemitische Ressentiments. Eher für Ressentiments gegen Chefredakteure. Henning ist unter Billers Kanalratten zweifellos die Oberratte.

Ein paar Tage später besuchte ich Marcel Reich-Ranicki, der nächsten Monat seinen 93. Geburtstag feiert und allmählich immer schweigsamer wird. Aber literarische Fragen interessieren ihn nach wie vor, und also erzählte ich ihm von Billers Stück, davon, dass die Theater sich nicht recht rantrauen, und von diesem Regisseur, der fürchtet, eine Inszenierung könnte zum Skandal und er als Antisemit abgestempelt werden.  „Ach Gottchen“, antwortete Reich-Ranicki lächelnd, „hat er Angst, der Ärmste.“ Dann schwieg er wieder.

Ich kann mir nicht helfen, ich fand das sehr witzig. Und sollten die Theater tatsächlich Angst haben, das Stück aufzuführen, dann wäre das wohl der rundum angemessene Kommentar zu dieser Kanalratten-Affäre.

 

 

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Nora Bossongs Gedicht “Leichtes Gefieder”

Antike Eifersucht und das Zeitalter des Smartphones

Okay, ich gebe zu, ich lese nicht jeden Tag einen Lyrikband. Aber doch ab und zu gern ein Gedicht. In der schönen Anthologie Ein Gedicht von mir zum Beispiel fiel mir Nora Bossongs “Leichtes Gefieder” auf. Im ersten Moment verstand ich das Gedicht nicht und ärgerte mich. Dann ließ ich mir von Google weiterhelfen und nahm von einem lieben, aber altersschwach gewordenen literarischen Vorbehalt Abschied. Doch der Reihe nach: Erst einmal bat ich die Autorin um die Erlaubnis, ihr Gedicht aus dem Band Sommer vor den Mauern hier – ja, was? abzudrucken, ist in Netz wohl das falsche Wort – es hier vorzustellen. Sie gab sie mir. Vielen Dank Nora Bossong! Zunächst also die 17 Zeilen ihres Gedichts:

Nora Bossong: Leichtes Gefieder

Vielleicht zu spät, als eine Krähe
unseren Morgen kappt. Ein Schlag.
Und ob sie fällt und ob sie weiterfliegt -
Ich frag zu laut, ob du noch Kaffee magst.
Dein Blick ist schroff, wie aus dem Tag gebrochen.
Es riecht nach Sand. Du fragst mich, ob ich wisse,
dass Krähen einmal weiß gefiedert waren.
Ich lösch die Zigarette aus, ich wünsch mich
weg von hier, ich möchte niemanden,
ich möchte höchstens einen andern sehen.
Du nennst mich: Koronis. Ich zeig zum Fenster:
Sieh doch, die Aussicht hat sich nicht verändert!
Was gehen dich die Stunden an, die du nicht kennst?
Ich will nur Mädchen sein, nicht in Arkadien leben.
Dein Nagel scharrt noch in der Asche,
doch du bist still, als wärst du fort.
Ich bin zu leicht für deine Mythen

Das ist ein verdammt ungemütliches Frühstück, von dem Nora Bossong hier berichtet. Es gibt sogar – wie in der Literatur so oft und so selten im Leben – ein finsteres Vorzeichen, bevor der Streit beginnt. Mit einem „Schlag“ platzt eine Krähe in den Morgen, und Krähen galten schon den Auguren Roms, die aus dem Vogelflug und -geschrei die Zukunft zu prophezeien hatten, als mögliche Unglücksboten.

Nora Bossong: „Sommer vor den Mauern“. Gedichte. Edition Lyrik Kabinett bei Carl Hanser Verlag, München 2011, 96 S., geb., 14,90 Euro

Doch die Krähe flattert nicht allein wegen ihrer Symbolkraft in diesem Gedichtanfang herum, sondern auch als ganz reales Unfallopfer. Wer je an einem Fenster saß, gegen das plötzlich ein Vogel prallte, weiß, wie schockierend so ein vergleichsweise kleines Alltagsunglück wirken kann, nicht zuletzt weil sich aus heiterem Himmel mit aller Brutalität die Frage nach Leben und Tod stellt, wenn man schaut, ob das Tier „fällt“ oder „weiterfliegt“.

Aus zuvor scheinbar heiterem Himmel entgleist in dem Gedicht auch das Gespräch des Paares: Sie fragt „zu laut“, ob er noch Kaffee mag, sein Blick wird „schroff“, sie wünscht sich „weg von hier“. Doch was zwischen den beiden vorgefallen ist, bleibt unausgesprochen. Verschlüsselte Hinweise geben nur seine Bemerkung, „dass Krähen einmal weiß gefiedert waren“, und der neue Beiname, den er ihr gibt: „Koronis“.

Koronis gehört nicht zu den weithin bekannten Gestalten der griechischen Mythologie. Und das war der Punkt, an dem ich mich anfänglich ärgerte. Denn offen gestanden kamen mir solche exklusiven literarischen Anspielungen lange Zeit allzu bildungsfroh vor, so als würden Autoren bewusst die Augen vor der Einsicht zukneifen, wie wenige Leser sie tatsächlich entschlüsseln können. Sollten Gedichte, sollte Literatur nicht ohne kommentierende Anhänge oder Fußnoten verständlich sein? Ist die Gelehrsamkeit, die ein Autor mit derlei Belesenheitssignalen demonstriert, nicht zugleich ein Versuch, das Publikum unstatthaft einzuschüchtern?

Doch, wie gesagt, dann erinnerte ich mich, dass diese Bedenken sich im Zeitalter des Smartphones weitgehend erledigt haben. Solange wir uns innerhalb der Reichweite elektronischer Netze bewegen, gibt es heute kein Bildungszitat mehr, das einen Leser noch lange rätseln lassen muss. Nur Sekunden, und ich hatte alles über Koronis erfahren: Dass Apoll es war, der sie liebte, sie schwängerte und durch eine weißen Krähe bewachen ließ. Dass Koronis sich davon aber nicht abhalten ließ, mit einem anderen Mann zu schlafen, weshalb Artemis sie tötete und Apoll die Krähe dazu verdammte, schwarz zu sein, da sie versäumt habe, der untreuen Geliebten rechtzeitig die Augen auszuhacken.

"Ein Gedicht von mir". Lyrikerinnen und Lyriker stellen sich vor. Herausgegeben von Dirk von Petersdorff. Reclam Verlag, Stuttgart 2012. 160 Seiten, 10 Euro

Damit liegt auf der Hand, was dem Paar in diesem Gedicht den Morgen und vielleicht nicht nur den Morgen verdirbt. Ein Abstecher des Mädchens in das Bett eines anderen Mannes. Sie versucht ihren Freund zu beruhigen, zwischen ihnen könne alles beim Alten bleiben: „Sieh doch, die Aussicht hat sich nicht verändert! / Was gehen dich die Stunden an, die du nicht kennst?“ Aber vermutlich glaubt sie selbst nicht ganz  an das, was sie da sagt. Denn schon in den Zeilen zuvor ist wohl nicht zufällig davon die Rede, dass sie eine Glut erstickt („Ich lösch die Zigarette aus“) und sich längst fehl am Platze fühlt: „Ich wünsch mich / weg von hier, ich möchte niemanden, / ich möchte höchstens einen andern sehen.“

Ihre Begründung für die Freiheit, die sie sich nimmt, klingt im ersten Moment ein wenig nach kindlich naivem Trotz: „Ich will nur Mädchen sein, nicht in Arkadien leben.“ Aber genauer betrachtet steckt hinter der Entschlossenheit, mit der sie hier die in antike Gewänder gehüllte Eifersucht ihres Freundes zurückweist, mehr als eine backfischhafte Laune. Denn wer seine treulose Geliebte Koronis nennt, sieht sich selbst offenbar in der Rolle Apolls, also eines Gottes. Eine Haltung, die manches über ihn und seinen Blick auf die Freundin verrät.

Nicht zuletzt dieser überraschende kleine Perspektivwechsel, der einen als Leser erkennen lässt, wie sich hier jemand selbst entlarvt, hat mir dann besonders gefallen an Nora Bossongs Gedicht. Demonstriert er doch genau das, was mir so lange an allzu erlesenen literarischen Bildungszitaten auf die Nerven ging: nämlich welcher Autoritätsanspruch sich gelegentlich hinter derlei Anspielungen auf umfassende Gelehrsamkeit verbirgt.

Kein Wunder also, wenn sich die letzten drei Zeilen wie eine gründliche Abrechnung mit dem betrogenen Freund lesen lassen: Ihm bleibt nur noch, „in der Asche“ jener Glut zu scharren, die seine Geliebte sieben Zeilen zuvor gelöscht hat, und „still“ auf die Kraft seiner Worte verzichten, mit der er die Machtverhältnisse zwischen ihnen zu klären versuchte. Und wenn sie zum Abschluss feststellt: „Ich bin zu leicht für deine Mythen“, dann lässt sie darin geradezu triumphal ihre Selbstcharakterisierung als „leichtes Mädchen“ anklingen, mit der sie ihre Unabhängigkeit vom Gewicht seiner Gelehrtheit erklärt.

"Frankfurter Anthologie 36". Herausgegeben von Marcel Reich-Ranicki. S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013. 318 Seiten, gebunden. 24,99 Euro

Der Germanist Wulf Segebrecht hat sich ebenfalls mit Nora Bossongs “Leichtem Gefieder” beschäftigt. Er schrieb für den gerade erschienenen Band Frankfurter Anthologie 36 (Seite 232-234) eine kleine Interpretation dazu. Auch wenn ich Segebrecht als Lyrikfachmann sehr respektiere, muss ich doch eingestehen, dass ich in diesem Fall nicht mit ihm einverstanden bin. In seinem Kommentar klingt es so, als würde sich das Paar in dem Gedicht grundlos in die Haare geraten und der Mann seine Freundin mehr oder wenige ohne Anlass als Koronis titulieren: “Emport weist die junge Frau die unverschämte Identifikation mit der untreuen Koronis zurück. Mit Blick auf den erlebten Vorfall am Fenster behauptet sie, es habe sich dadurch doch gar nichts so verändert, dass ihr Partner daraus das Recht ableiten könne, auf ihre früheren, ihm gar nicht bekannten Verhältnisse und Beziehungen und vielleicht sogar auf eine bestehende Schwangerschaft anzuspielen. Sie will als eine eigene Person, als gegenwärtiges Mädchen, nicht als vergangene mythologische Figur aus dem antiken Sehnsuchtsland Arkadien wahrgenommen werden.”

Segebrecht nimmt hier, finde ich, den eigentlichen Zündstoff aus dem mythologischen Vorwurf heraus, den der Mann da am Frühstückstisch macht. Denn Koronis hat ja mit einem anderen Mann geschlafen, während Apoll sich als ihr Geliebter betrachtete und daraus gewisse Ausschließlichkeitsansprüche glaubte ableiten zu dürfen. Wenn Segebrecht schreibt, die junge Frau wolle nicht “auf ihre früheren, ihm gar nicht bekannten Verhältnisse und Beziehungen” angesprochen werden, macht er die Sache, die hier verhandelt wird, harmloser als sie ist. Nein, hier geht es meines Erachtens eindeutig um Untreue, um eine Entdeckungsreise zu einem anderen Liebhaber und darum, dass der Mann in den Augen des Mädchens eben kein Gott ist, sich also gefälligst mit ihrem Freiheitsbedürfnis abfinden soll: “Was gehen dich die Stunden an, die du nicht kennst?”

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“Was Liebe ist” von Ulrich Woelk

Wie rezensiert man den Roman eines Freundes?

Der Roman Was Liebe ist von Ulrich Woelk habe ich mit großem Vergnügen gelesen. MDR Figaro bat mich, das Buch in einem kurzen Gespräch mit dem Moderator vorzustellen. Was ich gern getan habe. Allerdings wurde das Gespräch vom Sender als “Buch der Woche” am 5. März bereits gegen 7:40 Uhr ausgestrahlt. Es war also nur etwas für wirklich aufgeweckte Leser. Für alle Interessenten, die um diese Uhrzeit noch nicht nach Literaturtipps lauschen, hier die Adresse des entsprechenden Podcasts in der “Mediathek” des MDR:

http://www.mdr.de/mediathek/suche/mediatheksuche102.html?q=woelk&x=10&y=7

Ulrich Woelk: "Was Liebe ist". Roman. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2013, 14,90 Euro

Für mich war der kleine Radio-Auftritt zugleich Gelegenheit, wieder einmal über Gefahren von Gefälligkeits-Rezensionen nachzudenken. Und darüber, wie man diese Gefahr verringern kann. Ich kenne Ulrich Woelk seit 1990. Damals war ich Lektor für die zeitgenössische deutschsprachige Literatur im S.Fischer Verlag. In dieser Funktion habe ich seine ersten Romane betreut: Freigang (1990), Rückspiel (1993) und Amerikanische Reise (1996). Seit dieser Zeit sind wir befreundet. In gedruckten Rezensionen oder kurzen Radio-Kurzauftritten wie dem beim MDR hat man wenig Gelegenheit, auf persönlichen Beziehungen zum Autor einzugehen – obwohl die Information für den Hörer/Leser der Rezension vielleicht nützlich ist. Also hole ich das hier nach.

Die Gefahr, keine unabhängige, sondern eine Gefälligkeits-Rezension abzuliefern, wird für den Kritiker naturgemäß umso größer, je näher er den Autor steht und je häufiger er über ihn schreibt (siehe hierzu das PS unten). Andererseits wäre es in meinen Augen unsinnig, nur deshalb nicht über ein gelungenes Buch zu schreiben, weil man den Autor persönlich kennt und mag. Die Bekanntschaft oder Freundschaft zwischen einem Kritiker und einem Autor würden dann zu einem ziemlich bizarren Filter ihrer sozialen Beziehungen: Ein Kritiker dürfte nur mit solchen Autoren freundschaftliche Kontakte pflegen, von deren Büchern er nichts hält – denn dann wäre es für ihn kein Verlust, sich nicht öffentlich über sie äußern zu können. Und von den Autoren, deren Arbeit er schätzt, müsste er sich privat mit allen Mitteln fern halten, damit er weiterhin frei ist, über deren Bücher zu schreiben. Autoren wiederum wären unter den skizzierten Umständen gut beraten, sich mit all den Kritikern näher zu befreunden, von denen sie Verrisse befürchten – um sie durch persönliche Befangenheit vom Rezensieren ihrer Bücher abzuhalten.

Am sichersten wäre es für den Kritiker natürlich, überhaupt keine persönlichen Kontakte zu Autoren zu pflegen. Dann bliebe er in seinem Urteil jederzeit volkommen unbefangen. Doch durch eine solche umfassende Zurückhaltung handelte er sich einerseits spürbare soziale und menschliche Defizite ein. Andererseits entgingen ihm, wenn er jeden Umgang mit Autoren konsequent unterließ, manche Informationen, die für seine Arbeit hilfreich sein können.

Was tun? Letztlich muss das jeder Kritiker selbst entscheiden. Die Verhaltensregel, die ich mir für diese Fälle aufgestellt habe, sieht so aus: Wenn ich mich mit einem Autor befreundet fühle, vermeide ich es, über seine Arbeiten Rezensionen zu schreiben. Es sei denn, er veröffentlicht ein Buch, das ich für außerordentlich gelungen halte. In diesem Fall fühle ich mich berechtigt, eine Ausnahme von der eigenen Enthaltsamkeits-Regel zu machen – und hoffe, dass die freundschaftlichen Gefühle meinen Blick auf die Stärken und Schwächen des Buchs nicht getrübt haben. Zugegeben: Eine jederzeit unangreifbare Lösung des Problems ist das nicht. Aber ich halte sie für praktikabel – und sie bringt befreundete Autoren nicht in die Lage, für ihre Freundschaft das konsequente öffentliche Schweigen eines Kritikers in Kauf nehmen zu müssen.

PS (am 11.März): Nach ein paar Reaktionen auf den Blog-Beitrag oben halte ich es für sinnvoll, das Thema noch etwas differenzierter zu behandeln. Ich schrieb gestern: “Die Gefahr, keine unabhängige, sondern eine Gefälligkeits-Rezension abzuliefern, wird für den Kritiker naturgemäß umso größer, je näher er den Autor steht und je häufiger er über ihn schreibt.”

Diesen Punkt hätte ich vielleicht noch genauer ausführen müssen. Es gibt Freunde, die einem so nahe stehen, dass sie für das eigene Leben entscheidende Bedeutung erhalten. Sollte sich in diesem üblicherweise kleinen Kreis von Freunden ein Schriftsteller befinden, bleibt dem Kritiker nichts anderes übrig, als über dessen Bücher öffentlich zu schweigen. Denn bei der Beurteilung eines Buches einer so eng vertrauten Person ist er derart befangen, dass sein Urteil nichts mehr wert ist. Privat kann er mit dem Freund über alles literarisch Gelungene jubeln und mit ihm leiden unter allem Misslungenen. Öffentlich aber kann er zu seinen Arbeiten nicht Stellung nehmen.

Doch über diesen engsten Kreis von Freunden hinaus ergeben sich innerhalb des Literaturbetriebs automatisch Bekanntschaften oder auch Freundschaften, die weniger eng sind – und nur um die geht es mir hier. Wie geht ein Kritiker angemessen um mit Büchern von Autoren, die er mag und gern trifft, mit denen er aber letztlich nicht häufiger spricht als, sagen wir, zweimal, dreimal im Jahr. Meiner Erfahrung nach pflegen nahezu alle Kritiker eine handvoll solche freundschaftlichen Kontakte – und es wäre meines Erachtens seltsam, wenn derartige Kontakte, die in jeder Branche üblich sind, im Literaturbetrieb nicht entstünden.

Mit andere, und nun hoffentlich genaueren Worten: Meine Überlegungen zielen auf die Frage, ob und wie ein Kritiker Bücher rezensieren sollte, die von Autoren stammen, für die er freundschaftliche Gefühle hegt, die aber nicht zum engsten Kreis seiner Freunde zählen. Wie gesagt, meinen Beobachtungen nach pflegt jeder Kritiker solche freundschaftlichen Kontakte innerhalb des Betriebs und jeder muss in diesem Punkt seinen angemessenen Weg finden. Mein Vorschlag: Besser ist es, auch über die Bücher solcher Autoren öffentlich kein Wort zu verlieren, es sei denn, ihnen ist etwas außerordentlich Gutes gelungen, dann sollte es erlaubt sein, von der selbst auferlegten Schweige-Regel eine Ausnahme zu machen.

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Wer ist Sophie Weiss?

Ein literarisches Versteckspiel, herrlich!

Der überlebensgroße Erfolg der Fifty Shades of Grey von E.L.James hat viele Begierden geweckt. Nicht zuletzt die Begierde anderer Autoren, nach dem gleichen SM-Muster abzukassieren wie die britische Meisterkassiererin. Auf dem Büchertisch meiner nächstgelegenen Großbuchhandlung liegen deshalb inzwischen neben den drei Bänden Fifty Shades einträchtig drei Bände 80 Days von Vina Jackson (zwei weitere folgen bis Mai) und zwei Bände Crossfire von Sylvia Day (ein weiterer bis Mai). Ob Day, ob Grey – in all diesen Büchern geht es, wie im großen Vorbild von E.L.James, jeweils um eine sehr junge Frau, die den überaus handfesten Verführungskünsten eines wahlweise einflussreichen oder schlicht reichen, immer aber 20 Jahre älteren Herren erliegt und eine bemerkenswerte Mixtur aus Unterwerfung, Schmerz und Lust kennen- und schätzen lernt.

Auf exakt der gleichen Schiene rollt jetzt auch der Roman Stolz und Demut von Sophie Weiss in die Buchläden. Was meine Neugier auf dieses Buch erregte, waren die kargen Angaben zur Autorinnenbiographie: “Sophie Weiss ist das Pseudonym einer deutschen Autorin, die bereits mehrere Romane veröffentlicht hat.” Ein literarisches Versteckspiel, herrlich! Jeder Versuch etwas geheim zu halten, lässt ja sofort die Lust an der Enthüllung ins Kraut schießen.

Sophie Weiss: "Stolz und Demut". Roman. Piper Verlag, 15,99 Euro

Um es gleich zu sagen: Ich habe einen dringenden Verdacht, aber keine Beweise. Schon aus Gründen der Fairness (und um die investigativen Gelüste findigerer Detektive, als ich einer bin, anzustacheln) werde ich hier keine Namen nennen.

Zunächst zum Buch: Stolz und Demut tritt anfangs so genau in die Fußstapfen der Fifty Shades, dass es mich beim Lesen peinlich berührte. Die unverhohlenen Anleihen beim Vorbild machen plausibel, weshalb hier ein Pseudonym herhalten musste: Niemand möchte sich bei einem derart ungenierten Abkupfern erwischen lassen. Die SM-unerfahrene Studentin Sophie, kurz vom Examen, gerät aus Übermut in einen einschlägigen Club, lernt den – wie üblich – rund 2 Jahrzehnte älteren und sehr reichen Richard kennen, der sie in die Szene und Praktiken einführt usw. usf.

Die einzige erwähnenswerte Variante des mittlerweile geläufigen Handlungs- und Personalschemas bringt das Finale: Hier spielt der Roman auf das Kachelmann-Verfahren an. Sophie hat sich in den verheirateten und deshalb auf Diskretion bedachten Richard verliebt. Es kommt zum Streit, er vergewaltigt sie, sie zeigt ihn an, vor Gericht kann sie nichts beweisen, er wird freigesprochen, seine Karriere ist zerstört, seine Ehe ein Trümmerfeld.

Die Geschichte wird mal aus Richards Perspektive, mal aus der Sophies erzählt. Seine Empfindungen, sein Diskretionsbedürfnis, seine Freude am Unterwerfen, seine Schuldgefühle und auch seine Liebe zu seiner Frau werden meines Erachtens viel glaubwürdiger geschildert als Sophies erotische Entdeckungs- und Unterwerfungslust, ihre Liebe zu und dann ihr Zorn auf Richard. Deshalb nehme ich an, hinter dem Pseudonym steckt ein männlicher Autor.

Wer ernstlich darauf bedacht ist, seine Anonymität zu wahren, ist aus Gründen der Tarnung natürlich gut beraten, mit der Wahl des Pseudonyms einen Geschlechtswechsel vorzutäuschen. Tatsächlich nimmt der Piper Verlag die Sache mit dem Pseudonym sehr ernst. Nach Auskunft von Verlagschef Marcel Hartges und Cheflektor Thomas Tebbe kennen nur zwei Personen in ihrem Hause den Klarnamen. Gerade das gibt meines Erachtens einen zweiten Hinweis auf die Identität von Sophie Weiss her: Ein Autor, der um jeden Preis auf die Wahrung seines Pseudonyms bedacht ist, wird sich mit dem betreffenden Manuskript nicht an Fremde, sondern an Verlagsleute wenden, denen er vertraut, weil er schon einmal mit ihnen zusammengearbeitet hat.

Sophie Weiss: "Stolz und Demut". Hörbuch gesprochen von Stephan Schad und Julia Nachtmann, 3-Audio-CDs, Ungekürzte Lesung: 225 Minuten. Osterwoldaudio, 16,99 Euro

Meine Vermutungen sind also: 1.: ein Autor, keine Autorin, 2.: bereits bei Piper verlegt. Das schränkt den Kreis der möglichen Verdächtigen bereits spürbar ein. Kommt hinzu, dass der Roman sprachlich viel besser ist als der ersten Band von E.L. James (den einzigen, den ich kenne). Hier war ein Profi am Werk, der Freude hat am klaren, knappen, handlungsstarken Erzählen. Auch davon gibt es – zu meinem Bedauern – nicht so schrecklich viele im deutschsprachigen Literaturbetrieb. Ich blätterte ein wenig im Gesamtverzeichnis des Piper-Verlags und schnell drängte sich mir ein Name auf.

Kurz: Ich habe den Betreffenden angerufen. Das war nicht ganz einfach, seine Mobilnummer wird bei allen Verlagen, mit denen er zusammenarbeitet, unter Verschluss gehalten. Auf seiner Festnetz-Nummer erreicht man seine Assistentin. Die bat ich, dem Autor meinen Wunsch nach Rückruf auszurichten. Als sie mich fragte, um was es mir denn gehe, nannte ich Stolz und Demut von Sophie Weiss – was sie ohne weiteres akzeptierte.

Nicht sofort, sondern Tage später rief mein Kandidat zurück. Ich hatte den Eindruck,  er war unruhig und sehr auf der Hut. Als ich ihn fragte, ob er der Autor sei, der sich hinter dem Pseudonym Sophie Weiss verberge, verneinte er. Ich insistierte, er verneinte wieder. Und machte dann Scherze darüber, wie er zu der Ehre komme, als Autor eines Buches zu gelten, das er gar nicht kenne. Wir wechselten das Thema und plauderten über anderes. Woraufhin er sich spürbar entspannte. Was für eine Art Buch Stolz und Demut ist und wovon es handelt, hat er mich nicht gefragt.

Soweit meine Recherchen. Sie haben Spaß gemacht, sind aber bildschön im Sande verlaufen. Es gibt im Werk des Autors, den ich nach wie vor für Sophie Weiss halte, noch ein paar Indizien, die für seine Urheberschaft sprechen. Doch die möchte ich hier nicht ausbreiten, denn durch sie würde er erkennbar. Es wäre aber mehr als unangebracht, ihn einem Verdacht auszusetzen, für den ich keinerlei handfesten Beweis habe. Auch meine oben genannten Vermutungen sind nur Spekulationen, die niemand ernst nehmen muss, der sie nicht ernst nehmen will.

Bleibt meine Hoffnung auf andere Literaturdetektive, die geschickter, scharfsinniger und erfolgreicher sind als ich. Es wäre doch zu schade, wenn dieses fabelhafte literarische Geheimnis ungelüftet bliebe. Ich wünsche allen Suchenden viel Glück.

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Poesie, plötzlich

Als mich mein Navi mal aus den Schuhen hob

Kürzlich gab ich in mein Navigationsgerät ein Ziel ein, das in einer Fußgängerzone liegt. Das Gerät wurde sich in Zwiesprache mit dem zuständigen Satelliten darüber klar, dass ich dort nicht mit dem Wagen vorfahren konnte. Daraufhin meldete es mir:

“Das Ziel Ihrer Reise liegt im Unerreichbaren.”

Ja, dachte ich mir, da hast du verdammt recht. Das Ziel der Reise liegt ganz und gar im Unerreichbaren. Und nicht nur dieser Reise. Dann fuhr ich los und dachte im Auto noch eine Weile darüber nach, wie eigentümlich es sich anfühlt, wenn einen so ein kleiner Fetzen Poesie unvorbereitet überfällt. In einem Gedicht von, sagen wir, Durs Grünbein, wäre ich auf eine solche Zeile vorbereitet, und dort wäre sie ein wenig banal. Aber wenn das von einem Navi kommt – alle Achtung! -, dann erwischt es einen, ohne dass man zuvor seine Jetzt-lese-ich-mal-was-echt-Bedeutendes-Haltung einnehmen konnte, und dann zieht es, das kann ich Euch sagen, ganz schön rein.

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Statt eines Nachrufs

Jakob Arjouni ist tot

Heute kam die Nachricht, dass Jakob Arjouni in der Nacht zum Donnerstag in Berlin starb. Er hatte Krebs und lange gegen die Krankheit gekämpft. Er wurde nur 48 Jahre alt. Ich habe die meisten seiner Bücher sehr gemocht, fand manches darin aber auch politisch allzu korrekt. Ist es erlaubt, in einem Artikel zum Tode eines Schriftstellers ihn nicht nur zu loben, sondern auch anzudeuten, wo man glaubt Schwächen seiner Arbeit gesehen zu haben? Kein Zweifel: Arjouni war ein überragendes Talent der zeitgenössischen deutschen Literatur. Dennoch möchte ich hier, statt eines Nachrufs eine Rezension seines Romans “Kismet”(2001) zur Diskussion stellen. Denn der Roman zeigt in meines Augen sowohl die Stärken als auch die Schwächen dieses Schriftstellers mit großer Deutlichkeit. Die Rezension ist am 24. Februar 2001 in der “Welt” erschienen.

“Kismet”
Jakob Arjounis Roman ist hinreißend und hat einen Schönheitsfehler

Jakob Arjouni ist, das hat sich inzwischen herumgesprochen, eine der größten Hoffnungen der deutschen Kriminalliteratur. 1985 veröffentlichte er im Alter von gerade 21 Jahren in einem Hamburger Kleinverlag seinen ersten Krimi: “Happy Birthday, Türke!” Schon der zweite, “Mehr Bier”, erschien 1987 bei Diogenes in Zürich – und die Feuilletons überschlugen sich vor Begeisterung. Kein Vergleich schien zu hoch gegriffen, kein Bezug zu kühn, um seine beiden ersten Arbeiten ins rechte Scheinwerferlicht zu rücken. Selbst den Olympiern des Hardboiled-Genres, Dashiell Hammett und Raymond Chandler, wurde er in manchen Rezensionen nassforsch an die Seite gestellt.

Allerdings ist Arjouni ein ruhiger, bescheidener Mann und kann nichts dafür, wenn einige Kritiker bei der Beurteilung von Kriminalromanen nur über sehr wenige Vergleichsgrößen verfügen und also gebetsmühlenartig die immer gleichen beiden Namen herunterbeten. Geschadet hat das Arjouni gewiss nicht. 1991 wurde sein Erstling von Doris Dörrie verfilmt, im Jahr darauf erhielt er, nachdem sein dritter Roman erschienen war, den Deutschen Krimi-Preis.

Nun ist der vierte da: “Kismet”. Wie es sich für Serientäter seiner Profession gehört, hat Arjouni seinen vier Krimis den gleichen Helden gegeben, den deutsch-türkischen Privatdetektiv Kemal Kayankaya, und sie am gleichen Schauplatz, Frankfurt am Main, angesiedelt. Diesmal geht es um eine geheimnisvolle Bande stummer Schutzgelderpresser mit Perücken und die verschwundene Mutter eines kleinen Mädchens. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Bänden fließt in dem neuen jede Menge Blut – nichts für allzu zarte Gemüter.

Die unbezweifelbaren, die hinreißenden Talente Arjounis sind auch in “Kismet” auf jeder Seite spürbar. Es gibt kaum einen jungen deutschsprachigen Schriftsteller – und auch nur wenige ältere -, die so milieusicher sind wie er. Arjouni kann mit wenigen Worten Figuren, ihr Schicksal und ihren Habitus staunenswert plastisch einfangen und hält sich doch fern von platten Typisierungen. Er ist ein Meister der Skizze – und der Karikatur -, der mit sparsamsten Mitteln auskommt.

Dazu hat Arjouni einen begnadeten Sinn für Dialekte und Dialoge des Alltags. Fast nichts davon ist, wie das Klischee so gern behauptet, dem Leben abgelauscht. Das allermeiste verdankt sich vielmehr einer entschlossenen Verknappung und stilistischen Perfektion – ist also eine veritable künstlerische und keine stimmenimitatorische Leistung. Würden wir einem Menschen begegnen, der redete wie Arjounis Figuren, würden wir sie wohl wegen ihrer überzogenen Coolness, ihrer knappen Pointen als seltsam stammelnde pathologische Fälle betrachten. Gelesen dagegen klingt jedes Wort glaubhaft und nach authentischem Halbweltjargon.

Zu allem Überfluss hat Arjouni einen wunderbar grimmigen Witz und den nötigen Mut zur Übertreibung, ohne die ein Krimi in der Tradition der Schwarzen Serie nur das halbe Vergnügen ist. Als sein Held Kayankaya in “Kismet” von zwei Killern verfolgt und gestellt wird, gelingt es ihm, die beiden mit ihrem eigenen Wagen gleichsam an die Wand zu heften und dazu noch ein halbes Haus in Schutt und Asche zu legen. Sehr realistisch ist das nicht – aber sehr komisch.

So deutlich Arjounis Talente sind, so deutlich ist aber auch seine entscheidende Schwäche: Er hat die mitunter enervierende Neigung, in seinen Romanen gut gemeinten politischen Nachhilfeunterricht zu betreiben. Immer wieder konfrontiert er seinen Helden mit ausländerfeindlichen Ressentiments irgendwelcher dumpfen Deutschen – die Kayankaya dann regelmäßig mit fabelhaft flotten Sprüchen oder sarkastischen Kommentaren bloßstellt. Ja, er geht so gar so weit, Kayankaya nicht nur ein strenges moralisches Koordinatensystem mitzugeben (wonach das Genre verlangt), sondern auch ein klares parteipolitisches Weltbild zu verpassen (was, zumal mit Blick auf die wachsende Verwechselbarkeit der beiden großen deutschen Volksparteien, ein wenig lächerlich wirkt).

Wie kaum eine andere Form des Romans zielt gerade der Krimi auf die Schattenseiten, die Abgründe, die verborgenen, verleugneten Aspekte einer Gesellschaft. Das Genre lebt im doppelten Sinn vom aufklärerischen Impuls des Detektivs: Er macht nicht nur die jeweiligen Täter dingfest, sondern deckt auch unbequeme Wahrheiten auf, über die in aller Öffentlichkeit nicht gern gesprochen wird. Doch an diesem Punkt scheint Arjouni gelegentlich seine Courage zu verlassen. So erzählt er in “Kismet” von den Brüdern Schmitz (die erfahrene Kayankaya-Leser bereits kennen), die in den achtziger Jahren den Frankfurter Bahnhofs- und Rotlichtdistrikt beherrscht hätten. Diese Figuren hat Arjouni nicht völlig frei erfunden. In den achtziger Jahren wurden in Frankfurt tatsächlich zwei Brüder als die Bordell- und Glücksspielkönige bekannt, die über beste Verbindungen zur politischen Führung der Stadt verfügten: Chaim und Hersch Beker, zwei russischstämmige Juden, von denen der eine, Hersch, sich für einige Jahre vor den Nachstellungen der deutschen Justiz in Israel in Sicherheit brachte.

Bemerkenswert ist, dass Arjouni von diesen (vor allem in Deutschland) politisch heiklen Aspekten der Affäre Beker in “Kismet” nichts erwähnt: Zwei jüdische Zuwanderer, die sich zu den Herrschern der Frankfurter Unterwelt aufwerfen – das möchte Arjouni dem überaus korrekt geordneten Erfahrungshaushalt seines Helden offenbar nicht zumuten.

Doch damit unterfordert er nicht nur seine Leser, sondern, was schlimmer ist, auch die Form des Kriminalromans, der eben auf die sonst gern verheimlichten Elemente unserer Wirklichkeit aus ist. Eric Ambler beispielsweise, das britische Genie des Thrillers, machte nur acht Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einen überaus durchsetzungsfähigen deutschen Soldaten, eine blonde Bestie par excellence, zur Hauptfigur seines Romans “Schirmers Erbschaft”. Mehr noch: Er ließ eine ehemals von den Nationalsozialisten verfolgte hochintelligente Frau dem skrupellosen Charme seines Helden erliegen. Ambler fügte damit der Spannung seiner Story die Spannung der politischen Provokation hinzu. Dagegen wird die Handlung von Arjounis Romanen durch seine ängstlich um klare politische Frontverläufe bemühte Weltsicht mitunter vorhersehbar und also spannungsärmer.

Jakob Arjouni:
“Kismet”. Roman
Diogenes Verlag, Zürich
272 S., 10,90 Euro

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Jugendwort den Jahres 2012

Ich, die Facebookschlampe

Okay, zugegeben, ich bin kein native speaker der aktuellen Jugendsprache, sondern lausche ihr staunend. Dennoch hat mich der Langenscheidt Verlag seit 2010 eingeladen, an den Entscheidungen zum Jugendwort des Jahres teilzunehmen. In der 6-köpfigen Jury sitzen außer zwei sehr jungen Menschen (Jugendmagazin “Spiesser”) und zwei blutjungen Menschen (Schule) noch der Linguist Matthias Heine („Die Welt“) und ich („Focus“) als Literaturkritiker. Da also ältere Herrschaften in diesem Germium unübersehbar eine Minderheit sind, und es ohnehin nur eine Schlussauswahl aus jährlich rund 40.000 Einsendungen trifft, darf es vielleicht als fachkundig und vertrauenswürdig genug betrachtet werden.

Im diesjährigen Wettbewerb war der Einfluss des Internets auf die Jugendsprache nicht zu übersehen. Bei den diversen Abstimmungen unter den Juroen ging das im Netz vielbenutzte Akronym „YOLO“ rasch in Führung und trug schließlich siegreich den Titel „Jugendwort des Jahres 2012“ davon: Es steht für „You Only Live Once“ und ist unüberhörbar als Aufforderung zu verstehen, alle Erlebnischancen zu nutzen, die sich bieten. Vor 30 oder 40 Jahren hätten Absolventen humanistischer Gymnasien stattdessen wohl schlicht „Carpe diem“ gesagt.

Auf Platz 2 wurde die Abkürzung „FU!“ gewählt – eine im Internet weit verbreitete, wenn auch bedauerlich fantasiearme Abkürzung für „Fuck You“. Man merkt den beiden diesjährigen Spitzenreitern den Drang zur schnellen Verständigung im Netz an. Der Wunsch knappe Kommentare zu hinterlassen ist offenkundig größer als der, wohlerwogene Besinnungsaufsätze zu schreiben. Die vier in der Jury anwesenden Jugendsprachler versicherten nachdrücklich und glaubhaft, dass beide Worte nicht nur netz-schriftsprachlich, sondern unter den Angehörigen ihrer Jahrgänge auch im mündlichen Gespräch gebräuchlich seien.

Yalla, Yalla!

Den dritten Rang erreichte das aus dem Arabischen stammende Wort „Yalla!“, das so viel wie „Beeil dich!“ oder “Dalli dalli!” bedeutet. Als Vater von drei in Frankfurt beheimateten Söhnen zwischen 16 und 22 Jahren kann ich mich für den Gebrauch dieses neuen Fremdwortes durch deutsche Muttersprachler verbürgen.

Die ersten drei Entscheidungen waren sicher gut und richtig, aber nicht sonderlich komisch. Ein nicht geringer Teil des öffentlichen Interesses, den das „Jugendwort des Jahres“ genießt, beruht nicht zuletzt darauf, dass etliche der Wortschöpfungen satirische oder kabarettistische Qualitäten haben. So war 2011 „Zwergenadapter“ als Synonym für „Kindersitz“ im Wettbewerb, 2010„Arschfax“ für „Unterhosenetiketten, die hinten aus der Hose hängen“ oder 2008 „Stockente“ für „Anhänger den Nordic-Walking-Sports“.

Wulffen, guttenbergen

Anschluss an diese großen Vorläufer findet die Konkurrenz 2012 vielleicht mit dem auf den 4. Platz gewählten Verb „wulffen“, das in Anspielung auf die Affäre um Ex-Bundespräsident Christian Wulff sowohl für „jemandem die Mailbox vollquatschen“, „lügen“ oder „auf Kosten anderer leben“ steht. Enge Verwandtschaft unterhält offenkundig es zu dem 2010 auf Platz 3 gewählten Verb „guttenbergen“, dass zumal im schulischen Umfeld gern als Stellvertreter für „abschreiben“ benutzt wurde (oder noch wird).

Auf Platz 5 schaffte es in diesem Jahr schließlich „Komasutra“, das den „versuchten Geschlechtsverkehr zwischen zwei sehr betrunkenen Personen“ intelligent auf den Begriff bringt, witzig ist und außerdem noch auf eine gewisse kulturhistorische Bildung der Nutzer schließen lässt.

Liken und schlampen im Netz

Wie groß die Bedeutung des Internets für die Jugendsprache inzwischen geworden ist, zeigt auch „Me Gusta“, die spanische Variante der netz-typischen Kommentarfloskel „Gefällt mir“. Die Wendung gehörte ebenfalls zu den meistgenannten Einsendungen und fand in den Diskussionen der Jury einige Fürsprecher, konnte sich auf dem Weg zu den Top-Five aber nicht durchsetzen. Auf der Liste der Einsendungen weit oben stand zudem der Begriff „Facebookschlampe“, der Facebook-User bezeichnen soll, „die unbekannte Leute als Freunde akzeptieren, um ihre Freundesliste zu vergrößern“. Ein Neologismus, der, was auf der Hand liegt, ohne das Internet nicht denkbar wäre, allerdings auch an das Verhalten im Netz gefesselt bleibt, da es in der analogen Welt Ähnliches kaum geben dürfte.

Der Begriff passt im übrigen, wie ich zugestehen muss, hervorragend auf mich, da ich mich im genannten sozialen Netzwerk exakt entsprechend der Definition einer „Facebookschlampe“ verhalte. Als mildernde Umstände darf ich vielleicht anführen, dass ich a) bislang nicht ahnte, dass solches Verhalten verpönt ist und b) meine Facebook-Seite vornehmlich beruflichen und nicht persönlichen Zwecken dient.

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Die Dichter des Zorns

Literatur über einen Erregungszustand: Zorn
Ein Radioessay

Für Literatur, die sich unübersehbar dem Wahren, dem Schönen, dem Guten verschrieben hat, gibt es kaum Rechtfertigungsprobleme. Es gehört zur vertrauten humanistischen Vorstellungswelt, dass die Arbeit der Dichter aufs Positive zielt. Man glaubt voraussetzen zu dürfen, dass es ihnen darum geht, ihre Leser zu bessern oder zu belehren, das Leben erfreulicher und die Welt glücklicher zu machen. Eine Literatur des Zorns passt nicht gut in dieses Bild. Doch solche braven Vorstellungen von Literatur sind nicht nur vorschnell, sondern gleich in doppelter Hinsicht falsch. Denn natürlich zielen die Dichter zum einen nicht nur aufs Positive, oft genug ist es ihren schlicht gleichgültig, ob sie mit ihren Büchern irgendjemanden bessern oder glücklicher machen. Zum anderen steht nicht fest, ob denn Zorn etwas Negatives ist.

Von der Ilias bis zu Goethe und Schiller, von Hölderlin und Kleist bis zu Kafka, Enzensberger und in den Gedichten von Robert Gernhardt hat der Zorn in der Literatur eine herausragende Rolle gespielt. Über das Thema habe ich einen Radioessay geschrieben, der heute im Deutschlandfunk gesendet wurde. Hier der Link zu der Audio-Fassung zum nachhören:

http://www.dradio.de/aodflash/player.php?station=1&broadcast=445216&datum=20121125&playtime=1353832248&fileid=624514a9&sendung=445216&beitrag=1929951&/

Und falls das nicht funktioniert, hier der Link zur Textfassung:

http://www.dradio.de/dlf/sendungen/essayunddiskurs/1929951/

 

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Lob und Preis für Sten Nadolny

Die Familie, ein Knäuel

Gestern erhielt Sten Nadolny für seinen Roman “Weitlings Sommerfrische” in Berlin dem mit 12.000 Euro dotierten Buchpreis der Stiftung Ravensburger. Ich durfte bei der Veranstaltung das Loblied auf Nadolny anstimmen, was ich mit großem Vergnügen tat, da ich Buch und Autor sehr mag. Hier die Laudatio in Textform:

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

was kann ich Ihnen berichten über einen Schriftsteller, der einen weltweit verehrten Vorkämpfer der Langsamkeit erfunden hat, diesen Helden in seinem Roman aber sterben lässt, weil es ihm nicht gelingt, seine Leute zu schnellst möglichem Handeln anzutreiben? Was kann ich ihnen sagen zu einem Romancier, der über den Gesellschaftsumbruch von 1968 einen deutschen Gesellschaftsroman mit türkischer Hauptfigur geschrieben hat? Was über einen Autor, dessen Romanheld Ole Reuter ein Ziel für sein Leben zu finden versucht, indem er sich mit Bundesbahn-Netzkarte auf eine Reise macht, die kein Ziel, sondern nur eine endlose Vielfalt von Verbindungen kennt? Und das gleich zwei Mal.

Sten Nadolny: "Weitlings Sommerfrische". Roman. Piper Verlag, München 2012, 16,99 Euro

Dieser Schriftsteller, er heißt Sten Nadolny, ist offenbar ein Skeptiker, der sich sogar in unserer Epoche der Höchtsgeschwindigkeiten nicht aus der Ruhe bringen lässt, ist ein Ironiker, für den das Sinnsuchen wichtiger ist als das Sinnfinden, ist ein Mann der paradoxen Interventionen, der viel zu viel weiß über das paradoxe Naturell des Menschen, als dass er auf eine so abwegige Idee verfiele, sie seien auf direktem Wege zu erreichen.

Vielleicht sollte ich Ihnen, meine Damen und Herren, berichten, dass dieser Schriftsteller, seinen 70. Geburtstag vor Augen, der sehr naheliegenden Versuchung widerstanden hat, eine Autobiographie zu schreiben. Und dass dieser Ironiker stattdessen den verständlichen Impuls, Lebensbilanz zu ziehen, genutzt hat, um davon zu erzählen, wie leicht es hätte geschehen können, dass er gar nicht er selbst, sondern ein ganz anderer geworden wäre. Eben kein Schriftsteller, sondern ein Richter. Also kein Mann des Erzählens, sondern ein Mann der Entscheidung, keiner des Beschreiben, sondern einer des Beschlusses.

Beides liegt nicht so weit auseinander, wie man im ersten Augenblick vielleicht vermutet. Er habe, erklärt uns jener fiktive Jurist, zu dem Sten Nadolny vielleicht geworden wäre, wenn er nicht Sten Nadolny geworden wäre, er habe den Beruf des Richters gewählt, „weil dort die Freude winkte, zu richtigen, angemessenen, klugen Urteilen zu kommen. Das traute“ er sich „zu, denn es war etwas für einen Zauderer, der nichts unbeachtet ließ, bevor er handelte.“ Klingt das nicht sehr nach dem realen, dem ganz und gar nicht fiktiven Schriftsteller Sten Nadolny, nach diesem Zauderer, der nur alle gefühlten zehn Jahre mal einen neuen Roman veröffentlicht, weil er nichts unbeachtet lässt, bevor er ein Buch aus der Hand gibt, dann aber rundum richtige, angemessene, kluge Geschichten abliefert.

Biographie. Ein Spiel

Nadolny treibt, wie schon sein Erzähler-Kollege Max Frisch, mit der Biographie ein Spiel. „Ich bin nicht Stiller“, erklärt Max Frischs berühmteste Romanfigur apodiktisch. Soviel Bestimmtheit passt nicht zu Nadolnys Held Weitling. Der würde eher mit sanftmütiger Überraschtheit fragen: „Wie? Ich bin nicht Richter Weitling?“ Bei Frisch nimmt der Zweifel an der Identität schnell eine kämpferische, dramatische oder gar tragische Klangfarbe an. Nadolnys Weitling dagegen kämpft fast gar nicht um seine Identität als Richter, sondern nur um die Frau, die er als Richter geheiratet hat – und sobald er mit ihr wieder zusammenlebt, scheint er seinen Identitätswechsel in eine andere, unbekannte Lebensgeschichte eher als Bereicherung, denn als Bedrohung zu empfinden.

Doch „Weitlings Sommerfrische“ ist nicht nur ein autobiographischer Roman, der die Regeln des autobiographischen Romans ironisch unterläuft. Das Buch zeigt außerdem, fast wie Romane aus Lateinamerika, die für ihren magischen Realismus gelobt werden, eine Freude an Ausflügen ins Fantastische oder Science-Fictionartige, wie sie in der deutschen Literatur nur selten ist. Es dürfte, vermute ich, Nadolny ein heimliches und zugleich unheimliches Vergnügen bereitet haben, in seinem Roman manche kleine Hommage an Hollywood-Blockbuster zu verstecken, bis hin zu den von Tommy Lee Jones und Will Smith gespielten „Men in Black“ samt ihrem bewusstseinsveränderndem Blitzdings.

Die Eltern lieben – und eine Rechnung offen haben mit ihnen

Vor allem aber ist „Weitlings Sommerfrische“ ein Familienroman, der den fast grenzenlosen Einfluss vorführt, den Familienkonstellationen auf Kinder haben. Wenn Richter Weitling einen Identitätswechsel erlebt hin zum Schriftsteller Weitling, dann weil sich während seiner Zeitreise in die eigene Jugend die Familienverhältnisse verändern, unter denen er aufwuchs. Nüchtern betrachtet, erzählt das Buch, das so leicht und vergnüglich daherkommt, von einer keineswegs immer leichten und vergnüglichen Kindheit. Sondern es erzählt von einer Mutter, die bei Kriegsende durch die Geburt eines zweiten, kranken Kindes überfordert ist und das erste Kind deshalb vorübergehend in ein Kinderheim gibt. Es erzählt von einem Vierjährigen, dessen Vertrauen nicht nur in die Mutter, sondern auch ins Leben während dieser Monate im Kinderheim einen spürbaren Knacks davonträgt. Es erzählt von einem, wie Nadolny schreibt, „sonderbaren Jungen“, der später dauerhaft schwankt „zwischen größenwahnsinnigen Träumen und tiefer Trübseligkeit“, der „krankhaft schüchtern“ und „ständig in irgendeiner Versagensangst befangen“ ist.

Kurz: Der Roman erzählt von einem Mann, der seine Eltern liebt, zugleich aber eine Rechnung offen hat mit ihnen. Wen sollte es wundern, wenn er einige seiner wesentlichen Lebensentscheidungen in Opposition zu ihnen trifft. Entwickelt sich der Vater beispielsweise zu einem erfolgreichen Schriftsteller, der Bestseller schreibt, vielfach gefeiert wird und Juristen mit seiner Verachtung verfolgt – dann entscheidet sich der Sohn zum Entsetzen des Vaters, Richter zu werden und verteidigt die Jurisprudenz ebenso scharfsinnig wie scharfzüngig gegen dessen Angriffe. Entwickelt sich dann aber in einem anderen Leben Weitlings seine Mutter zur Bestsellerautorin, die von ihren Lesern für ihre frohgemuten Familienromane ins Herz geschlossen wird, dann entscheidet sich der Sohn, nicht Richter zu werden, sondern Schriftsteller, um in seinen Romanen behutsam, aber doch übersehbar anzudeuten, dass es in Familien nicht immer so frohgemut zugeht, wie es die Mutter behauptete.

Zeitreise mit Blitzdings

Sicher, Nadolny ist nicht der erste Schriftsteller, der davon erzählt, wie unbeständig, schwer greifbar und ambivalent unser Ich ist. Aber da er das Ich seines Helden sowohl aus den Nährboden der Familie wachsen, als auch im Widerstand gegen die Familie sich entwickeln lässt, zeigt er uns Weitlings Werdegang in einem wunderbaren und delikaten literarischen Gleichgewicht: Nie ist Weitling nur das Produkt der Familienverhältnisse, andererseits aber auch nie frei von diesen Familienverhältnissen. Oder um es positiv zu formulieren: Nadolnys als Zeitreise getarnter meisterlicher kleiner Familienroman zeigt, was Familie ausmacht: Sie ist ein Knäuel ineinander verschlungener Schicksale, keines ohne die anderen denkbar, jedes von den anderen mitgeprägt und seinerseits die anderen mitprägend.

Das, meine Damen und Herren, auf gerade mal 200 Seiten, so anschaulich und spielerisch vorzuführen, wie Nadolny in „Weitlings Sommerfrische“, das ist eine immense erzählerische Leistung. Sie ist aller literarischen Ehren wert und wird heute mit dem Buchpreis der Stiftung Ravensburger ausgezeichnet. Dazu möchte ich Sten Nadolny sehr herzlich gratulieren.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

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One More Shot: “Grrr!”

“GRRR!” ist da!

Okay, ich gebe zu, es ist keine Literatur und deshalb auf dem Büchersäufer-Blog nicht unbedingt am Platze. Aber es ist zweifellos ein Grund zur Freude: Soeben kam das neue Album der Stones “Grrr!” an. Wirklich neu sind nur zwei Tracks: “Doom And Gloom” und “One More Shot”. Aber das soll das Vergnügen an der Prachtbox nicht schmälern.

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