Claire Vaye Watkins: Cowboys, Geister

“Mein Vater hat niemanden umgebracht”

Ihr Vater war die rechte Hand von Sektenführer Charles Manson. Nun zählt Claire Vaye Watkins zu den großen Hoffnungen der amerikanischen Literatur. Einige Erzählungen aus ihrem Band Geister, Cowboys zählen für mich zu den besten Short Stories, die in der letzten Zeit aus USA kamen

Jedes Mal, wenn ein Produzent zu ihr kommt, der das Leben ihres Vaters verfilmen will, lässt sie sich ins beste Restaurant ihrer Stadt einladen. Dort erzählt sie dann, was sie vom Vater weiß. Wie früh er starb, wie stark er auf Frauen wirkte – und dass er kein Mörder war.

Claire Vaye Watkins: "Geister, Cowboys". Stories. Ullstein Verlag, 19,99 Euro

Es ist gut, das klarzustellen. Denn ihr Vater war die rechte Hand von Charles Manson, jenes Sektenführers, dessen „Manson Family“ im Sommer 1969 in Kalifornien sieben Menschen ermordete. Darunter die schwangere Schauspielerin Sharon Tate, Ehefrau des Kinoregisseurs Roman Polanski (Tanz der Vampire, Der Pianist).

In einen dieser Filmproduzenten verliebt sie sich, er heißt Andy und hat ein unglaubliches Lächeln. Ihm erzählt sie buchstäblich alles über ihren Vater, über die Wüste Nevadas, in der er lebte, über ihre Mutter, die sich nach seinem Tod umzubringen versuchte. Schließlich küssen sich die beiden: „Ein Kuss, als wären wir ineinander hineingefallen.“ Dann aber schickt sie ihn weg, endgültig, denn sie weiß, zu einem so glücklichen, so heilen Menschen wie Andy wird sie mit ihrer Vergangenheit niemals passen.

Die Amerikanerin Claire Vaye Watkins, 28, hat sich die erste Geschichte ihres ersten Buches hautnah auf den eigenen Leib geschneidert. Ihr Vater Paul Watkins war tatsächlich der „chief lieutenant“ in Charles Mansons bizarrer „Family“. Doch beteiligt hat er sich an deren Morden nicht und vor Gericht gegen die Sektenmitglieder ausgesagt. Dennoch ist die Erzählung nicht schlicht autobiografisch, sondern zielt auf mehr: auf die Erfahrung, das naive Vertrauen zum Leben ein für alle Mal verloren zu haben und keinen Weg mehr zurückzufinden in die Welt unbeschädigter Menschen.

„Mein Vater starb, als ich sechs Jahre alt war. Meine erste Erinnerung ist sein Tod“, erzählt Claire Vaye Watkins im Gespräch: „Mein Verhältnis zu ihm war immer das einer Suche: Wer war er? Was für eine Art Mann war er? Seine Verstrickungen in die ,Manson Family’ war ein Teil dieser Suche, aber eben nur ein Teil.“

Fanfarenstoß aus voller Kehle

Man täte Geister, Cowboys, dem wunderbaren ersten Buch von Claire Vaye Watkins, übel Unrecht, rückte man allein die spektakuläre Familiengeschichte seiner Autorin in den Vordergrund. Der Band enthält zehn Erzählungen, von denen einige zu den besten amerikanischen Short Storys der letzten Jahre gehören. Als die Sammlung jetzt in den Vereinigten Staaten erschien, begeisterte sich die Kritikerin der ehrwürdigen New York Times: „Wenn die Bedeutung eines Debüts darin besteht, das Talent eines neuen Schriftstellers anzukündigen, dann ist ’Geister, Cowboys’ ein Fanfarenstoß aus voller Kehle.“

Fast alle Geschichten sind in der Wüstenlandschaft Nevadas angesiedelt, in der Claire Vaye Watkins aufwuchs, oder in Glitzerstädten wie Las Vegas und Reno, die aus der glutheißen Ödnis aufragen wie gigantische Ufos. Diese endlose Weite prägt die Figuren der Erzählungen. Das Gefühl, verloren und ohne jeden Halt zu sein, ist für sie immer nur einen kleinen Schritt entfernt.

Es sind Leute wie Manny, der schwule Chef eines Bordells irgendwo im Nirgendwo, der sich in einen jungen italienischen Kunden verliebt, aber dabei zusehen muss, wie eine seiner cleveren Prostituierten den Burschen über Tage hinweg systematisch ausnimmt und ihm schließlich das Herz bricht. Oder wie zwei blutjunge Mädchen, die auf die untaugliche Idee kommen, nachts 100 Meilen bis nach Las Vegas zu fahren, um dort ihren Liebeskummer mit ein paar wildfremden Jungs zu betäuben.

Seiltänzerin ohne Gleichgewicht

Die Fähigkeit von Claire Vaye Watkins, die unterschiedlichsten Charaktere glaubwürdig vor Augen zu rücken, ist beeindruckend. Fast alle erweisen sich als gefährdete Menschen, fast immer kommt das Gefühl von Schuld mit ins Spiel. Sie sind wie Seiltänzer, die ihr Gleichgewicht verloren haben und nun panisch ins Leere greifen, um irgendetwas zu finden, das sie retten könnte.

Manches davon kommt einem gar nicht spezifisch amerikanisch, sondern erstaunlich vertraut vor. Da sind Danny, Julie und Iris zum Beispiel, drei Jugendliche im Collage-Alter, die sich in ihrer ironischen Abgeklärtheit gegen alles gepanzert fühlen, was ihnen jemals gefährlich werden könnte. Für sie zählt nur die brillante Geste, die Coolness, die sarkastische Lässigkeit. Bis Iris sich in Danny verliebt und ihr die Sehnsucht keine ironischen Spielräume mehr lässt.

Die drei, sagt Claire Vaye Watkins, „machen eine Menge albernes Zeug, um sich dann brüsten zu können, albernes Zeug gemacht zu haben. Sie saufen auf Friedhöfen oder in Hochzeitskapellen, damit sie sagen können, dort gesoffen zu haben. Und zu unserem digitalen Zeitalter gehört, dass sie all ihre Heldentaten in Echtzeit fotografisch dokumentieren.“

Claire Vaye Watkins ist nicht nur eine großartige Erzählerin, sondern sie versteht sich auf die rare Kunst, das besondere Klima unserer Gegenwart in einigen ihrer Geschichten so zu verdichten, dass es sichtbarer, spürbarer wird, als es im Alltag ist. Sie erzählt dabei locker, unangestrengt, wie nebenher, und doch hat man, sobald man sich ihrem Buch anvertraut, das Gefühl, manche Dinge klarer zu sehen als zuvor.

Claire Vaye Watkins:
Geister, Cowboys.
Stories
Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren
Ullstein Verlag, Berlin 2012
299 Seiten, 19,99 Euro
ISBN: 9783550088827

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Marcel Reich-Ranicki

»Näher kann der Tod nicht kommen«

Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki spricht über seine Angst vor dem Sterben, darüber, warum er nicht an das Jenseits glaubt und was ihm das Wichtigste war in seinem Leben

Marcel Reich-Ranicki sitzt in seinem Wohnzimmer in einem hohen schwarzen Sessel. Hinter seinem Rücken ragt eine Bücherwand auf, die inzwischen halb Deutschland kennt aus den Fernsehinterviews mit ihm. Sakine, seine Haushälterin, hat uns Wasser gebracht und von Tosia Reich-Ranicki erzählt, die sie vor deren Tod im April 2011 hingebungsvoll betreute. Dann geht sie und schließt die Tür.

Uwe Wittstock: Herr Reich-Ranicki, vor mehr als einem Jahr starb Ihre Frau. Sie waren fast 70 Jahre verheiratet. Ist Ihnen der Gedanke an den Tod seither näher gekommen?

Marcel Reich-Ranicki: Nein. Wenn man wie ich über 90 Jahre alt ist, steht einem der Tod immerzu vor Augen. Noch näher kann er nicht kommen. Natürlich fehlt mir meine Frau, sie fehlt mir jeden Tag, jeden Augenblick. Es ist, als wäre ein Körperteil abgeschnitten.

Wittstock: Haben Sie Angst vor dem Tod?

Marcel Reich-Ranicki: Ja, sehr. Aber die Formulierung der Frage missfällt mir. Ich fürchte nicht den Tod. Ich habe Angst vor dem Nicht-mehr Existieren.

Wittstock: Sie waren im Warschauer Ghetto als junger Mann stärker mit dem Tod konfrontiert als andere Menschen in ihrem ganzen Leben. Hat das Ihre Einstellung zum Tod verändert?

Uwe Wittstock: "Marcel Reich-Ranicki. Geschichte eines Lebens" Biographie. Pantheon Verlag. 287 Seiten, 11,90 Euro

Marcel Reich-Ranicki: Der Tod war eine reale Erfahrung im Ghetto. Wenn meine Frau und ich morgens aus dem Haus gingen, mussten wir über Leichen steigen, die auf den Straßen lagen. Sie wurden in offenen Holzkarren abgeholt. Tosia und ich lernten uns mit 19 kennen an dem Tag, an dem sich Tosias Vater im Ghetto an seinem Hosengürtel erhängt hatte. Er lag tot im Nebenzimmer. Tosia hatte ihn erst Minuten vorher entdeckt. Zwei Jahre später mussten wir uns von meinen Eltern Helene und David trennen, als sie aus dem Ghetto abtransportiert wurden. Wenige Tage darauf hörten Tosia und ich, dass sie in den Gaskammern von Treblinka ermordet worden waren. Der Tod ist für mich so etwas sehr Reales geworden.

Wittstock: Der Tod gehört zu den wichtigsten Themen der Literatur. Was kann man aus der Literatur über den Tod lernen?

Marcel Reich-Ranicki: Einem wirklichen Schriftsteller kann es gelingen, uns an den Tod zu erinnern. An unseren ganz persönlichen Tod. Jeder weiß, dass das Leben irgendwann endet. Aber selten machen wir uns klar, dass wir selbst es sind, die sterben werden. Während die Welt ungerührt weiterexistiert. Literatur öffnet uns manchmal für Momente die Augen für diese Wahrheit, vor der wir sie sonst zumeist schließen.

Wittstock: Hilft Ihnen die Literatur, um mit dem Gedanken an den eigenen Tod fertigzuwerden?

Marcel Reich-Ranicki: Mit dem Gedanken an den Tod kann man nicht fertigwerden. Er ist völlig sinnlos und vernichtend. Die Literatur hilft vielleicht dabei, sich das unvermeidliche Ende des Lebens bewusst zu machen. Aber damit fertigwerden? Es gibt Menschen, die sich selbst töten, wie Kleist, Tucholsky, Hemingway. Sie wollen nicht mehr leben. Aber ich bezweifle, dass sie mit dem Tod fertiggeworden sind. Sich mit dem Tod auszusöhnen ist unmöglich. Selbstmörder wählen den Tod, weil er für sie das kleinere Übel ist als ein unerträgliches Dasein.

Wittstock: Gibt es ein Buch über den Tod, das Sie besonders beeindruckt hat?

Marcel Reich-Ranicki:Viele große Schriftsteller erzählen vom Sterben. Stark berührt hat mich das Buch Der Tod des Iwan Iljitsch von Leo Tolstoi. Es ist kein Roman, sondern eine lange Erzählung. Aber wie Tolstoi darin die Gedanken eines Menschen einfängt, der tödlich erkrankt ist, eines Menschen, der nicht glauben will und kann, dass er selbst mit all seinen Gefühlen, Gedanken und Erinnerungen sterben muss und dabei alles zerstört wird, was ihn ausmacht, das ist grandios. Tolstoi konnte die Seele, die Psyche des Menschen so genau beschreiben wie kaum ein anderer Schriftsteller. Er zeigt die Angst seines Helden Iwan Iljitsch, seine hilflose Wut, seine Ungläubigkeit, als er erfährt, dass er todkrank ist. Am Schluss beschreibt er, wie in einem drei Tage dauernden Todeskampf das Leben aus Iwan Iljitsch langsam und unaufhaltsam förmlich herausgepresst wird. Ein ungeheuerliches, unvergleichliches Buch.

Wittstock: Gibt es etwas, das über den eigenen Tod hinwegtrösten kann?

Marcel Reich-Ranicki: Nein. Es gibt nichts.

Wittstock: Wie stellen Sie sich das Jenseits vor?

Marcel Reich-Ranicki: Es gibt kein Jenseits. Es gibt kein Leben nach dem Tod. Also hat es auch keinen Sinn, sich das Jenseits auszumalen. Der Tod ist der Schlusspunkt.

Wittstock: Es gibt viele Beschreibungen des Jenseits in der Literatur: Dantes Göttliche Komödie oder Sartres Geschlossene Gesellschaft. Sibylle Lewitscharoff entwirft in ihren Romanen immer wieder Jenseits-Landschaften, in denen sich Tote bewegen.

Marcel Reich-Ranicki: Jetzt bringen Sie bitte nicht alles durcheinander: Die Göttliche Komödie stammt aus dem 14. Jahrhundert. Dante verwandelte hier Theologie in Literatur. Ob er wirklich an ein Jenseits geglaubt hat, steht auf einem anderen Blatt. Für Sartre war die Geschlossene Gesellschaft ein Gedankenspiel: Er wollte bestimmte philosophische Ideen in literarische Bilder umsetzen. Mit dem Glauben an ein Jenseits hat das nichts zu tun. Und wenn eine Autorin wie Sibylle Lewitscharoff heute glaubt, darüber schreiben zu müssen, wie es den Toten im Jenseits ergeht, dann ist das die Sache dieser Autorin. Ich möchte das nicht lesen.

Wittstock: Sie sind kein religiöser Mensch. Viele Religionen versprechen ein Weiterleben nach dem Tod. Würden Sie gern in einer Religion Trost finden?

Marcel Reich-Ranicki: Nein. Es gibt kein Weiterleben nach dem Tod. Das ist Wunschdenken. Marx nannte Religion Opium fürs Volk. Es ist wichtig, die Wirklichkeit so zu sehen, wie sie ist. Auch wenn mir nicht gefällt, was ich sehe. Es hat keinen Sinn, sich selbst zu betrügen. Religion ist wie eine Brille, die den Blick auf die Wirklichkeit trübt, die bittere Realitäten hinter einem milden Schleier verschwinden lässt. Deshalb wehren sich die Anhänger der Religionen auch so vehement, diese Brille jemals abzusetzen. Aber für mich ist das nichts. Selbst im Ghetto habe ich versucht, die Dinge so zu sehen, wie sie sind und mir nichts vorzumachen.

Wittstock: Was tun Sie, um mit dem Gedanken an den Tod fertigzuwerden?

Marcel Reich-Ranicki: Man wird mit dem Gedanken an den Tod nicht fertig. Darüber sprachen wir schon. Der Gedanke daran ist eine Qual, daran ist nichts zu ändern.

Wittstock:Sie sind jetzt 92 Jahre alt. Wenn Sie Resümee ziehen, was war Ihnen das Wichtigste in Ihrem Leben?

Marcel Reich-Ranicki: Die Liebe, die Literatur, die Musik, meine Familie, meine Frau. Nicht immer in dieser Reihenfolge. Mal war das eine wichtiger für mich, mal das andere. So etwas wechselt, je nachdem in welcher Situation man ist.

Wittstock: Gibt es etwas, was Sie in Ihrem Leben versäumt haben?

Marcel Reich-Ranicki: Es gibt immer etwas, das man versäumt hat. Zumal in sexueller Hinsicht.

Wittstock: Gibt es etwas, das Sie gern noch tun möchten?

Marcel Reich-Ranicki: (Lange Pause) Vor allen Dingen möchte ich noch möglichst lange Zeit etwas tun können. Ich habe einmal gesagt, was mich am Tod vor allem schreckt, ist die Gewissheit, nicht mehr die Zeitungen des nächsten Tages lesen zu können. Ich möchte gern erfahren, wie es weitergeht. Ich möchte dabei sein. Ich will immer wieder die nächste Zeitung lesen. Aber das geht nicht, irgendwann ist Schluss.

Wittstock: Das Alter hat eine Menge Nachteile, das ist eine banale Feststellung. Aber hat das Alter aus Ihrer Sicht auch Vorteile?

Marcel Reich-Ranicki: Lassen Sie sich nichts erzählen von Altersweisheit oder Altersmilde. Das ist sentimentales Geschwätz. Das Alter ist fürchterlich. Es raubt einem nach und nach alles, was einem lieb und wichtig war, alles, worauf man glaubte, sich verlassen zu können. Philip Roth, der große amerikanische Schriftsteller, sagte einmal: Das Alter ist ein Massaker. Die Akademie in Stockholm soll sich schämen, dass sie ihm noch immer nicht den Nobelpreis gegeben hat. Roth hat Recht. Im Alter stehen wir einem übermächtigen Gegner gegenüber, wir sind allein und werden immer schwächer. Dieser Gegner, die Zeit, wird immer stärker, und sie vernichtet nach und nach immer mehr von uns, ohne dass wir uns wehren können, bis er uns schließlich ganz auslöscht. Einen Vorteil sehe ich da nicht.

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Rainald Goetz: Johann Holtrop

Von Ratten und Deppen

Hat Rainald Goetz seit 29 Jahren keinen Roman mehr veröffentlicht (also seit Irre von 1983)? Oder erst seit 24 Jahren (also seit Kontrolliert von 1988)? Darüber gehen die Meinungen auseinander. Einig war man sich dagegen in den großen Erwartungen, als Goetz sein neues umfangreiches Prosawerk Johann Holtrop ankündigte. Bescheiden trat das Buch jedenfalls nicht auf, heißt es doch im Untertitel “Abriss der Gesellschaft”, fast so als wolle es nicht nur eine komplette Blaupause der Gesellschaft liefern, sondern ihr in gleichem Atemzug auch noch mittels Abrissbirne den Garaus machen. Um die Neugier der Leser zusätzlich zu reizen, wurde rechtzeitig gestreut, welche auffälligen Ähnlichkeiten der Lebensweg von Titelheld Johann Holtrop zeigt mit dem des Ex-Bertelsmann-, Ex-Acandor-Managers Thomas Middelhoff. Ist Goetz’ Buch also ein Schlüsselroman?

Natürlich ist das lustig. Natürlich stellt der Leser sich gern vor, alles sei so passiert. In seinem Roman Johann Holtrop bestätigt Rainald Goetz die üblichen Vorurteile über Industrielle, Spitzenmanager oder Finanzmagnaten gleich dutzendweise. Er erzählt die Geschichte seines Titelhelden so, dass sie in groben Zügen die Karriere Thomas Middelhoffs erkennen lässt. Jenes Middelhoffs, der als CEO den Umsatz der Bertelsmann AG verdoppelte, bevor er als Vorstandsvorsitzender KarstadtQuelle übernahm und sie unter dem klangvollen Namen Arcandor AG in den Abgrund zog.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 342 Seiten, 19,95 Euro

Große Sympathien hat der selbstverliebt auftretende Middelhoff wohl nie genossen. Seit er wegen seiner Verstrickung in dubiose Finanzgeschäfte mit der Oppenheim-Esch-Gruppe zu einem Fall für die Staatsanwälte wurde, scheinen abträgliche Informationen über ihn öffentlich auf spürbare Genugtuung zu stoßen. Mit anderen Worten: Autor Goetz hat es sich nicht gerade schwer gemacht, wenn er in seinem Holtrop die urböse Fratze des Kapitalismus zu porträtieren versucht.

Ist das Buch ein Schlüsselroman? Wohl eher ein Schlüsselpamphlet. Gleich der Anfang bespiegelt die angebliche Lieblingsbeschäftigung fieser Bosse: Holtrop alias Middelhoff feuert 100 zähe Seiten lang als Chef von Assperg alias Bertelsmann einen altgedienten Mitarbeiter. Später dann treten der ergraute Firmenpatriarch Assperg („gestört“) samt Ehefrau Kate („böse und freiwillig dumm“) auf. Sie residieren im Provinznest Schönhausen, in dem, wer will, den Bertelsmann-Sitz Gütersloh sehen kann.

Weiter: Zwar heißt der fiktive Vorstand der Deutschen Bank Hombach, er erinnert aber an den realen Josef Ackermann. Ein halb blinder Medienzar namens Binz erlebt den Zusammenbruch seines Hauses, so wie es ähnlich dem halb blinden Leo Kirch geschah. Auf den letzten 20 Seiten haspelt Goetz dann noch lieblos ab, wie Holtrop das Firmenimperium einer gewissen Gabriele Heintzen ruiniert, deren Schicksal dem der Quelle-Erbin Madeleine Schickedanz gleicht.

Hinzu kommen fade Scherze: Hitler beispielsweise lässt Goetz „im Führerbunkerzimmer BERND EICHINGER mit seiner Munitionspistole vor seinen Generälen“ herumfuchteln. Ist es nicht reichlich albern, das Zimmer nach einem Produzenten zu benennen, der 60 Jahre nach Hitler einen Film über dessen Tod drehte? Und was ist eine Munitionspistole?

Psychologisch hat Goetz den Roman überaus simpel gestrickt. Alle auftretenden Spitzenkräfte betrachten sich als unübertreffliche Alphamännchen, die mit ihrem Ego spielend das Olympiastadion füllen könnten. Jeder Konkurrent ist in ihren Augen folglich rettungslos unterlegen und also wahlweise ein „Depp“, ein „absoluter Superdepp“, ein „Trottel“ oder auch mal eine „Ratte“.

Selbst seinem Helden Holtrop kann Goetz wenig abgewinnen. Er beschreibt ihn als „Blender“, der im Grunde von Tuten und Blasen keine Ahnung hat. Sobald konkrete Kenntnisse verlangt sind, zeigen sich sofort dessen offensichtliche „Inkompetenz, Hysterie, Fahrigkeit und sein in nichts fundierter Hochmut“.

Kurz: Goetz hat keine Geschichte über Menschen geschrieben, sondern eine über Schießbudenfiguren. Natürlich mag es mitunter lustig sein, wie er verbal auf sie einballert: ein Jahrmarktvergnügen. Aber kein Roman.

Rainald Goetz:
Johann Holtrop
Abriss der Gesellschaft
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012
342 Seiten, 19.95 Euro
ISBN: 9783518422816

 

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Five Questions for Claire Vaye Watkins

About Battleborn / Über Geister, Cowboys

“If debut collections are meant to announce the arrival of talented new writers, Battleborn is a full-throated bugle call”, wrote New York Times about the first book by Claire Vaye Watkins. In Germany her stunning book will be published this week titled Geister, Cowboys. For my review in Focus ( Nr. 37/12, 10.September 2012) I asked her five questions. Here are her answers:

Wittstock: Your father is Paul Watkins, who was a member of Charles Manson’s “Family.” How did your father’s life influence your writing?

Claire Vaye Watkins: "Geister, Cowboys". Stories. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. Ullstein Verlag, 19,99 Euro

Claire Vaye Watkins: My father died when I was six years old. His death is my first memory. My relationship to him has been one of searching, wondering who he was, what kind of man he was. His involvement in the Manson Family was one part of the search process, but only one part. This is not unlike the way you construct a character. And for me, it has been an endless, fruitless search, because I will of course never know my father or know what kind of person he was. Good characters are like this, you are endlessly curious about them but they never fully reveal themselves.

Wittstock: How important is the feeling of being guilty for the characters of your stories?

Claire Vaye Watkins: The first thing I try to do is destabilize my characters. I figure if I can knock them off-kilter they might do something interesting. Guilt is one way to create an imbalanced equation both internally and externally, between characters. Another is to throw them into a new place; parenthood, a broken heart, a road trip with friends you secretly love. This is probably most intense for Joshua and Errol on “The Diggings”: they’re young, they’ve never left their family farm in Ohio, their father dies the same year gold is discovered in California and they light out Westward. They both struggle immensely. Joshua has a really terrible time adjusting to the goldfields. He’s afraid of the mountains, he misses his mother, he’s having to watch his brother descend into madness that he, Joshua, perhaps caused. There’s some element of this destabilization in every story: a young woman gets pregnant by the cokehead who broke her heart, a prospecting hermit finds a teenage girl left for dead in the desert, a family man comes upon debris that reminds him of a horrible incident from his youth. I work toward destabilization because it makes something happen–volatile people make interesting characters. Otherwise, I am not very good at making something happen. And we all have debts.

Wittstock: The landscape – especially the desert – of the american south-west is very important in your stories. Are the people of the south-west different than others?

Claire Vaye Watkins: When I write I start with place. Typically it’s an image that comes first. One image will get stuck in my brain, usually an image of the place. For one story, “The Past Perfect, the Past Continuous, the Simple Past,” I was thinking about the brothels near my childhood home, which my school bus used to pass every morning. It was the image of this really cutesy building–a Victorian painted pink and baby blue, with flower boxes and dormer windows, curlicue trim, a red light rotating atop the weather vane–sitting at the end of a very long road. I’ll carry an image around with me and it will attract others: the swath of the Milky Way cutting the sky, an albino peacock, a prostitute tanning by the pool ringed by pomegranate trees (they’re rarely subtle images, as you can see). I can see these quite clearly and the visions help me see what the character sees and get to know them that way. Though very often I don’t actually get started on the story until the language level comes to me. Eventually, after living with an image long enough, I’ll hear a few lines in my head–and I roll with those.

Wittstock: How important is the mythology of the Mojave desert for your writing?

Claire Vaye Watkins: In the desert place is mythology, and they’re both essential for my writing process. One of my professors at UNR once said, We are who we are because of where we are. I’ve carried that around with me for a long time. I can’t even begin to understand who a character is until I know where they are. Early on I decided each story would be set in Nevada, and I whittled the stories to more specificity from there. So it became not just Nevada, but a shack on the edge of the Black Rock Playa, or Lake Street in Reno, a tiny ranch in Verdi, a solo camping trip to the ghost town Rhyolite, car camping at Lake Tahoe with your ex-lover, controlling husband, and a newborn baby.

Wittstock: Danny, Julie and Iris in “Virginia City” do “funny, empty things” so they can be the “kind of funny empty people who do them.” They remind me to younger people I met in Berlin, Munich or Frankfurt. Do you think these three represent a special trait of this generation?

Claire Vaye Watkins: I’m certainly not the only person interested in the limits of cynicism, and irony, and hipness. David Foster Wallace’s suicide seems to have made this conversation essential. But those hipsters in “Virginia City” are not so unlike forty-niners playacting the adventures they read about in newspapers and pamphlets, or the kids in the Manson Family living on a movie set, doing things like having orgies at Denis Wilson’s house, to be able to say they’d done them. But of course the digital age has taken self-consciousness to an epic level. Iris and Danny and Jules aren’t just careening around Virginia City so they can say they did, they’re taking take pictures of themselves careening around Virginia City — drinking the the cemetery, drinking in the Silver Queen, drinking in the wedding chapel. They’re constantly documenting their exploits, sculpting and altering their narrative as they live it, almost in real time. Like many of us, everything they do has so many layers of performance that eventually neither they nor we can tell what they’re actually doing, what they’re actually feeling. The story is about the day when this is no longer enough. Is there anything authentic under all this obsession with authenticity?

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Guppe 47 geht in Pension

Kleines Haus, großes Dach

Heute erreicht die Gruppe 47 das Pensionsalter. Vor 65 Jahren erblickte am Bannwaldsee die dominierende Institution der bundesdeutschen Nachkriegsliteratur das Licht der Welt.

Eine Ortsbesichtigung

Am Säuling hat sich nichts geändert. Auch nicht am Tegelberg oder am Hennenkopf. Was sind schon sechzig Jahre für Felsriesen wie sie. Ansatzlos steigen sie aus den Feldern um den Bannwaldsee auf fast zweitausend Meter. Auch an St. Coloman, der Wallfahrtskirche, dürfte sich wenig verändert haben. Unwirklich schön steht sie in ihrer barocken Pracht samt Zwiebelturm inmitten der sattgrünen Wiesen vor dem Alpenhorizont. Aber sonst. Sonst ist nichts wie damals. Vermutlich lässt sich Vergänglichkeit nicht eindringlicher spürbar machen als durch die Verwandlung eines einst wichtigen, vielleicht historischen Ortes in einen Campingplatz.

Hier haben selbst die Häuser Räder. Hier ist alles beweglich, flüchtig, immer auf dem Sprung, hier bleibt nichts. Vielleicht ist das ja das passende architektonische Symbol für eine Epoche, die Flexibilität, Tempo, eifrigen Wandel zu ihren Lieblingstugenden zählt: der Campingplatz. In einem der wenigen festen Häuser hier, das sich dreißig Meter vorm Bannwaldsee unter sein Dach duckt wie unter einen zu großen Hut und das heute von Caravans umzingelt ist, kamen vor sechzig Jahren acht Männer, zwei Frauen und drei Paare für ein Wochenende zusammen, um sich aus ihren Manuskripten vorzulesen. Und um über das Gelesene zu reden. Mehr nicht.

Das Haus am Bannwaldsee: Ort des ersten Treffens der Gruppe 47 am 6. und 7. September 1947 (Rs-Foto)

Bald nannten sie sich Gruppe 47, verabredeten sich wieder in wechselnden Besetzungen an wechselnden Orten – auch sie beweglich, immer auf dem Sprung. Ihre Treffen wuchsen in wenigen Jahren zu der dominierenden literarischen Institution der Bundesrepublik heran. Der Aufstieg Heinrich Bölls begann mit dem Preis der Gruppe, der unbekannte Günter Grass las vor ihr aus seiner „Blechtrommel“ und war am Tag danach ein Schriftsteller mit Weltruhm.

Trainingslager der Demokratie ?

Die Debatten über die Gruppe finden bis heute kein Ende. Sie wird gefeiert und verteufelt, mal ist sie eine der unersetzlichen Pflanzschulen demokratischen Geistes in der jungen Bundesrepublik, mal eine Versammlung unbewusst antisemitischer Alt-Landser mit Neigung zum literaturpolitischen Machiavellismus. Auch das Hin- und Herwogen unserer Meinungen legt beachtliches Tempo vor.

„Unterkunft für 10 Personen ab 6.September reserviert“, telegrafierte Ilse Schneider-Lengyel am 25. August 1947 an Hans Werner Richter. Sie war Lyrikerin, Fotografin, Ethnologien und vor den Nazis emigriert. Zurückgekehrt suchte sie im Nachkriegsdeutschland wieder Anschluss an den Kulturbetrieb. Sie schrieb für Richters „Ruf“ und als der die Zeitschrift „Skorpion“ plante und künftige Mitarbeiter zu einer Art gemeinsamer Lektoratssitzung zusammenholen wollte, bot sie ihm ihr Haus am Bannwaldsee als Treffpunkt an. Sie hatte in den zwanziger Jahren bei dem Bauhaus-Lehrer Lászlo Moholy-Nagy studiert und in Paris einige der großen Surrealisten kennengelernt. Manche ihre Gedichte quollen über vor surrealistischen Bildern – jede Zeile ein Seziertisch, auf dem sich Nähmaschine und Regenschirm begegnen. Sie muss sich empfindlich fremd gefühlt haben, zwischen den jungen Leuten, die ihr da ins Haus kamen und auf Hitlers Schulen von der Moderne nichts gehört hatten.

Häuptling Richter

Niemand wird behaupten wollen, Hans Werner Richter, der zum unumstrittenen Spiritus movens, zum „Chef“ und „Häuptling“ der Gruppe wurde, habe je einen objektiven Blick auf ihre Mitglieder gehabt. Aber zumindest deren Anfänge hat er nie beschönigt. Später nannte er die Autoren, die er an den Bannwaldsee eingeladen hatte, „literarische Anfänger, Neulinge in der Kunst des Schreibens“. Unter dem Vorgelesenen gab es „keine Meisterwerke zu entdecken. Es sind Versuche, Anfänge, dilettantisch oft, aber hin und wieder auch Talent, ja Begabung verratend.“

Sofort jedoch erblickte das später legendäre Ritual der Gruppe das Licht der Welt: Die Lesung auf dem gefürchteten „Elektrischen Stuhl“ samt unmittelbar folgender, wenig schonungsvoller Stehgreif-Kritik, wie sie bis heute im Klagenfurter Wettbewerb um den Bachmann-Preis fortlebt. „Es gibt“, erinnerte sich Richter, „keine Zwischenrufe, keine Zwischenbemerkungen. Neben mir auf dem Stuhl nimmt der jeweils Vorlesende Platz. Es ist selbstverständlich, hat sich so ergeben. Nach der ersten Lesung – es ist Wolfdietrich Schnurre – sage ich: ‚Ja, bitte zur Kritik. Was habt ihr dazu zu sagen?’ Und nun beginnt, was keiner in dieser Form erwartet hatte: der Ton der kritischen Äußerungen ist rau, die Sätze kurz, knapp, unmissverständlich. Niemand nimmt ein Blatt vor den Mund.“

Das Wunder der Gruppe 47

Zum Rätsel, zum Wunder der Gruppe 47 gehört, wie es ihr gelang, aus diesen zufälligen, dürftigen Anfängen zur machtvollsten Vereinigung des bundesdeutschen Literaturbetriebs zu werden. Bis heute hat keine Akademie, kein Schriftstellerverband oder PEN-Club je wieder ihre Ausstrahlungskraft erreicht. Hans Werner Richter, dieses – wie Grass es nannte – „Genie der Freundschaft“, verstand es, eine nachwachsende Elite von Autoren und Kritikern an die Gruppe zu binden. Grass, Böll, Schnurre, Alfred Andersch, Günter Eich, Ilse Aichinger, Martin Walser, Ingeborg Bachmann, Enzensberger, Walter Jens, Hans Mayer, Marcel Reich-Ranicki, Joachim Kaiser.

Natürlich gab es in diesen ersten Nachkriegsjahrzehnten auch eine deutsche Literatur jenseits der Gruppe 47. Die großen Emigranten, Thomas Mann, Döblin, Brecht hatten sie als Podium nicht nötig und hätten sich eher die Zunge abgebissen, als für sie zu lesen. Auch jüngere Autoren wie Max Frisch oder Dürrenmatt machten ohne sie ihren Weg. Arno Schmidt weigerte sich, vor der Gruppe aufzutreten, obwohl Gerüchte umgingen, er stünde als ihr Preisträger so gut wie fest: „Ich eigne mich nicht als Mannequin.“

Man war für die Gruppe, man war gegen sie, wichtige Kritiker wie Friedrich Sieburg bekämpften sie. Aber gleichgültig ließ sie niemanden. Sie polarisierte die gesamte Buchbranche und rückte schon deshalb immer mehr in deren Mittelpunkt.

Wanderzirkus der Literatur

Zu den Erfolgsgeheimnissen der Gruppe zählt das Desaster, das die Nazis hinterlassen hatten. Nie zuvor waren Land und Kulturbetrieb so gründlich zerstört, nie war das Bedürfnis nach moralischer Wiederaufrichtung so groß. Doch in zwölf Jahren Diktatur hatte sich das alte literarische Leben desavouiert, es gab keine kulturelle Metropole mehr, keine eingeübten Mechanismen, über die Autoren zu Verlegern fanden, keine Orientierungspunkte, an denen Kritiker ihr Urteil hätten schärfen können. Da bot sich die Gruppe als Treffpunkt an, als Drehscheibe, als luftiges Wanderzentrum, in dem der Literaturbetrieb sich neu finden und erfinden konnte.

Wie für Gründerzeiten üblich, wurden auch in dieser dann Karrieren gemacht, die von nachgeborenen Autoren bestaunt, aber wohl nicht eingeholt werden können. In kurzer Zeit wurde ein mediales Aufmerksamkeits-Kapital aufgehäuft, das sich bis heute in vielen Fällen recht mühelos verzinst. Der Unmut mancher jüngerer Schriftsteller über die Gruppe 47 sollte also niemanden verwundern. Unterschiedlicher können Autoren-Generationen kaum sein: Die ältere hatte aus dem Krieg einen ungeheueren Erfahrungsdruck mitgebracht, aber oft wenig literarische Bildung. Für die heute jungen Autoren hält das Leben gewöhnlich alle literarischen Bildungschancen bereit, doch nur selten Erfahrungen, die sich in ihrer Dringlichkeit mit denen der Alten messen können.

Nonkonformisten im Gleichschritt

Zum ideologischen think tank wollte Richter seine Gruppe nie machen. Er wachte bei den Tagungen eisern darüber, dass sie jede politische Festlegung vermied – denn das hätte sich als Sprengsatz erweisen können, der die 47er auseinanderriss. Doch von Beginn an herrschte in ihren Reihen ein eher sozialistischer als sozialdemokratischer Konsens, und nachdem die Gruppe zur literarischen Großmacht aufstieg, beherrschte dieser Konsens lange auch das Klima der Buchbranche. Die Autoren, die sich in Adenauers Deutschland selbst gern als Nonkonformisten bezeichneten, hatten einen neuen geistigen Konformismus geboren, der erst in den neunziger Jahren auseinanderzubröckeln begann.

Das Ende lässt etwas von Größe und Geist der Gruppe erkennen. Ungezählte Kulturinstitutionen leben fort und fort, obwohl ihre Funktion längst erfüllt und ihre Zeit vorbei ist. Richter dagegen rief, nachdem studentenbewegte Demonstranten 1967 gegen ein Gruppentreffen protestierten, seine Autoren nicht wieder zusammen. Einige von ihnen hatten sich gleich eilfertig mit den Demonstranten solidarisiert. Es war überdeutlich, dass der allmähliche Abstieg der Schriftsteller als öffentliche Orientierungsfiguren und der Aufstieg anderer Vordenker begonnen hatte. Da die Gruppe in diesem Augenblick die Kraft zu einem selbstgezogenen Schlussstrich fand, vermied sie, zu einem Schatten ihrer selbst zu verkümmern und wurde damit endgültig legendenfähig.

Kraft zum Schlussstrich

Ilse Schneider-Lengyel, in deren Haus alles begann, blieben zu diesem Zeitpunkt nur noch wenige Jahre. Sie hatte an den Treffen bis 1950 und ein letztes Mal 1957 teilgenommen. Ihr Gedichtband „september-phase“ erschien 1952, doch gelang es ihr nicht, sich wieder einzufädeln in den literarischen Betrieb. Sie lebte allein, rauchte viel, schrieb wenig und starb 1972 in einer psychiatrischen Klinik.

Die Leute vom Bannwaldsee haben ihr eine Woche vor dem 60. Gründungsjubiläum der Gruppe eine kleine Erinnerungsfeier im Festzelt ausgerichtet. Der 2.Bürgermeister, ein massiger Mann mit beiden Beinen sehr fest auf dem Boden, erinnerte sich an sie, die oft auf dem Motorrad durch den Ort fuhr, als er noch ein Bub war. Danach spielte ein Quartett, wurden einige ihrer Gedichte gelesen, kantige, spröde Verse, die sich aneinander reiben wie an Sandpapier. Dazu trommelte Regen aufs Zeltdach, auf die Caravans ringsum und auf das kleine Haus am See mit seinem großen Dach.

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Verteidigung der Missionarsstellung

Haben Sie Spaß – lesen Sie einen guten, grundkomischen Roman!

Wolf Haas wurde bekannt, ja berühmt mit seinen sieben Kriminalromanen um den Detektiv Simon Brenner. Ein Detektiv, der von Migräne geplagt wird, nicht gut denken und fast gar nicht reden kann, aber die bizarrsten Fälle letztlich löst. Drei der Brenner-Krimis wurden verfilmt, dreimal bekam Wolf Haas den Deutschen Krimi-Preis. Jetzt aber hat er einen neuen Roman geschrieben, der in ein anderes Genre zu führen scheint. Der Titel lautet „Verteidigung der Missionarsstellung“. Es geht aber gar nicht um Sex, sondern um Liebe, das allerdings verschärft komisch mit hoher Pointendichte. Und klug ist das Buch außerdem.

Am 4. September um 7:41 Uhr hatte ich die Chance, den ausgeschlafenen Hörern des MDR wegen dieses Romans sechs Minuten lang in den Ohren zu liegen. Das habe ich natürlich gern gemacht, denn wenn schon mal ein lesbares Buch da ist, dann soll man diese frohe Kunde auch so weit wie möglich unter den Literaturbedürftigen verbreiten. Es steht aber bedauerlicherweise zu befürchten, dass um 7:41 Uhr noch nicht alle Büchersäufer aufnahmefähig sind für derlei gute Nachrichten. Deshalb hier der Link zu meinem Lobpreis, der als MDR-Podcast zu hören ist:

http://c22033-o.p.core.cdn.streamfarm.net/22033mdr/ondemand/4100mp3dld/digas-404b5eb0-92be-4a12-bfcc-ba1f09a6f918.mp3

Wolf Haas: "Verteidigung der Missionarsstellung". Verlag Hoffmann und Campe, 19,90 Euro

 

 

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Billy Collins – 2 komische Gedichte

Lennart, Litany und Lenyard

Mein Sohn Lennart hat seine Sommerferien in England verbracht, als Traceur offenbar sämtliche Dächer von Cambridge bezwungen und zwei ebenso kluge wie komische Gedichte des Amerikaners Billy Collins von dort mitgebracht. Ich kannte Collins bislang nur als den 2001 bis 2003 amtierenden Poet Laureate der Vereinigten Staaten. Seine Lyrik selbst ließ ich mir bislang entgehen – ein Fehler, den ich künftig korrigieren möchte, denn diese beiden Gedichte sind derart vielversprechend und witzig, dass ich mehr von ihrer Sorte kennenlernen will. Wie Lennart stammen beide Gedichte aus der L-Section und sind komfortablerweise als Video verfügbar.

Hier: Billy Collins “The Lenyard”

 

Hier: Billy Collins: “Litany”

Und nun die Textfassungen von “The Lenyard” und “Litany”:

http://www.billy-collins.com/2005/06/the_lanyard.html

http://www.poemhunter.com/poem/litany/

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Philip Larkin: 90. Geburtstag

Plädoyer für das literarische „Pleasure Principle“

Heute vor 90 Jahre wurde Philip Larkin (1922-1985) geboren. Er war ein großartiger Lyriker, der nur wenige Gedichte veröffentlichte, gleichwohl aber als einer der bedeutendsten englischen Dichter des 20. Jahrhunderts gilt. Gemeinsam mit seinem Freund, dem Erzähler Kingsley Amis, den hierzulande viele nur als Vater des Romanciers Martin Amis kennen, ebnete er der englischen Literatur wichtige neue Wege. Deshalb hier eine Erinnerung an Philip Larkin, an Kingsley Amis und an die nach wie vor erstaunliche breite Kluft zwischen englischer und deutscher Literatur

Oxford 1941: Zwei Studenten, beide 19 Jahre alt, begegnen sich zum ersten Mal. Nach einem mit dem Zeigefinger der rechten Hand angedeuteten Pistolenschuss greift sich der eine ohne Zögern an die Brust, verzerrt das Gesicht in Todesqualen, bricht zusammen, springt dann wieder auf und imitiert seinerseits Schussgeräusche, mal mit, mal ohne Querschläger. Der andere ist tief beeindruckt: „Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, mich in Gegenwart eines Talents zu befinden, das größer war als das meine.“

Eine etwas alberne Anekdote, zugegeben, aber sie gewinnt ihren Reiz durch die Tatsache, dass aus den beiden bald eng befreundeten Studenten zwei der vielleicht einflussreichsten Schriftsteller der englischen Nachkriegsliteratur wurden: Philip Larkin (der Mann mit den ausgeprägten Empfinden für das eigene Talent) und Kingsley Amis (der Mann, mit der Begabung für Schussgeräusche).

Philip Larkin (1922 – 1985) wollte Romancier werden und entwickelte sich zu einem der bedeutendsten und beliebtesten Lyriker des Landes. Kinsley Amis (1922 – 1995) begann mit Gedichten und wurde einer der wichtigsten und meistgelesenen Erzähler Englands. Auch wenn Larkin seinen Wohnort Hull später kaum je verließ, verloren sich die beiden zeitlebens nicht aus den Augen: Amis macht Larkin zum Paten seines ersten Sohnes Philip (der zweite Sohn Martin Amis gehört heute zu den prominentesten Schriftstellern des britischen Literaturbetriebs) und hielt 1985 die Grabrede auf Larkin. Ihre jeweils ersten Romane sind 2010 in deutscher Übersetzung erschienen und beide Bücher bieten nicht nur beträchtliches Lesevergnügen, sondern lassen zugleich erkennen, welche diametral entgegengesetzten Wege die Literatur in Deutschland und Großbritannien nach 1945 für lange Zeit beschritt.

Jill und Jim

Sowohl Larkin als auch Amis siedelten ihre Debüts im Universitäts-Milieu an. Die Hauptfigur aus Larkins Roman Jill ist Student in Oxford und man spürt sofort die Atmosphäre der typisch englischen College- und Internatsgeschichten, von der noch heute J. K. Rowlings Harry-Potter-Bücher zehren. Der Held aus Amis’ Roman Jim im Glück ist Assistent eines halb vertrottelten Professors an einer Provinz-Uni und man kann das Buch als einen der ersten Campus-Romane betrachten, wie sie bis heute David Lodge oder Alison Lurie schreiben und wie sie Dietrich Schwanitz in Deutschland heimisch zu machen versuchte.

Larkin war das Opfer einer unerträglichen Kindheit: Sein Vater muss ein Monster an Pedanterie und seelischer Brutalität gewesen sein. Als hoher Beamter Coventrys sympathisierte er mit den deutschen Nationalsozialisten (!). Zwar förderte er seinen Sohn Philip nach Kräften, verachtete aber Frau und Tochter offen und schuf in der Familie ein Klima von Kälte und Menschenfeindschaft. Wenn also Larkins erster Roman Jill nicht gerade überbordet vor Lebenszuversicht, sollte das niemanden wundern.

Sein Held Jack stammt aus einfachen Verhältnissen und kommt durch ein Stipendium an eine der traditionsreichen Schulen Oxfords. Dort bewundert er den sorglosen Snobismus seiner Mitschüler aus vermögendem Hause, doch die machen sich nur lustig über ihn. In seiner Not erfindet er sich eine Freundin, tauft sie Jill, schreibt sich selbst in ihrem Namen Briefe und führt für sie ein mädchenhaftes Tagebuch – bis ihm eine Schülerin namens Gillian begegnet, die der herbei phantasierten Jill bis aufs Haar gleicht.

Das klingt zunächst wie der Entwurf zu einem Entwicklungsroman: Aus einem noch unsicheren jungen Mann wird nach Ablenkungen von außen (hochnäsige Mitschüler) und innen (ersehnter Geliebte) schließlich ein gefestigter Charakter mit Uni-Abschluss und Traumfrau Gillian. Doch so heiter und hoffnungsfroh geht es in Larkins literarischem Kosmos nicht zu: Sein anfangs so verzagter Hauptdarsteller ist auch am Ende verzagt und ob er sein Mädchen je bekommt, bleibt offen.

1947, nur ein Jahr nach Jill, veröffentlichte Larkin ein ähnlich gestrickten Roman A Girl in Winter: Hier ist es eine Bibliothekarin, die sich aus ihrem tristen Leben in die schwärmerische Erinnerung an einen Urlaubsflirt flüchtet, sich dadurch immer stärker isoliert und so in ihrem freudlosen Alltag steckenbleibt. Bei aller Ironie und erzählerischen Präzision Larkins, die seine Bücher zu einem intellektuellen Genuss machen, vermitteln sie einen recht skeptischen Blick auf die Glücksmöglichkeiten der unglücklich Geborenen.

Klassiker der komischen Romanliteratur in England

Schon der Titel Jim im Glück verrät, dass es bei Kingsley Amis optimistischer zugeht. In England gilt sein Erstling als moderner Klassiker der komischen Romanliteratur. Amis hat ihn Larkin gewidmet und hatte Grund dazu: In den Briefen der beiden lässt sich nachlesen, mit welcher Sorgfalt und Ausdauer Larkin seinen Freund als – unbezahlter – Lektor bei der Arbeit an dem Manuskript beriet.

Kingsley Amis stilisiert den Titelheld seines Buches nicht zum Waisenknabe: Jim hat spürbar mehr Interesse am Bier als an seiner wissenschaftlichen Arbeit und dazu ein beeindruckendes Talent, sich in sagenhaft peinliche Situationen zu bringen. Komisch wird die Geschichte nicht zuletzt deshalb, weil Amis das alte universitäre Machtgefälle zwischen Lehrstuhlinhabern und ihren Assistenten mit gnadenloser Offenheit beschreibt. Jim wird von seinem Professor rücksichtslos für dessen schrullige Hobbys eingespannt und Jim antwortet darauf mit einem mühsam verborgenen, flammenden Hass, dem er durch groteske Ersatzhandlungen heimlich Luft macht.

In einem Punkt sind sich beide Romane auffällig ähnlich: Die Figuren orientieren sich in Liebesdingen nicht an ihren Leidenschaften, sondern an Konventionen: Sie tun, was ihnen – angeblich – die Situation diktiert, anstatt den eigenen Impulsen zu folgen. Larkins Held droht darüber seine große Liebe zu versäumen und Amis’ Held besinnt sich erst im letzten Moment eines besseren. Von derart wohlerzogenen Rücksichten hielten diese beiden Schriftsteller rein gar nichts, sie gaben keinen Pfifferling auf den so genannten Guten Ton: Larkin inszenierte sich lustvoll als verbohrter Einsiedler und Menschenfeind, Amis machte nie ein Geheimnis aus seinem ausgeprägten Bedürfnis nach Alkohol und Sex.

Für das Publikum, das aus Vergnügen liest

Gleiches galt für sie ebenso in literarischen Fragen, auch hier gaben sie nicht viel auf den Guten Ton ihrer Zeit. Denn die stand ganz im Zeichen einer Moderne, wie sie von Avantgardisten wie Ezra Pound, James Joyce oder T. S. Eliot in der ersten Jahrhunderthälfte geprägt worden war. Die universitäre Welt, der auch Larkin und Amis entstammten, lag der hochgradig verschlüsselten und kommentierungsbedürftigen Literatur zu Füßen.

Doch die beiden hatten nur Spott und Verachtung für sie übrig – und waren nicht nur beim Publikum, sondern auch bei vielen Kritikern erfolgreich damit. Larkin verkündete das „Pleasure Principle“, also das Spaß- und Genussprinzip der Poesie und gewann Zehn-, ja Hunderttausende von Lesern für seine keineswegs gefälligen, immer aber allgemeinverständlichen Gedichte. Amis wiederum war sich als anerkannter Romancier nicht zu schade, Science Fiction-Stories oder nach dem Tod von Ian Fleming einen Fortsetzungsband für dessen James-Bond-Serie zu schreiben.

Schon weil die Nazis die literarische Moderne verfolgt und verboten hatten, war sie in Deutschland in den ersten Nachkriegsjahrzehnten nahezu sakrosankt. In England dagegen wirkte sie eher wie ein angestaubtes Relikt der Vorkriegsjahre, wie ein kulturelles Highbrow-Überbleibsel der alten Klassengesellschaft, die mit dem Kriegsende endlich überwunden werden sollte.

Larkin und Amis waren Orientierungsfiguren dieser Rebellion gegen ein allzu akademisches Verständnis von Literatur. Larkin schrieb damals: „Wenn ein Dichter das Publikum verliert, das aus Vergnügen liest, hat er das einzige Publikum verloren, das zählt.“ In Deutschland hätte sich ein Autor mit solchen Sätzen schnell ins Abseits manövriert. In England stiegen Larkin und Amis zu den höchsten Ehren ihres Landes auf.

Kingsley Amis:
Jim im Glück. Roman
Deutsch von Steffen Jacobs
Haffmans Verlag bei 2001, Berlin
416 Seiten, 19,90 €
ISBN 978-3-942048-10-1

Philip Larkin:
Jill. Roman
Deutsch von Steffen Jacobs
Haffmans Verlag bei 2001, Berlin
398 Seiten, 19,90 €
ISBN 978-3-942048-11-1

 

Und hier die Stimme von Philip Lakin:

http://www.youtube.com/watch?v=yDp234p_fCM

 

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Musik beim Lesen (3) Chet Baker

Chet Baker: Chet

Zugegeben, die Aufnahmen sind weiß Gott nicht neu, sondern von Dezember 1958/Januar 1959. Aber die Ruhe, die aus ihnen spricht, ist immer von brandfrisch. Also, ich kann die CD, die jetzt im Mai wieder einmal erschienen ist, nur dringend empfehlen. Wenn ich beim Lesen nicht zur nötigen Ruhe finde, ist das mein Geheimtipp. Hilft fast immer.

The Lyrical Trumpet of Chet Baker / in-akustik GmbH & Co. KG / Jazz Wax Records

 

 

 

 

 

 

Hier noch als Kostprobe: Alone Together

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Michael Maar: “Die Betrogenen” – Eine Besprechung

Die wunderbare Eitelkeit des Literaturbetriebs

Sehr empfehlen möchte ich Michael Maars Roman Die Betrogenen, der vor wenigen Tagen im C.H.Beck Verlag erschien. In der Sendung MDR Figaro hatte ich am 27. Juli 2012 um 7.40 Uhr (!) die Gelegenheit, das Buch im Gespräch vorzustellen und zu loben – eine Buchbesprechung im buchstäblichen Sinne. Allerdings ist 7.40 Uhr nicht für jedermann die Zeit, zu der er sich literarischen Gesprächen widmen mag. Deshalb hier als zeitloser Podcast:

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Michael Maar:
Die Betrogenen. Roman
Verlag C.H. Beck, München 2012
142 Seiten, 16,95 Euro
ISBN: 978-3406639531

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