Ausgepeitscht vom Märchenprinzen
Okay, jetzt habe also auch ich in Shades of Grey reingelesen. Der Rummel um die SM-Schwarte von E.L. James lässt einem ja keine Ruhe. Der erste Band der Trilogie ist tatsächlich dramatisch schlecht geschrieben. Die anderen beiden habe ich nicht in die Hand genommen. Wer so etwas Literatur nennt, könnte genauso gut einem Antiquitäten-Liebhaber einen Holzscheit auf’s Intarsien-Tischchen knallen und behaupten, zwischen beidem gäbe es keinen Unterschied, schließlich bestünden sowohl Tischchen als auch Scheit aus Holz. Mehr noch: Der Scheit hätte sogar den höheren Heizwert.
Shades erreichte knapp das Niveau von Julia-, Jerry Cotton- oder Perry Rhodan-Heftchen. (Ich habe ein paar davon gelesen, unter anderem weil ich mal einen „Kongress der Liebesroman-Autorinnen“ besuchte. Davon bei anderer Gelegenheit mehr.) Aber letztlich sind solche literaturkritischen Erwägungen angesichts der Verkaufszahlen der Trilogie unzureichend und ein wenig albern.
Viel interessanter ist in meinen Augen die Überlegung, weshalb gerade ein solches Buch gerade zu diesem Zeitpunkt so erfolgreich ist. Es gab ja früher schon haufenweise SM-Romane und gibt sie parallel zu E.L. James auch jetzt auf dem Buchmarkt. Den Millionenerfolg fährt aber Shades ein. Das macht die Trilogie aus sozialpsychologischer Perspektive zu einem aufschlussreichen Fall: Welche Leser-Fantasien werden speziell in diesem Buch befriedigt? Was macht diesen „Mommy-Porn“ (New York Times) für so viele Leserinnen so lesenswert? Denn an der Erkenntnis, dass vor allem Frauen Shades verschlingen, lassen die Berichte aus USA wenig Zweifel.
Bei meiner völlig unverantwortlich lückenhaften Vorne-Mitte-Hinten-Lektüre wurde schnell klar, dass der Roman eine soziale Aufsteiger-Story erzählt. Unschuldige Studentin trifft Milliardär, der sie zu seiner Herzallerliebsten erklärt. Das ist naturgemäß schön für die Studentin – und lässt die uralte Geschichte vom unschuldigen Bürgermädchen durchschimmern, das vom örtlichen Grafen entdeckt, begehrt, geheiratet und triumphal ins Grafenschloss heimgeführt wird. Ein Erzählmuster, das in seiner tragischen Spielart von Lessings Emlia Galotti bis Schillers Kabale und Liebe“ etliche bürgerliche Trauerspiele vom Klassiker-Format hervorbrachte.
Da zu meinem Bekanntenkreis bedauerlich wenige Milliardäre zählen, habe ich keine Erfahrung, wie die in Liebesdingen tatsächlich so sind. Andererseits drängt sich da die Kino-Erinnerung an Pretty Woman mit Julia Roberts und Richard Gere als Milliardär auf. Diese soziale Aufsteiger-Geschichte ist sexuell schärfer gewürzt als die alten Jungfrau-meets-Graf-Romane, Julia Roberts spielt bekanntlich eine Prostituierte. Das macht den Film zwar nicht gerade zum Inbegriff einer feministische Vorzeige-Literatur, dennoch teilt er der Heldin die Rolle einer im Bett professionell erfahrenen und wirtschaftlich selbständigen Frau zu. Das ist ja schon mal was, im Vergleich zur Unschuld vom Lande mit ihren Adelsherren.
Shades dreht das Rad der Emanzipation gnadenlos zurück. Auch hier wird das alte Erzählmuster erotisch aufgepeppt, diesmal mit einer Portion SM. Aber Heldin Anastasia Steele hat weder von Sex noch von Beruf den blassesten Schimmer und muss auch keinen Schimmer haben, denn sie begibt sich willig errötend in die Arme eines mächtigen Mannes, der all das für sie regelt. Wenn es das ist, was den Massenfantasien der weiblichen Leserschaft derzeit in Wallung bringt, dann darf man das wohl ein bemerkenswertes Signal nennen.
Steeles Beitrag zur Emanzipationsgeschichte beschränkt sich darauf, den Sklavinnen-Vertrag mit Mr. Grey über viele Seiten hinweg beinhart auszuhandeln. Hier macht sie ihrem Namen alle Ehre und wird zur stahlharten Verhandlungspartnerin.
Was lässt sich aus all dem lernen?
1.) Alte Erkenntnis: Auf literarische Qualität kommt es beim literarischen Erfolg nicht an. Um es mit Eichendorff zu sagen: Schläft ein Lied in allen Dingen, die da träumen fort und fort, und die Kass’ hebt an zu klingen, triffst du nur das Zauberwort. Wer das richtige Thema zum richtigen Zeitpunkt trifft, den hält werden Ochs noch Esel auf: Der hat Erfolg, auch wenn er absolut miserabel schreibt.
2.) Millionen Frauen träumen offenbar noch immer gern von der alten Märchenprinz-Nummer, bei der sie vom Helden auf dessen edlen Schimmel gezogen und in ein besseres Leben entführt werden.
3.) Natürlich darf die Geschichte heute sexuell etwas heißer serviert werden. Ein bisschen Härte im Bett wird inzwischen offenbar gern genommen.
4.) Was die Soziologen seit ein paar Jahrzehnten vorkauen, wird inzwischen auch in der Trivial-Literatur wiedergekäut: Die verbindlichen Normen in Liebensdingen haben sich in postmodernen Zeiten aufgelöst. Partnerschaften werden heute von der Verhandlungs-Ethik regiert. Das Paar klärt in Diskussionen, welche Regeln für ihre Partnerschaft gelten sollen. E.L. James macht das mit dem Sklavinnen-Vertrag überdeutlich.
5.) Ist erst einmal ein gutaussehender, milliardenschwerer Märchenheld im Spiel, scheint es für die Fantasie der Leserinnen kein Problem zu sein, sich sexuell ganz auf seine Wünsche einzustellen.
6.) Der miese, ranzige Altherrengedanke liegt nahe: Dass Frauen (zumindest in den Träumen, die sie lesend ausleben) noch immer gern bereit sind, sich kaufen zu lassen, wenn den das finanzielle Angebot wirklich verlockend und der Mann nicht allzu unansehnlich ist. Was auf eine schockierende Schlussfolgerung hinausläuft: Milliardäre haben bessere Chancen bei Frauen als Literaturkritiker! Ein Gedanke, der mich persönlich echt unheimlich betroffen macht.