Wehmütiger Rückblick auf 2001-Kultur

Kafka komplett zum Preis einer Packung Kaffee

Der Verlag und Versand “Zweitausendeins” steht für eine ganz besondere, eigenwillige Medien-Kultur. Man kann in ihr so etwas wie den strikt antiautoritären und lebenslustigen Gegenentwurf zur vielgerühmten “Suhrkamp-Kultur” der alten Bundesrepublik sehen. Gestern wurde bekannt, dass “Zweitausendeins” bis Ende 2016 alle seine Buchhandlungen schließen will/muss. Das Unternehmen wird sich auf den Buchversand konzentrieren. Hier ein Rückblick auf die “2001″-Kultur nicht ohne Nostalgie.

Natürlich wollen Verleger bedeutende Bücher machen, Bücher von denen man noch nach Jahren spricht. Natürlich müssen Verleger ihre Bücher verkaufen können, müssen fähig sein, aus Geist Geld zu machen. In Tiefsten ihres Herzens aber wollen Verleger zu all dem noch etwas anderes: Sie möchten erkannt werden, sie möchten sich mit ihrer Arbeit vor den Augen der Leser erkennbar machen. Das ist die Krönung eines Verlegerlebens: Nicht nur ein gutes Programm gut zu verkauft, sondern ihm dazu noch die persönliche intellektuelle und ästhetische Physiognomie mitzugeben, einen ureigenen literarischen Charakter, der vom Publikum angenommen, geschätzt, ja genossen wird.

Zu Ehren ihrer Firma sei, behauptet die 2001-Crew, vor 11 Jahren weltweit ein ganzes Jahr nach ihnen benannt worden

Das beliebteste Beispiel für solche verlegerische Meisterschaft ist hierzulande die „Suhrkamp-Kultur“ Siegfried Unselds. Viel seltener wird von einem anderen derartigen Frankfurter Geniestreich gesprochen, von dem 2001-Versand und -Verlag, den Lutz Reinecke prägte, 2006 verkaufte und der jetzt unter neuer Leitung seine Buchhandlungen schließt. Dabei ist die „2001-Kultur“ Reineckes, der 1983 bei der Heirat den Namen Lutz Kroth annahm, in vielerlei Hinsicht ein überzeugender Gegenentwurf zur Suhrkamp-Kultur. Es ist eine wüste Medien-Melange, die weit über ein Buchprogramm hinausreicht, Musik, Comics, Filme, Software mit einschließt, aber dennoch unverwechselbar bleibt und einen spezifischen kulturellen Stil, wenn nicht gar Lebensstil repräsentiert.

Zu den kantigen Details am Rande gehört, dass 2001 ein Spross vom Stamme Suhrkamps ist. Lutz Kroth, damals noch Reinecke, hatte als junger Buchhändler einen von Suhrkamp ausgeschriebenen Wettbewerb um die effektvollste Schaufenstergestaltung gewonnen. Er beeindruckte Unseld, wurde engagiert, stieg zum Vertriebschef des Verlags auf und verließ ihn ausgerechnet im Jahr 1968. Einen Schritt, der programmatisch verstanden werden kann. Denn Suhrkamp als Vorzeigeunternehmen der antiautoritären Studentenbewegung zu betrachten, war zumindest aus der Innensicht des Verlages immer ein Irrtum. Der Patriarch Unseld gehörte zum Geschlecht der Alpha-Männchen und führte das Personal seines Hauses mit eher fester als pfleglicher Hand.

Reinecke dagegen arbeitete zunächst kurz für die Satirezeitschrift Pardon. Dann gründete er mit Walter Treumann den 2001-Versand, der sich als ein betont gelassenes, allem autoritären Gehabe abholdes, lustbetontes Unternehmen jenseits der Hochkultur darstellte – und damit von Beginn an als Gegenbild zu den traditionellen Verlagen auftrat. Damit stieß er naturgemäß auf gute Resonanz in einem Milieu, das gerne als „links“, „alternativ“ oder später “grün” klassifiziert und an den subkulturellen Rand der Gesellschaft gerückt wurde, das aber, wie sich zeigen sollte, keineswegs randständig war.

Die Verbindung zwischen 2001 und alten "Pardon"-Mitarbeitern wie Pit Knorr und Robert Gernhardt besteht fort. Hier frühe Radio-Sketche der beiden Frankfurter Komik-Riesen: "Hörrohr klar zum Gefecht", 3 CDs zum Preis von 19,99 Euro

2001 startete nicht als Verlag, der Bücher produzierte, sondern als Versand, der die unter-schiedlichsten Produkte aus dem Umfeld der Zeitschrift Pardon verkaufte, Spiele, Gimmicks oder Schallplatten („Wir liefern jede in Pardon erwähnte LP – Karte genügt“). Doch schnell weitete sich das Programm aus, es wurden ein Faksimile-Reprint der von F.W. Bernstein, Robert Gernhardt und F.K. Waechter gestalteten Pardon-Beilage Welt im Spiegel ins Angebot genommen, dazu Comics der amerikanischen Underground-Zeichner Robert Crump und Gilbert Shelton, kubanische Revolutionshymnen („Kampflieder voller Liebe, Heiterkeit u. Freiheitsdurst“), aber auch Sex-Zeichentrickfilmchen („Schneeflittchen unter den sieben Zwergen“) und was man sonst noch als Rebell gegen Bürgertum und Establishment in jenen Jahren dringend brauchte.

Ein wichtiger Bestandteil dieser Mixtur war aber immer auch Literatur von höchstem Rang. Reinecke kaufte Restbestände bedeutender Titel aus den Verlagslagern oder Großantiquariaten auf, um sie dem Publikum seines Versands – zu stark herabgesetzten Preisen – anzuempfehlen. Mit bemerkenswertem Erfolg. Das E- und U-Kultur keine Gegensätze, sondern Ergänzungen sind, die tadellos nebeneinander im Bewusstsein jedes an seiner Gegenwart interessierten Zeitgenossen Platz finden, musste sich Reinecke nicht erst von den Propheten der Postmoderne vorbeten lassen. Scheinbar schwer Verkäufliches von Marcel Proust, Arno Schmidt, William Shakespeare oder Suhrkamps Bertolt Brecht fand so preisermäßig seinen Platz im Medienarsenal mancher studentenbewegten Wohngemeinschaft.

Das aktuelle "Merkheft". Es wird inzwischen ergänzt durch regelmäßige "Merkmails"

Die wichtigsten Verständigungsmittel des Versands mit seinen Kunden wurden dabei so genannte „Wimmelanzeigen“. Sie waren von dem Designer Gunter Rambow in schwarz-weiß und winziger Schrift als wirkungsvoller Kontrast zur übrigen bunten und von Großbuchstaben dominierten Reklamewelt konzipiert worden. Dazu verschickte 2001 an sämtliche Kunden in seiner Adressenkartei alle zwei Monate ihren kleinformatigen Katalog namens „Merkheft“, der wie ein gedruckter Flohmarkt ein schier bodenlose Füllhorn von Buch- und Schallplattenangeboten ausschüttete. Getextet in einem kunstvollen, nur scheinbar der Umgangssprache abgelauschten Sound, sorgte diese, in einer Auflage von bis zu einer halben Million verbreitete Broschüre für Unabhängigkeit vom Wohlwollen der Feuilletons. Was immer 2001 verkaufen wollte, der Versand konnte es seinen Interessenten schnell, ohne Umwege und präzise nach den eigenen Vorstellungen anpreisen.

Auch heute noch im aktuellen Programm: Gesammelte Gedichte von Wolf Wondratschek für nur 9,90 Euro

Der erste Schriftsteller, der die besonderen Qualitäten von 2001 begriff, war Wolf Wondratschek. 1974 bot er Reinecke sein neues Lyrikmanuskript Chucks Zimmer an. Der griff zu und gerade mal 5 Wochen später konnten die Kunden bereits die fertigen Bücher bei 2001 bestellen. 30.000 Exemplare wurden an die Leser gebracht – ein für Lyrikbände astronomisches Ergebnis. Bald darauf schloss “Zweitausendeins” Kooperationen mit dem Verlag „März“, später dann mit den Verlagen „Rogner & Bernhard“ , „Haffmans“ und “Tolkemitt”, die ihre Programme bis heute über den Versand vertreiben.

Zu den erstaunlichsten Leistungen von 2001, die man in doppelter Hinsicht verlegerische Großtaten nennen kann, gehören Zeitschriften-Reprints. 20 Hefte des Kursbuchs, 20 Jahrgänge der Akzente oder die vollständige, 24.500-seitige Fackel von Karl Kraus druckte Reinecke in kleinem Format nach und verkaufte sie in Auflagen, die jedem Herausgeber einer Literaturzeitschrift ekstatische Lustschreie entlocken können. Sogar das Gesamtwerk von Johann Sebastian Bach auf 99 LPs für 699 DM bot er an oder das Lebenswerk des Dirigenten George Solti auf über 200 LPs für 1299 DM. Und fand tatsächlich genügend Musikliebhaber mit Vollständigkeits-Sehnsüchten und Komplettheits-Wahn, die ihm diese gigantomanen Editionen abnahmen.

Das größte 2001-Projekt aber erschien 1980. Reinecke hatte einen Tipp bekommen und beschaffte sich in den USA eine 1400 Seiten schweren Studie der amerikanischen Regierung über die Lebensbedingungen der Erde bis zum Jahr 2000: „Umweltschützer wurden damals als Spinner diffamiert. Und hier war zum ersten Mal aus regierungsamtlichen Quellen ein Beleg, dass die Erde gefährdet wird durch unseren zerstörerischen Lebensstil.“ Reinecke ließ den Materialberg übersetzen, brachte ihn unter dem Titel Global 2000 heraus und schließlich mit einer Gesamtauflage von über einer halben Million Exemplaren unter die Leser. Ein Bestseller, ja mehr noch: ein Blockbuster des ökologischen Bewusstseins hierzulande.

Das Buch über 2001 bei 2001: Mathias Brökers beschreibt die ersten 40 Jahre Verlagsgeschichte zum Preis von 3,90 Euro

Im Januar 2007 gab Lutz Kroth, ehemals Reinecke, bekannt, dass er sich noch vor seinem 65. Geburtstag in den Ruhestand begeben werde. Er wolle versuchen, wie er sagte, sich „aus dem Arbeitskäfig auszuwildern in das wirkliche Leben.“ Das Unternehmen 2001 wurde vom Gründer des Filmverleihs Kinowelt Michael Kölmel übernommen und macht weiterhin und bis heute haarsträubende Angebote: Das Gesamtwerk von Franz Kafka zum Beispiel in einem Band für den Preis einer Packung Kaffee, das Gesamtwerk Mozarts auf 170 CDs für den Preis einer Tankfüllung. Man fasst es nicht.

Doch die Geschäfte gehen offenbar nicht mehr so gut: Laut Wikipedia wurde Anfang 2010 der Verlags- und Marketingstandort Hamburg aufgegeben, um Kosten zu senken, und die Verwaltung in Frankfurt konzentriert. Anfang Juni 2010 einigten sich Geschäftsführung und Betriebsrat zur Abwendung der drohenden Insolvenz auf ein Sanierungskonzept, das unter anderem die Entlassung von 51 der 116 Beschäftigten und die Aufgabe der eigenen Kundenbetreuung vorsieht. Im Jahr 2011 verlegte Zweitausendeins seinen Firmensitz von Frankfurt am Main nach Leipzig. Jetzt werden die Läden geschlossen. Es ist ein Jammer. Bleibt zu hoffen, dass sich die 2001-Kultur im Netz als überlebensfähig erweist.

Veröffentlicht unter Buchmarkt | Verschlagwortet mit , , , , , , , , , , , , , , , , , | 1 Kommentar

Komiker mit 64: Otto Waalkes hat Geburtstag

When I’m Sixty-Four

Heute vor 64 Jahren wurde Otto Waalkes, der Vater der neuen deutschen Comedy, im ostfriesischen Emden, Stadtteil Transvaal, geboren. “Will you still need me / Will you still feed me / When I’m Sixty-Four”, sangen einst vier Philosophen aus Liverpool. Fragen, die es in sich haben an einem Geburtstag, der es in sich hat. Deshalb soll die Suche nach den Ursprüngen eines großen Komikers hier beginnen mit einem höchst autobiographischen von Waalkes über die eigenen Ursprünge. Ein Gedicht, das der Musik jener vier Weisen aus England ebenfalls verpflichtet ist.

Mein Transvaal

Ein Gedicht von Otto Waalkes
(Zu singen auf die Melodie des Beatles-Songs „Penny Lane“ von John Lennon und Paul McCartney)

In meiner Heimatstadt in Emden gibt es ein Quartier
Die Eingebor’nen nennen es Transvaal
In diesem ganz normalen Kral
Lebte ich einmal

Godfried-Bueren-Straße heißt’s, wo ich geboren bin
In einem Reihenhaus aus rotem Klinkerstein
Ich ritzte da meinen Namen rein
Ja, das musste sein
In Fiftynine

Mein Transvaal, denk ich an dich, dann wird mir heiß
Das singe ich ganz laut und denke leis’
Was soll der Scheiß?

An der Ecke gab’s ne Kneipe Zum Klabautermann
Da versoffen die Matrosen Haus und Boot
Und dann torkelten sie an Bord im Morgenrot
Müde und halbtot

Mein Transvaal, denk ich an dich, dann wird mir heiß
Das singe ich ganz laut und denke leis’
Was soll der Scheiß?

Nachbar Kuhlmann hatte Töchter, die war’n wunderschön
Auf dem Hinterhof ham wir Versteck gespielt
Dabei hab ich ihnen ganz gezielt
Untern Rock geschielt

Bei dem kleinen Luftschutzbunker war ne Bäckerei
Da gab es manchmal Brötchen, manchmal nicht
Bäcker Behrens tat nicht immer seine Pflicht
Denn er hatte Gicht
Bedauerlich

Mein Transvaal, denk ich an dich, dann wird mir heiß
Das singe ich ganz laut und denke leis’
Was soll der Scheiß?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Klinker kann sehr kalt sein

Erinnerung an einen Ausflug nach Emden-Transvaal / Von Uwe Wittstock

Die Bäckerei ist lang schon geschlossen, der Bäcker tot. Aber der kleine Bunker ist noch da. Die Bäckerwitwe wuchtet den Elektromäher in den Vorgarten, obwohl der Rasen kurz ist wie eine Nagelbürste. Ja, an den jungen Otto Waalkes erinnert sie sich: „War so’n Hampelmann.“ Ihr Mann und sie standen immer im Laden. Nix da Gicht. Ihre Töchter sind mit Otto Rollschuh gelaufen, tagelang. Drei Häuser weiter rauf, rechter Hand, hat er gewohnt. Dann schimpft sie noch über den Bunker. Sie zeigt eine Spanne zwischen Daumen und Zeigefinger: Soo eine Akte hat sie im Haus, kann sie mir gern holen. Aber wegreißen will die Stadt den Bunker nicht, dabei steht er auf ihrem Grundstück.

Jugendzentrum Emden-Transvaal

Maria sitzt in der „Pinte“ an der Dollartstraße. Die „Pinte“ ist, sagt Maria, eine Arbeiterkneipe. Sie macht einen selbst gezimmerten Eindruck: ein Schankraum hinter einem Kiosk, kein Zapfhahn, nur Flaschenbier, zwei Daddelautomaten, ein Kicker, ein Fernseher, ein Tisch, an dem ein paar Männer um Korn würfeln. Maria kann sich bestens an Otto erinnern. Sie ist drei Jahre jünger als er. Er war Betreuer ihrer Gruppe im Jugendheim: „Hat bei jeder Gelegenheit auf seiner Gitarre geklimpert und Faxen gemacht.“ Am schönsten aber war, sagt Maria, ohne dass ich sie fragen müsste, das Versteckspiel in den Hinterhöfen: „Nachts mit Taschenlampe“. Eins, zwei, drei für Eckstein, alles muss versteckt sein, summt sie mit den Händen vor den Augen. Davon, dass die Jungs den Mädchen untern Rock schielten, erzählt sie nichts. „Godfried-Bueren-Straße 56, da wohnte Otto, weiß ich noch.“

Die Godfried-Bueren-Straße ist lang und schnurgerade. An ihrem oberen Ende, näher zur Innenstadt Emdens, stehen kleine Klinker-Einfamilienhäuser, an ihrem unteren Ende kleine Klinker-Wohnblocks mit je vier Parteien. Der ganze Stadtteil Transvaal wirkt wie ein Häuser-Fließband in Klinker-Rot. Mal drei- oder vierstöckige Mietskasernen, mal ein- oder zweistöckige Reihenhäuser, immer Klinker. Zusammen mit dem Rasen der Vorgärten, den Hecken und Bäumen in den Höfen ergibt das eine Welt ganz aus rot und grün. Es sind stille Straßen, in denen man das Meer riecht und ab und zu das Warnhorn der Güterzüge vor den Bahnübergängen hört.

Von Marias Erinnerungen gelenkt, gehe ich an der Ottifanten-Plastik vorbei, das Otto seinem Transvaal gestiftet hat, nehme in der Godfried-Bueren-Straße die Parade der geraden Hausnummern ab und entdecke zwischen der 60 und der 48 eine Straßenkreuzung, aber kein Haus mit der Nummer 56. Gelenkt von den Erinnerungen der Bäckerwitwe, zähle ich von der alten Bäckerei drei Häuser weiter rauf, finde Haus 46, dort aber kein Anzeichen, dass hier jemals eine Familie Waalkes gelebt haben könnte, gesegnet mit einem blonden, faxenmachenden Sohn, der einen Schlag hatte bei den Nachbarstöchtern nicht nur beim Rollschuhlaufen.

„Otto Waalkes?“ brummt der gebeugte ältere Mann vor Nummer 62, der im Blaumann, mit Bartstoppeln und Friesenplatt ein bisschen aussieht wie ein Arbeiterdenkmal: „Klar, da.“ Er deutet auf Nummer 68. Dort tritt, sobald ich ankomme, der Hausherr aus der Tür und wehrt, sobald ich frage, mit voller Gewissheit ab: Nein, nein, ganz falsch, auf der anderen Straßenseite wohnte Otto, da hinten irgendwo – und holt rufend Bestätigung ein bei der Nachbarin, die gerade vom Einkauf heimkommt. Sie steht unter ihrer Hausnummer 70 und stimmt fröhlich zu: Felsenfest stehe, dass Familie Waalkes schräg gegenüber gewohnt habe in der Nummer 70, bei den ungeraden Ziffern, eben da drüben.

Einen fabelhaften Augenblick lang liegt der Verdacht nahe, in einen von der Nachbarschaft einstudierten Otto-Sketch geraten zu sein. Ich suche das Fenster, hinter dem sich der Kameramann versteckt. Doch dann, neben der Haustür von Nummer 67, findet sich ein dritter Beweis dafür, wie eng Lyrik und Leben bei Waalkes ineinander verstrickt sein können. In mittlerer Höhe, bequem erreichbar für einen Halbwüchsigen, der auf der obersten Treppenstufe sitzt, ist in den Klinkerstein geritzt: „O. Waalkes 13. 10. 63“. Ein Indiz, dass Otto schon als Fünfzehnjähriger zu den Menschen gehörte, die um jeden Preis Spuren auf dieser Welt hinterlassen wollten. Ein Beleg aber auch, dass Otto mit fünfzehn an Gewitztheit noch ein wenig zulegen konnte, hatte er seinen Eltern doch nicht nur den Hauseingang verschrammt, sondern den Namen des Täters gleich mitgeliefert.

„Wer heute auf Transvaal lebt“, meint Maria, „kann sich sehen lassen in Emden.“ Aber früher war das anders. Von Hans Grigull, sagt Maria, dem ehemaligen Bürgermeister, soll ich mir alles erklären lassen und sucht mir aus dem Telefonbuch der „Pinte“ seine Nummer gleich raus. Grigull wohnt noch immer auf Transvaal. Auch er erinnert sich an den jungen Otto, aber besser noch erinnert er sich an dessen Onkel Gerd Waalkes, der mit komischen Gedichten und Anekdoten bei Vereinsfesten auftrat. „Da war wohl was in den Genen, bei denen.“ Wo holst Du Deine Witze bloß immer her, hat er Gerd Waalkes mal gefragt, sagt Grigull. Die kommen ganz von allein, war die Antwort, „wenn ich nachts so unter den Pannen lieg.“

Emden-Transvaal, ein Leben "unter den Pannen"

Transvaal wurde um 1900, nachdem man begonnen hatte, den Emdener Hafen auszubauen, als Siedlung für Hafen- und Werftarbeiter auf die nächstgelegene Weide gesetzt. Es waren einfache Unterkünfte, erzählt Grigull, mit Stalltüren in den Wohnungen und nackten Eisenstangen statt Türklinken. Wer im Parterre hoch schaute zum ersten Stock, sah keine Decke, sondern nur die Balken samt der Bodendielen der oberen Etage. Wer oben im Bett lag, sah über sich die bloßen Dachpfannen, er lag „unter den Pannen“. Und wenn es im Winter schneite und stürmte, konnte er morgens Schnee auf seiner Bettdecke finden.

Im Krieg wurden über die Hälfte der Häuser ausgebombt, danach notdürftig wieder zusammengeflickt. Bald waren viele der Häuser überaltert, verwahrlost. Niemand in Emden zog gern um nach Transvaal. 1978 sammelte Grigull als Gewerkschafter 87 Unterschriften, ging damit zum Oberbürgermeister, und sein Kampf um ein Sanierungsprogramm begann. 50 Millionen sind schließlich in den Stadtteil gepumpt und die meisten Häuser an deren Bewohner verkauft worden. Das Vorstadtidylle in rot und grün begann.

The Rustlers, mit Gitarrist Otto Waalkes

Da lebte Otto längst in Hamburg und hatte die ersten Fernsehshows und Goldenen Schallplatten schon hinter sich. In seiner Zeit auf Transvaal war von Sanierung nicht die Rede. Von Vorstadtidylle auch nicht, sondern viel eher vom rundum verklinkerten Problem-Quartier. Heute steht in Emdens Zentrum, gleich an der Großen Straße, das „Otto-Huus“, das den Touristen die ganze Otto-Produktpalette anbietet: T-Shirts, CDs, Filme, Bücher, Kappen. Dort hängt neben dem Flipper im ersten Stock ein Foto aus dem Jahr 1964 von der Band „The Rustlers“ mit einem Fünfzehnjährigen an der Gitarre namens O. Waalkes. Oben, überm Eingang des Otto-Huus, bricht ein Ottifant, Ottos alter ego, durch die Klinkerfassade. Als der Fünfzehnjährige O. Waalkes seinen Namen in den roten Stein neben der Haustür ritzte, musste er noch zehn Jahre auf seinen Ausbruch warten. 1973, mit seiner ersten LP, war es so weit. Sie kämpfte sich rauf bis an Platz 1 der Charts, der Klinker war besiegt.

Symbolträchtiger Ausbruch aus der Klinker-Welt

Veröffentlicht unter Ortsbesichtigung. Atlas der Autoren | Verschlagwortet mit | Hinterlasse einen Kommentar

Spät aber dennoch: “Shades of Grey”

Ausgepeitscht vom Märchenprinzen

Okay, jetzt habe also auch ich in Shades of Grey reingelesen. Der Rummel um die SM-Schwarte von E.L. James lässt einem ja keine Ruhe. Der erste Band der Trilogie ist tatsächlich dramatisch schlecht geschrieben. Die anderen beiden habe ich nicht in die Hand genommen. Wer so etwas Literatur nennt, könnte genauso gut einem Antiquitäten-Liebhaber einen Holzscheit auf’s Intarsien-Tischchen knallen und behaupten, zwischen beidem gäbe es keinen Unterschied, schließlich bestünden sowohl Tischchen als auch Scheit aus Holz. Mehr noch: Der Scheit hätte sogar den höheren Heizwert.

E.L. James "Shades of Grey - Geheimes Verlangen". Goldmann Verlag 9,99 Euro

Shades erreichte knapp das Niveau von Julia-, Jerry Cotton- oder Perry Rhodan-Heftchen. (Ich habe ein paar davon gelesen, unter anderem weil ich mal einen „Kongress der Liebesroman-Autorinnen“ besuchte. Davon bei anderer Gelegenheit mehr.) Aber letztlich sind solche literaturkritischen Erwägungen angesichts der Verkaufszahlen der Trilogie unzureichend und ein wenig albern.

Viel interessanter ist in meinen Augen die Überlegung, weshalb gerade ein solches Buch gerade zu diesem Zeitpunkt so erfolgreich ist. Es gab ja früher schon haufenweise SM-Romane und gibt sie parallel zu E.L. James auch jetzt auf dem Buchmarkt. Den Millionenerfolg fährt aber Shades ein. Das macht die Trilogie aus sozialpsychologischer Perspektive zu einem aufschlussreichen Fall: Welche Leser-Fantasien werden speziell in diesem Buch befriedigt? Was macht diesen „Mommy-Porn“ (New York Times) für so viele Leserinnen so lesenswert? Denn an der Erkenntnis, dass vor allem Frauen Shades verschlingen, lassen die Berichte aus USA wenig Zweifel.

Bei meiner völlig unverantwortlich lückenhaften Vorne-Mitte-Hinten-Lektüre wurde schnell klar, dass der Roman eine soziale Aufsteiger-Story erzählt. Unschuldige Studentin trifft Milliardär, der sie zu seiner Herzallerliebsten erklärt. Das ist naturgemäß schön für die Studentin – und lässt die uralte Geschichte vom unschuldigen Bürgermädchen durchschimmern, das vom örtlichen Grafen entdeckt, begehrt, geheiratet und triumphal ins Grafenschloss heimgeführt wird. Ein Erzählmuster, das in seiner tragischen Spielart von Lessings Emlia Galotti bis Schillers Kabale und Liebe“ etliche bürgerliche Trauerspiele vom Klassiker-Format hervorbrachte.

"Pretty Woman" (1990). Regie: Garry Marshall. Drehbuch: J. F. Lawton

Da zu meinem Bekanntenkreis bedauerlich wenige Milliardäre zählen, habe ich keine Erfahrung, wie die in Liebesdingen tatsächlich so sind. Andererseits drängt sich da die Kino-Erinnerung an Pretty Woman mit Julia Roberts und Richard Gere als Milliardär auf. Diese soziale Aufsteiger-Geschichte ist sexuell schärfer gewürzt als die alten Jungfrau-meets-Graf-Romane, Julia Roberts spielt bekanntlich eine Prostituierte. Das macht den Film zwar nicht gerade zum Inbegriff einer feministische Vorzeige-Literatur, dennoch teilt er der Heldin die Rolle einer im Bett professionell erfahrenen und wirtschaftlich selbständigen Frau zu. Das ist ja schon mal was, im Vergleich zur Unschuld vom Lande mit ihren Adelsherren.

Shades dreht das Rad der Emanzipation gnadenlos zurück. Auch hier wird das alte Erzählmuster erotisch aufgepeppt, diesmal mit einer Portion SM. Aber Heldin Anastasia Steele hat weder von Sex noch von Beruf den blassesten Schimmer und muss auch keinen Schimmer haben, denn sie begibt sich willig errötend in die Arme eines mächtigen Mannes, der all das für sie regelt. Wenn es das ist, was den Massenfantasien der weiblichen Leserschaft derzeit in Wallung bringt, dann darf man das wohl ein bemerkenswertes Signal nennen.

Steeles Beitrag zur Emanzipationsgeschichte beschränkt sich darauf, den Sklavinnen-Vertrag mit Mr. Grey über viele Seiten hinweg beinhart auszuhandeln. Hier macht sie ihrem Namen alle Ehre und wird zur stahlharten Verhandlungspartnerin.

Was lässt sich aus all dem lernen?

1.)   Alte Erkenntnis: Auf literarische Qualität kommt es beim literarischen Erfolg nicht an. Um es mit Eichendorff zu sagen: Schläft ein Lied in allen Dingen, die da träumen fort und fort, und die Kass’ hebt an zu klingen, triffst du nur das Zauberwort. Wer das richtige Thema zum richtigen Zeitpunkt trifft, den hält werden Ochs noch Esel auf: Der hat Erfolg, auch wenn er absolut miserabel schreibt.

E.L. James "Fifty Shades of Grey". Amerikanische Ausgabe. Verlag Vintage, New York

2.)   Millionen Frauen träumen offenbar noch immer gern von der alten Märchenprinz-Nummer, bei der sie vom Helden auf dessen edlen Schimmel gezogen und in ein besseres Leben entführt werden.

3.)   Natürlich darf die Geschichte heute sexuell etwas heißer serviert werden. Ein bisschen Härte im Bett wird inzwischen offenbar gern genommen.

4.)   Was die Soziologen seit ein paar Jahrzehnten vorkauen, wird inzwischen auch in der Trivial-Literatur wiedergekäut: Die verbindlichen Normen in Liebensdingen haben sich in postmodernen Zeiten aufgelöst. Partnerschaften werden heute von der Verhandlungs-Ethik regiert. Das Paar klärt in Diskussionen, welche Regeln für ihre Partnerschaft gelten sollen. E.L. James macht das mit dem Sklavinnen-Vertrag überdeutlich.

5.)   Ist erst einmal ein gutaussehender, milliardenschwerer Märchenheld im Spiel, scheint es für die Fantasie der Leserinnen kein Problem zu sein, sich sexuell ganz auf seine Wünsche einzustellen.

6.)   Der miese, ranzige Altherrengedanke liegt nahe: Dass Frauen (zumindest in den Träumen, die sie lesend ausleben) noch immer gern bereit sind, sich kaufen zu lassen, wenn den das finanzielle Angebot wirklich verlockend und der Mann nicht allzu unansehnlich ist. Was auf eine schockierende Schlussfolgerung hinausläuft: Milliardäre haben bessere Chancen bei Frauen als Literaturkritiker! Ein Gedanke, der mich persönlich echt unheimlich betroffen macht.

Veröffentlicht unter Über Bücher | Verschlagwortet mit , , , | Hinterlasse einen Kommentar

Klaglos in Klagenfurt 7 und Schluss

Viele Freunde, klare Sache

Es war fantastisch. Von Klagen kann keine Rede sein. Selbst die Preisentscheidungen geben mir Anlass zur Freude, fielen sie doch so aus, wie ich vermutete (siehe Klaglos in Klagenfurt 5): Olga Martynova kriegt Gold, Inger-Maria Mahlke schaffts aufs Treppchen. Matthias Nawrat hatte ich nicht auf der Rechnung, er bekam gleich zwei Preise: Einen von der Jury und einen vom Automaten der Riesenmaschine (siehe KiK 6 und KiK 5 Nachtrag), was man als Indiz dafür nehmen kann, dass sich die Kriterien von Jury und Riesenmaschine unterm Strich letztlich nicht grundsätzlich unterscheiden.

Beim Publikumspreis hatte ich keinen Schimmer. Buchhändlerin Petra Hartlieb aber umso mehr. Bevor der Briefumschlag vor den Kameras geöffnet wurde, meinte sie mit tiefer Wiener Weisheit: „Den kriegt eh die Travnicek.“ Was folgerichtig Sekunden später unter den Augen des Justiziars auch exakt so verkündet wurde: Cornelia Travnicek. „Bei einer Abstimmung im Internet“, sagt die kluge Frau Hartlieb, „hat die jüngste, netzaffinste Autorin die besten Chancen. Viele Freunde, gut vernetzt, viele Klicks, klare Sache.“ Tut immer gut, wenn man mit Fachleuten spricht.

Aus meiner Sicht möchte ich diesem knallharten Realismus noch einen leicht verträumten literaturkritischen Gedanken hinzufügen: Die zehn bis zwölf Seiten, die ein Bachmann-Text lang sein muss, sind eine ideale Länge für die klassische amerikanische Short-Story. Erzählungen nach diesem Modell kommen aber in Klagenfurt kaum vor und werden noch seltener preisgekrönt. Denn die Herzen der Jury erobern sie nur selten, die des Publikums aber, behaupte ich, umso zuverlässiger. Die zwei Geschichten im diesjährigen Wettbewerb, die diesem Erzählmuster am nächsten kamen, waren die von Stefan Moster und Cornelia Travnicek. Der eine ging leer aus, die andere bekam keinen Kritiker-, sondern den Publikumspreis.

Also legt auch dieses Resultat meinen Lieblings-Hypothesen kein Hindernis in den Weg, ganz im Gegenteil. Meine Begeisterung über Klagenfurt braucht also niemanden zu wundern, ebenso wenig wie jetzt wieder meine Begeisterung über diese verwegenen, draufgängerischen Alpenlandschaften, durch die der Zug Richtung München rollt.

Veröffentlicht unter Klaglos in Klagenfurt. Eine Kurzzeit-Kolumne | Verschlagwortet mit , , , , , | 1 Kommentar

Klaglos in Klagenfurt 5(Nachtrag)

Orange ist das neue Türkis

Dem ebenso uneigennützigen wie unermüdlichen Einsatz der Fotografin Susanne Schleyer verdankt dieser Blog das fotografische Dokument der Wettschwimm-Siegerehreung des vorangegangenen Jahres: Katharina “Forelle” Wilts überreicht die Trophäe 2011 an Thorsten Ahrend:

Darüber hinaus verdichten sich die Indizien (bzw. Zeugenaussagen), dass Ijoma Mangolds Badehose orange, nicht türkis gewesen ist. Ich werde das bei der Anschaffung von Bademode künftig berücksichtigen.

Matthias Nawrat hat den Preis der automatisierten Literaturkritik inzwischen erhalten. Er siegte nicht mit 0 Punkten, wie von mir fälschlich kolportiert, sondern mit 8 oder 9 Punkten (hier waren die Aussagen von Kathrin Passig nicht eindeutig). Überdies können die Kriterien dieses Wettbewerbs doch nicht im laufenden Wettbewerb geändert werden. Ich bedauere, das falsch verstanden zu haben, gebe aber zu bedenken, dass es gestern im Lendhafen-Café sehr spät war.

Veröffentlicht unter Klaglos in Klagenfurt. Eine Kurzzeit-Kolumne | Verschlagwortet mit , , , | 3 Kommentare

Klaglos in Klagenfurt 6

Halbstündige Schreie

Gar nicht so leicht zu sagen, worin der Zauber eines Abends im Lendhafen-Café während der Bachmanntage besteht. Gestern wollte ich schon Fotos machen. Aber auch darauf wäre er, fürchte ich, nicht zu entdecken gewesen.

Vermutlich besteht die Magie in einer fein abgestimmten Mischung aus Gesprächen und Getränken unter Mitwirkung sanft fächelnder Sommerluft nebst leisem Säuseln in den Bäumen. Plus dem Gefühl, über Literatur plaudern zu können. Aber nicht zu müssen.

Gestern Abend beispielsweise war da die Wiener Buchhändlerin und Schriftstellerin Petra Hartlieb, mit der ich in halbstündige Freundenschreie über Doris Knechts Roman Gruber geht einstimmen konnte und gratis einen Lesetipp erhielt: Iain Levison (Lieber Deuticke Verlag, falls Du das hier liest, könntest Du mir freundlicherweise ein Vorabexemplar spendieren, ich bin schrecklich neugierig. Großartig. Vielen Dank).

Oder ich erfuhr von führenden Mitarbeitern von Riesenmaschine.de, dass beim Wettbewerb um den Preis der automatisierten Literaturkritik Matthias Nawrat mit 0 Punkten uneinholbar in Führung liegt und den Preis abstauben wird, falls, ja falls nicht in letzter Sekunde Änderungen der automatisierten Bewertungskriterien beantragt werden. (Alle Änderungsvorschläge werden ausnahmslos und ohne Ansehen der vorschlagenden Person angenommen.) (Achtung, liebe Leser: Sehen Sie hierzu bitte die Korrektur in Klaglos in Klagenfurt 5 Nachtrag!)

Schließlich konnte ich auf dem bemerkenswerten Unterschenkel von Lotta_K in fein ziselierten Schriftzeichen ihren Lieblingssatz aus den Jury-Diskussionen bewundern: “Frau Feßmann!”. Ein knapper Satz, zugegeben. Frau Lotta_K trägt sich mit dem Gedanken, den Schriftzug tätowieren zu lassen – und legt darüber hinaus Wert auf die Feststellung, dass die gestrige Bemerkung “Ijoma-Mangold-Gedächtnishose” (siehe: Klaglos in Klagenfurt 5) zwar spitzzüngig, keineswegs aber abwertend, sondern vielmehr emphatisch zu verstehen gewesen sei. Mehr so: “Ijoma-Mangold-Gedächtnishose! Juchuh!!”

Frau Lotta_K sprach, wörtlich, von “Ijomahosenbewunderung”. Ich erwäge seither die Anschaffung türkisfarbener Badebekleidung.

Womit der lebensverändernden Zauber eines Lendhafen-Café-Abends als bewiesen gelten darf. Was sind dagegen schon die paar Literaturpreise, die heute vergeben werden.

Veröffentlicht unter Klaglos in Klagenfurt. Eine Kurzzeit-Kolumne | Verschlagwortet mit , , , | 4 Kommentare

Klaglos in Klagenfurt 5

Hoch aufschäumendes Kielwasser

Die erste Siegerin der Klagenfurter Wettkampftage steht fest. Katharina Wilts (Presse, Klett-Cotta Verlag) gewann das für Samstag 17.00 Uhr im Wörthersee angesetzte Wettschwimmen. Das Teilnehmerfeld musste bis zu einer Boje und zurück schwimmen. Unklar blieb bis zum Schluss, zu welcher Boje. Es sei eine weiße gewesen, behauptete das Organisationskommittee.

Die Ergebnisse im Einzelnen:

Das Starterfeld fiebert dem Startklatschen entgegen

Vorjahressieger Thorsten Ahrend (Cheflektor Literatur, Wallstein Verlag) hatte mit dem Vorjahressieg die Verpflichtung übernommen, den Pokal fürs diesjährige Rennen zu stiften. Da Ahrend vorzeitig abreisen musste, wurde die Trophäe nicht von ihm, sondern ersatzweise von Angela Leinen (Sopranistin) übergeben. Es war ein grüner Plastikfrosch, batteriebetrieben, schwimmfähig.

Der Start bringt den Wörthersee zum Brodeln. Im Vordergrund sehen Sie den Daumen unseres Kameramanns

Vom Verletzungspech wurde Dirk Knipphals (taz) verfolgt, er hatte sich beim strandbadbesuchsbedingten Eincremen mit Sonnenöl eine Zerrung zugezogen.

Das Feld startete tempramentvoll, war aber schon nach ca. 30 Metern platt, allein Katharina “Wörthersee-Forelle” Wilts machte ihrem Ruf als gefürchtete Leistungsschwimmerin alle Ehre, zog dem Feld davon, wich aber von der Wettkampfroute konsequent nach links ab, so dass ihr weiß aufschäumendes Kielwasser ein apartes Bogenmuster ergab.

Rechts Forelle Wilts im schwarzen Badnzug, links ihr hartnäckiger Konkurrent ganz in türkis. Links im Vordergrund die Tröphäe Sekunden vor der Verleihung

Lediglich ein dem Berichterstatter unbekannter Teilnehmer mit türkiser Badehose, von den spitzzüngigen Damen des Literaturbetriebs als “Ijoma-Mangold-Gedächtnishose” tituliert, vermochte das Tempo von Wörthersee-Forelle-Wilts mitzuhalten, zumal er sich das aparte Bogenmuster sparte und orientierungssicher aufs Ziel zuhielt. Es war ein Wimpernschlag-Finale. Wilts schlug nach Beobachtungen des Berichterstatters wenige Hundertstelsekunden vor ihrem Konkurrenten an.

Kathrin Passig (Autorin, meistens Rowohlt Verlag) setzte verlässlich ihre Zusage um, und sorgte dafür, dass kein Wettkampf-Teilnehmer nach ihr ins Ziel kam.

Mit diesen schönen Bildern – wie Jo Lendle (DuMont Verlag) es formulierte – verabschieden wir uns von den Zuschauern und geben zurück ins Funkhaus.

P.S.: Mein Tipp für den morgigen Wettkampf-Teil: Die Jury preiskrönt Olga Martynova. Meine Favoritin Inger-Magia Mahlke hat eine Chance mit aufs Treppchen zu kommen. Der Publikumspreis ist mir ein Rätsel, da bin ich gespannt und freue mich darauf dazuzulernen.

Veröffentlicht unter Klaglos in Klagenfurt. Eine Kurzzeit-Kolumne | Verschlagwortet mit , , , , , , , , | 4 Kommentare

Klaglos in Klagenfurt 4

Prolegomena zu einem Versuch über das Lachen beim Leiden aus streng literarischer Sicht

Alles wird tatsächlich immer besser in Klagenfurt. Jetzt ist beim Wettlesen sogar die Literatur besser geworden. Das Beste daran ist, dass nunmehr sogar in tieftraurigen Depressions-Erzählungen nicht nur tieftraurige Depressions-Erfahrung beschrieben, sondern auch mal ein handfester Witz gerissen wird.

Ich halte das ja für ein gutes Zeichen. Denn die unerfreulichen Dinge des Lebens sind ebenso wie die erfreulichen für den Schriftsteller letztlich schlicht Material. Will er ein guter Schriftsteller sein, muss er aus dem Material etwas machen. Es transformieren, es verwandeln. Ich habe den Eindruck, als würden sich deutschsprachige Schriftsteller viel zu oft von trübseligen Themen umstandslos zu trübseligen Büchern anregen lassen. Mir scheint es dagegen die größere Kunstleistung zu sein, den Leser spüren zu lassen, welch herbe Lebensfragen gerade literarisch verhandelt werden, ihn aber gelegentlich zu überraschen und herauszufordern, indem schnell mal von Moll in Dur gewechselt oder plötzlich ein Lichtstreif in die ewige Finsternis eingelassen wird. Manchmal wirkt die Finsternis nach so einem Aufflackern gleich noch viel finsterer.

Genau das machte Inger-Maria Mahlke heute früh in ihrer Lesung. Sie erzählt von einer alleinerziehenden Mutter, ehemals Pflegekraft im Krankenhaus, dann Backshop-Bäckerin, die ihren Job verliert und daraufhin als Latex-Domina in einem SM-Studio arbeitet. Dass es ihr bei all dem nicht sonderlich gut geht, liegt nahe, zumal sie Latex offenbar nicht mag und ihre berufliche Neuorientierung vor ihrem Sohn verbergen möchte. Der war aber nach der Schule im Backshop und hat seine Mutter dort vermisst. „Ich bin wieder in der Pflege“, beschwichtigt sie ihm. Und als er nachfragt, auf welcher Station sie arbeite, antwortet sie trocken: „Schmerzpatienten“.

Also, ich fand das saukomisch. Wie der Sohn hier mit der Wahrheit an der Nase herumgeführt wird.  Scharf. Aber leider hat außer mir keiner über die Stelle lachen können.

Fabelhaft gefiel mir, um noch mal kurz den Literaturkritiker rauszukehren, außerdem wie Inger-Maria Mahlke im inneren Selbstgespräch ihrer Helden immer wieder das Subjekt der Sätze weglässt, sobald die von sich selbst spricht: „Hast das Wechselgeld abgezählt…“, „Hattest einen Stein im Bauch…“, „Bist als Vampir zum Fasching gegangen…“ Die Heldin kommt im eigenen inneren Monolog auf diese Weise gar nicht als Person vor, sondern als Leerstelle. Einen solchen Grad von Ich-Leere darf man wohl eine knochenharte Depression nennen. Sprachlich fand ich das reizvoll, denn es bringt zugleich Tempo in die Prosa, ohne sie spröde oder für den Leser mühselig zu machen.

Von mir bekommt Inger-Maria Mahlke hiermit also – Trommelwirbel – einen Stern verliehen, und für den Witz, den sie in das Elends-Einerlei ihrer Heldin geschmuggelt hat, bekommt sie – Fanfaren – gleich noch zwei.

Veröffentlicht unter Klaglos in Klagenfurt. Eine Kurzzeit-Kolumne | Verschlagwortet mit | Hinterlasse einen Kommentar

Klaglos in Klagenfurt 3

Empfang beim Bürgermeister

Im Hintergrund: Schloß Maria Loretto, im Vordergrund: Literaturbetrieb

Alles wird gut. Mehr noch: Alles wird immer besser.

Es gibt  Menschen, die daran zweifeln, das alles immerzu besser wird. Klagenfurt kann als von nun an als schlagender Beweis für die Alles-wird-gut-These gelten. Früher gab es den Bürgermeisterempfang auf Schloß Maria Loretto während der Bachmann-Tage noch nicht. Jetzt gibt es ihn. Und wie die hier beigegebenen Fotos jedermann überzeugen werden: Das darf man wohl eine Verbesserung nennen.

Blick von Schloß Maria Loretto auf der Wörthersee. Stellen Sie sich dazu bitte Gläserklingen vor und Gespräche über die literarische Lage der Nation

Das Schloss wurde 1652 erbaut, war lange im Besitz eine Famile names Orsini, schließlich kam es in den Besitz der Stadt Klagenfurt und wurde kürzlich erst, wie Bürgermeister Christian Schneider in seiner Begrüßungsrede sagte, von der Stadt Klagenfurt “generalst saniert”. Auch dieser Superlativ wird ein wunderbares Erinnerungsstück an diese Klagenfurter Tage bleiben.

In der Abendsonne sehen, den spektakulärem Blick auf den Wörthersee genießen, das kalte Büffett abräumen, jederzeit den schönen Serviererinnen frische Drinks vom Tablett pflücken können und mit den anderen Literaturbetrieblern schwatzen. Besser geht’s kaum mehr. Ich will allerdings nicht verhehlen, dass sich gestern Abend selbst auf diesem erschütternd schönen Bürgermeister-Empfang Stimmen bemerkbar machten, kritische Stimmen, die meinten, die literarischen Qualitäten des Wettbewerbs hätten noch nicht ganz das Niveau seiner touristischen und gastronomischen Aspekte erreicht.

Ich erwähne das hier, ich kommentiere es nicht: Denn das Motto

Abschied von Schloß Maria Loretto gegen 0:30 Uhr

dieser Kolumne bleibt unbeirrbar: Klaglos in Klagenfurt.

Veröffentlicht unter Klaglos in Klagenfurt. Eine Kurzzeit-Kolumne | Hinterlasse einen Kommentar

Klaglos in Klagenfurt 2

Jemand Gekrümmtes im Schlafzimmer

Der Himmel ist blau, lau fächelt Luft, der See lockt, die Beisl warten. Klagenfurt ist eine Lust.

Der Besuch des Bachmannwettbewerbs lässt sich von einer Sommerfrische mit bloßem Auge nicht mehr zu unterscheiden. Die Schriftsteller sitzen nur noch von 10.15 Uhr bis 15.15 Uhr im Studio, um ihrem Lesewerk nachzugehen. Die Zuhören auch. Die Zeit davor und danach wird unnachsichtig dem Lebensgenuss gewidmet. Entspannte Menschen stehen leicht bekleidet beieinander und führen entspannte Gespräche. Was Wolfgang Hörner von der Renaissance erzählt! Was Kathrin Passig von Dublin! Was Katharina Wilts von Abenteuern im Hohenlohe’schen! Was Lojze Wieser von Wieser Verlag! Was Maja Haderlap über den Österreichischen Bundespräsidenten! Und am Samstag gibt es Wettschwimmen im See!

Wenn ich doch mal einen besorgten Blick entdecke, richtet er sich nicht in ein Manuskript, sondern in den Himmel, denn für den Nachmittag wird Gewitter befürchtet. Aber warum auch in die Manuskripte, wenn dort Sätze warten wie „Wer findet schon gerne jemand Gekrümmtes in seinem Schlafzimmer vor?“ (Andreas Stichmann) Ja, wer tut das schon gern, denke ich auf dem Fahrrad Richtung See, Hotelhandtuch und Sonnenöl im Gepäck. Ja, wer? Literatur ist wahrhaft eine Lust. In Klagenfurt. Und nirgendwo ein Gewitter in Sicht.

Veröffentlicht unter Klaglos in Klagenfurt. Eine Kurzzeit-Kolumne | Verschlagwortet mit , , , , , | 4 Kommentare