Die Bücher-Bar / Eine Kolumne / Folge 11

Der Büchersäufer stellt hier Bücher vor, die er mit Genuss bis zur Neige geleert, oder an denen er lieber nur kurz genippt hat.

Heute geht es um Facebook. Ich habe schon vor Jahren meinen Account gelöscht und nachdem ich jetzt “Inside Facebook. Die hässliche Wahrheit” gelesen habe, weiß  endlich auch warum.

Nachrichten über Nachrichtenhändler

Sheera Frenkel und Cecilia Kang: "Inside Facebook. Die Hässliche Wahrheit". Übersetzt von Henning Dedekind, Marlene Fleißig, Frank Lachmann und Hans-Peter Remmler. S.Fischer Verlag,  24 Euro

Sheera Frenkel und Cecilia Kang: “Inside Facebook. Die Hässliche Wahrheit”. Übersetzt von Henning Dedekind, Marlene Fleißig, Frank Lachmann und Hans-Peter Remmler. S.Fischer Verlag, 24 Euro

Als Mark Zuckerberg noch nicht der weltbekannte Facebook-Boss Mark Zuckerberg war, sondern Student in Harvard, experimentierte er bereits mit einem sozialen Netzwerk für seine Mitstudenten. Schon bald prahlte er in einem Online-Chat mit einem Freund, er könne Informationen über fast jeden in Harvard beschaffen, er haben bereits „4000 E-Mails, Bilder, Adressen“. Auf die erstaunte Frage, wie er das geschafft habe, antwortete er: „Die Leute haben es eingegeben.“ Und nach einer Pause: „Ich weiß nicht, warum.“ Erneute Pause: „Sie ‚vertrauen mir’.“ Und dann: „Vollidioten“.

Es ist immer schön zu wissen, was ein Unternehmer von den Leuten hält, die ihn reich machen. Für jeden, der im Fall von Mark Zuckerberg mehr darüber erfahren möchte, ist das Buch von Sheera Frenkel und Cecilia Kang eine wahre Fundgrube: „Inside Facebook. Die hässliche Wahrheit“ (S.Fischer, 24 Euro).

Für Kenner der IT-Branche ist das alles vermutlich nicht neu. Viele dieser Nerds geben einem ja gern das Gefühl, sie wüssten alles, was es zu wissen gibt, stehen dann aber mit offenen Schnürsenkeln vor einem, weil sie keinen Schimmer haben, wie sie die Dinger zukriegen sollen

Für mich war es jedenfalls lehrreich zu lesen, dass Facebook über die Möglichkeit verfügt, herauszufinden, was seine User tun, wenn sie auf anderen Websites unterwegs sind – und sich mit dieser Fähigkeit vor seinen Anzeigenkunden brüstet. Oder wie früh Zuckerbergs Sicherheitsteam wusste, dass russische Hacker per Facebook illegal Wahlkampf für Donald Trump machten. Und es nicht energisch zu verhindern, sondern vielmehr lange zu vertuschen versuchte. Oder dass Facebook-Posts zu der Hetzjagd auf Rohingyas in Myanmar beitrugen, die dann im Massenmord endete. Und dass die Erkundungsmission der UN zu dem Urteil kam, soziale Medien hätten eine „entscheidende Rolle“ bei diesem Genozid gespielt.

Und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Seit der Aussage der Facebook Whistleblowerin Frances Haugen weiß man noch genauer, wie rücksichtslos Facebook seine Profitinteressen über die Stabilität von Demokratie und Gesellschaft stellt. Hier der Link zu einem Spiegel-Video dazu. Unter dem Stichwort Frances Haugen gibt es darüber hinaus jede Menge Informationen zum Thema.

 

Veröffentlicht unter Bücher-Bar / Eine Kolumne, Uncategorized | Verschlagwortet mit , , , | Hinterlasse einen Kommentar

Über Saskia Lukas sehr politisch-unpolitischen Roman “Tag für Tag”

Im November 2019 hielt ich eine Laudatio auf Saskia Luka anlässlich der Verleihung des Buchpreises der Stiftung Ravensburger für ihren Roman „Tag für Tag“. In der Zeit danach bin ich so vollständig von der Arbeit an meinem Buch “Februar 33″ verschlungen worden, dass ich weder die Zeit noch die Energie fand, die Rede online zu stellen. Das tat mir vor allem leid, weil Saskia Lukas Roman über drei Frauengenerationen und die Jugoslawienkriege ein sehr bedenkenswerter literarischer Versuch über eine unpolitische Haltung in hochpolitischen Zeiten ist. Ich stelle die Laudatio deshalb jetzt nachträglich auf meine Blog und zur Diskussion.

“Das geht mich nichts an”

Ist Politik die Kunst, die Leute daran zu hindern, sich um das zu kümmern, was sie angeht ?

Sehr geehrte Damen und Herren,

Saskia Luka: "Tag für Tag". Roman. Verlag Kein & Aber. 14 Euro

Saskia Luka: “Tag für Tag”. Roman. Verlag Kein & Aber. 14 Euro

die Kriege im ehemaligen Jugoslawien sind zu einem großen Thema der deutschsprachigen Literatur geworden. Das klingt im ersten Augenblick paradox, doch das ist es nicht. Die Debatte um Peter Handkes Verteidigung serbischer Nationalisten und den ihm zugesprochenen Nobelpreis hat 2019 nicht nur im Literaturbetrieb unversöhnliche Gegensätze aufgerissen. Sie zeigte, wie nah uns diese Kriege sind, auch wenn sie inzwischen zwanzig Jahre oder mehr zurückliegen und jenseits der deutschen Landesgrenzen stattfanden. Die Zahl der Romane, Erzählungen, Theaterstücke oder Gedichte in deutscher Sprache – von Saša Stanišićs „Herkunft“ bis Oliver Bottinis „Der kalte Traum“, von Nicol Ljubićs „Meeresstille“ bis Marco Dinić „Die guten Tage“ – die von Erfahrungen aus diesen Kriegen erzählen und literarisch zu verarbeiten versuchen, ist inzwischen fast unabsehbar geworden.

Saskia Luka, die mit dem Buchpreis der Stiftung Ravensburger auszeichnet wird, entwirft in ihrem großartigen Familienroman „Tag für Tag“ die Geschichte dreier Generationen, deren Leben auf jeweils ganz unterschiedliche Weise durch diese Kriege geprägt, verformt, und zerrissen wird. Das Besondere und Riskante an Saskia Lukas Roman wird sofort deutlich, sobald man sich vor Augen stellt, was in diesem Roman NICHT vorkommt. In ihrem Roman spielt Politik fast keine Rolle. All jene Fragen, die in der Debatte um Handke im Zentrum stehen, also wie der Krieg begann, wer wann welches Massaker aus welchen Gründen beging, ob es ein Rache-Massaker war oder ein versuchter Genozid, kurz: wer die Schuld trägt – all diese Fragen haben in diesem Buch keinen Platz. Dieser Roman erzählt von den gleichen Kriegen, aber er erzählt eine andere Geschichte. Eine Familiengeschichte.

Es gibt eine Szene in Saskia Lukas Roman, die diesen Gegensatz mit charakteristischer Offenheit klarstellt. Es ist bezeichnenderweise eine häusliche Szene. Die in Jugoslawien geborenen Maria und ihr deutscher Mann Georg, der dann viel zu früh stirbt, leben in einer glücklichen Ehe, Streit kennen sie kaum. Doch als die Kämpfe in Jugoslawien aufflammen, bricht auch ein Konflikt zwischen ihnen auf – daheim im friedlichen Deutschland. Und zwar weil sich Maria nicht für den Krieg interessiert, der ihr Geburtsland zerstört, sie will keine Nachrichten hören, sie will keine Position beziehen, sie sagt: „Das geht mich nichts an.“ Georg ist daraufhin außer sich: „Wie kannst Du so gleichgültig sein?“ Sie könne doch nicht einfach so weiterleben wie zuvor. „Doch“, antwortet Maria, „das können wir. Das tun alle anderen auch.“ Ihr Mann hält das für Wahnsinn, und Maria entgegnet ihm, der Krieg sei Wahnsinn. Vor Zorn wirft Georg erst die Zeitung, dann Bücher durch den Raum und schließlich alles, was er zu fassen kriegt. „Ich möchte hier glücklich sein“, bekennt Maria. „Um glücklich zu sein“, erwidert ihr Mann, „musst du erst einmal etwas empfinden.“

Saskia Luka  (Foto: Katarina Ivanisevic)

Saskia Luka (Foto: Katarina Ivanisevic)

Kurz: Der Krieg geht auch an Maria in Deutschland nicht spurlos vorüber. Zumindest die Atmosphäre der Aggression und der Wut schwappt über die Landesgrenzen hinweg bis in ihre Ehe hinein. Obwohl sie versucht, sich und die Ihren aus allem herauszuhalten, fliegen plötzlich Zeitungen, Bücher und andere Gegenstände durch die Wohnung und wird ihr von ihrem Mann die Fähigkeit zum Empfinden und Mitempfinden abgesprochen. Aber das ändert an ihrer Haltung nichts. Dieser Krieg ist nicht ihr Krieg, sie will mit ihm nichts zu tun haben.

Womit aber will sie stattdessen etwas zu tun haben?

Ich möchte, bevor ich dieser Frage weiter nachgehe, kurz an den französischen Philosoph und Schriftsteller Paul Valéry (1871-1945) erinnern. Valéry hatte die Gewohnheit, morgens um fünf Uhr aufzustehen, um noch vor Tau und Tag ebenso ungeschützt wie ungeordnet in simple Schulheften zu notieren, was ihm durch den Kopf ging. In einem der Hefte findet sich ein Gedanke, der berühmt wurde und der im radikalen Widerspruch zu allem zu stehen scheint, was wir heute unter staatsbürgerlicher Verantwortung in einer freiheitlichen Demokratie verstehen. „Politik“, schrieb Valéry, „Politik ist die Kunst, die Leute daran zu hindern, sich um das zu kümmern, was sie angeht.“

Paul Valéry (Foto: Pierre Choumoff)

Paul Valéry (Foto: Pierre Choumoff)

Im Sinne dieser Definition scheint mir die Maria, die Saskia Luka in ihrem Roman beschreibt, ein restlos unpolitischer Mensch zu sein. Sie will sich von Politik und Krieg nicht daran hindern lassen, sich ganz entschieden um das zu kümmern, was sie in ihren Augen etwas angeht. Und das sind: Ihre Arbeit als Künstlerin, die Sorge um ihre Familie, die Liebe zu ihrem Mann, die Erziehung ihrer Tochter, die zahllosen kleinen und doch so fundamentalen Mühen des Alltags. Natürlich ist sich Maria klar darüber, dass auch sie Verantwortung trägt und Fehler gemacht hat. Sie hat als junger Frau nicht reagiert, als die verschiedenen Nationalismen im jugoslawischen Vielvölkerstaat plötzlich aufblühten, als „einige kroatische und serbische Schüler, die gestern noch Jugoslawen gewesen waren, plötzlich aufeinander losgingen“, als Mokkatassen und Feuerzeuge mit kroatischen Wappen auftauchten. Doch nachdem Jugoslawien von Fanatikern gespalten und mit populistischen Mitteln aufgehetzt wurde, ist es für sie die einzig denkbare Reaktion, sich eben nicht aufhetzen zu lassen, eben nicht Partei zu ergreifen und mitzukämpfen, sondern das Land zu verlassen, neu anzufangen und sich dort, in dem neuen Land, „um das zu kümmern, was sie angeht“.

Es ist eine Entscheidung, die seinerzeit viele Menschen in Jugoslawien trafen. Wenn ich hier eine kurze persönliche Erinnerung einflechten darf: Unser ältester Sohn Nicolas ging damals in den Kindergarten des Krankenhauses, für das meine Frau arbeitete. Weil in dem Krankenhaus auch zahllose Flüchtlinge aus den jugoslawischen Teilstaaten angestellt waren, traf Nicolas dort auf so viele Spielkameraden, die serbokroatisch sprachen, dass er sich schließlich bei uns beschwerte, wir hätten ihm „diese andere Sprache“ ruhig beibringen können, es sei für ihn mitunter ganz schön lästig, nur Deutsch zu können.

Saskia Luka während der Preisverleihung 2019 in Berlin

Saskia Luka während der Preisverleihung 2019 in Berlin

Unser Sohn machte damit bereits frühzeitig eine Erfahrung, die wir jetzt in der deutschen Literatur nachvollziehen können. Es ist unmöglich geworden, sich vor den Kriegen anderer Länder hinter Grenzen verschanzen zu wollen. Die Folgen dieser Kriege, die Flüchtlinge und ihre Konflikte verändern auch unser Leben. Und deshalb ist es eben nicht paradox, sondern ganz natürlich, wenn die Kriege des zerfallenden Jugoslawien heute zu den wichtigen Themen der deutschsprachigen Literatur zählen. Denn diese Kriege sind zu Geschichte geworden und zu Geschichten, die sich die Menschen hierzulande erzählen, egal ob sie erst seither oder immer schon hier lebten.

Die Geschichten der drei Frauengenerationen, die uns Saskia Luka in ihrem Roman erzählt, sind beides zugleich: persönlich und paradigmatisch. Da ist die Älteste, Lucia, die wie versteinert ist und Jugoslawien nicht verließ, obwohl ihr der Krieg alles genommen hat: ihr Mann ist tot, ihre beiden Söhne sind tot und ihre Tochter ist geflohen. Ihr Leben ist pures Ausharren und Erdulden. „Lucia bleibt stehen und lässt das Leben an sich vorüberziehen“, heißt es einmal in dem Roman.

Ihre Tochter Maria aber erweist sich als das Gegenteil, sie bleibt nicht stehen, sondern flieht und passt sich bereitwillig den neuen Lebensumständen an. Sie ist alles andere als versteinert, sondern höchst flexibel, sie ändert ihren Namen, lernt die fremde Sprache makellos, sie will ihr Geburtsland, das der nationalistischen Raserei verfallen ist, abschütteln und dort leben, wo man sie in Frieden leben lässt: „Mein Leben hat keine Nationalität“, sagt sie einmal: „Ich bin Mensch. Darüber diskutiere ich nicht mehr.“

Doch ausgerechnet in diesem Punkt gerät sie mit ihrer Tochter Anna aneinander. Anna ist zwar in Deutschland geboren und ihre Mutter hat ihr nie ein Wort serbokroatisch beigebracht, doch gerade sie ist mit einem Mal wie ergriffen von dem Land, in dem ihre Großmutter Lucia noch immer lebt. Sie wirft der Mutter vor, ihr die andere Sprache vorenthalten und sich viel zu schrankenlos dem neuen Land angepasst zu haben.

Es ist die alte Frage nach dem richtigen Weg zwischen notwendiger Integration in die Verhältnisse eines Gastlandes und der vielleicht übertriebenen Assimilation an dieses Gastland, die hier von Saskia Luka mit großer Sensibilität als Konflikt zwischen Mutter und Tochter ausgebreitet wird. Die richtige Antwort auf diese Frage gibt es nicht. Auch das beschreibt Saskia Lukas Roman. Denn die richtige Antwort kann nur individuell von jedem Einzelnen für sich selbst gegeben werden.

Aber ihr Roman zeigt auch, und das hat mich besonders für ihn eingenommen, dass die Anpassungsbereitschaft Marias keine Einbahnstraße ist. Nachdem Lucia gestorben ist und Maria nach Kroatien fährt, um sie dort zu beerdigen, beginnt sie sich diesem Land wieder anzunähern. Vielleicht hat sie tatsächlich keine Nationalität, wie sie es von sich behauptet, aber sie hat Erinnerungen und die werden bei ihren Besuch so stark, dass es ihr immer schwerer fällt, sich wieder von ihrem Geburtsland zu lösen. „Heimat“, denkt sie, „dieses Wort knirschte zwischen den Zähnen wie Sand.“

Saskia Lukas Roman „Tag für Tag“ ist ein konfliktreiches Buch über ein konfliktreiches Thema. Es liefert keine Antworten und erst recht keine Patentrezepte, welche Form von Integration richtig und welcher Grad an Assimilation übertrieben ist. Es zeigt mit großer Ehrlichkeit Menschen, die sich nicht um Politik kümmern wollen, sondern nur um das, was sie persönlich angeht. Auch dies sicher kein Patentrezept, aber zweifellos ein Teil der Realität, in der wir leben. „Tag für Tag“ ist ein Roman, der mit beeindruckender Einfühlungskraft die Lebenserfahrungen einer von Migration geprägten Familie einfängt und dafür wird Saskia Luka mit dem Buchpreis der Stiftung Ravensburger ausgezeichnet. Ich gratuliere Ihnen, Frau Luka, sehr herzlich und danke Ihnen, meine Damen und Herren, für Ihre Aufmerksamkeit.

 

Veröffentlicht unter Personen, Über Bücher | Verschlagwortet mit , , , , , , , | Hinterlasse einen Kommentar

Die Bücher-Bar / Eine Kolumne / Folge 10

Der Büchersäufer stellt hier Bücher vor, die er mit Genuss bis zur Neige geleert, oder an denen er lieber nur kurz genippt hat.

Heute geht es um das Befinden der deutsche Sprache und die Freude, wenn zwei Worte sich ganz besonders lieb haben und ganz, ganz dicht aneinanderrücken

Von Nacktnasen im Knuffelkontakt

Hermann Ehmann: "Läuft! Neue unverzichtbare Bürofloskeln". Verlag C.H.Beck.155 Seiten. 9,95 Euro

Hermann Ehmann: “Läuft! Neue unverzichtbare Bürofloskeln”. Verlag C.H.Beck.155 Seiten. 9,95 Euro

Vor zwei Jahren hätte ich noch keinen Schimmer gehabt, was das Wort Brückenlockdown bedeuten soll. Oder das Wort Balkonklatscher. Oder Bundesnotbremse. Heute werfe ich mit diesen Begriffen um mich wie ein Karnevalsprinz mit Bonbons.

Seltsam: Sobald vom Zustand der deutschen Sprache die Rede ist, wird immer nur genörgelt und gemeckert. So als pfiffe sie auf dem letzten Loch. Niemand lobt sie mal. Niemand spricht von ihren unglaublichen Fähigkeiten. In Wahrheit ist die deutsche Sprache nämlich sehr gut in Form. Sie ist auf gut Deutsch: topfit

In der kurzen Zeit, seit es Corona gibt, hat sie ein ganzes Arsenal neuer Begriffe entwickelt. Wir laden heute zur Abstandsparty ein, begrüßen Freunde mit Fußgruß, trinken mit ihnen ein Distanzbier, reden über den Impfturbo und tragen dabei unsere Kinnwindel. Klar, wir sind pandemüde, bleiben aber weiterhin bemaskt, weil wir nicht rumaerosolen und superspreadern wollen, denn sonst wird wieder geshutdownt.

Ich liebe das. Ich bewundere das Deutsche für die Gabe, zwei alte Worte zusammenzubacken, um damit etwas Neues präzise auf eine Formel zu bringen – wie Niesscham zum Beispiel oder Lockerungsdrängler. Und ist es nicht fabelhaft, wie selbstbewusst sich das Deutsche englische Vokabeln grammatikalisch zurechtkaut, wenn es zum Beispiel darum geht, ob gezoomt oder gar geboostert werden soll?

Andererseits gibt es natürlich auch Worte, die Neues nicht auf kreative Weise neu bezeichnen, sondern die nur dazu dienen, cool zu klingen und das Gemeinte hinter sprachlichen Nebelkerzen verschwinden zu lassen. Der Journalist Hermann Ehmann hat solche Angeber- und Verdunklungsfloskeln gesammelt und kommentiert in seinem Buch „Läuft!“ (Beck, 9,95 Euro). Wer also wissen will, um welche miesen Tricks es geht, wenn die Kollegen im Büro plötzlich von Active Sourcing, von Bandwidth oder vom Syncen reden, der sollte dringend bei Ehmann nachschlagen.

Veröffentlicht unter Bücher-Bar / Eine Kolumne | Verschlagwortet mit , , | Hinterlasse einen Kommentar

Die Bücher-Bar / Eine Kolumne / Folge 9

Der Büchersäufer stellt hier Bücher vor, die er mit Genuss bis zur Neige geleert, oder an denen er lieber nur kurz genippt hat.

Heute geht es um eine Flüchtlingsgeschiche, die das Zeug zu einem großen Roman hat: Wie rette ich einen Bruder, der am anderen Ende Afrikas verschollen ist? Die Geschichte eines Wegs durch die Wüste, die man nicht so schnell vergisst:

Das neue Herz der Finsternis

Von Kain und Abel bis hin zu den Royals William und Harry sind Bibel und Boulevardzeitungen voller Geschichten über Zank zwischen Brüdern. Von Brüderliebe dagegen wird selten erzählt. Die mythischen Zwillinge Castor und Pollux sind das beste Beispiel, das mir dazu einfällt. Als Castor getötet wird, ist Pollux so untröstlich, dass er Gottvater Zeus darum bittet, ihn im Totenreich suchen zu dürfen, um zumindest vorübergehend bei ihm sein zu dürfen.

Ibrahima Balde / Amets Arzallus: "Kleiner Bruder". Aus dem Baskischen übersetzt von Raul Zelik. Suhrkamp Verlag, 14 Euro

Ibrahima Balde / Amets Arzallus: “Kleiner Bruder”. Aus dem Baskischen übersetzt von Raul Zelik. Suhrkamp Verlag, 14 Euro

Ibrahima Balde, ein junger Mann aus Guinea in Westafrika, hat genau diese Geschichte heutzutage erlebt. Und da Ibrahima Analphabet ist, hat der baskische Sänger Amets Arzallus sie für ihn aufgeschrieben: „Kleiner Bruder“ (Suhrkamp, 14 Euro).

Ibrahima arbeitet in Guinea für einen LKW-Fahrer. Da er selten zu Hause ist, kann er sich nicht um seinen kleinen Bruder Alhassane kümmern, obwohl ihm sein Vater kurz vor dem Tod aufgetragen hat, auf ihn zu achten. Irgendwann kommt ein Anruf vom fernen Mittelmeer am anderen Ende Afrikas: Alhassane hat die übliche Fluchtroute quer durch die Sahara in Richtung Europa genommen, ist in ein gefährliches Lager in Libyen geraten und in höchster Not.

Sofort bricht Ibrahima auf. Um zu Alhassane zu kommen, muss er dieselbe Route nehmen wie Tausende Flüchtlinge vor ihm und nach ihm. Er kämpft um Plätze in Bussen, in LKWs oder Pickups und einmal muss er sogar hunderte Kilometer durch die Wüste, bis seine Beine unerträglich anschwellen. An jedem Etappenziel wird er von Fluchthelfern ausgeraubt und schuftet dann wochenlang für Hungerlöhne, um die Weiterfahrt bezahlen zu können. Er wird geschlagen, er wird beschossen, er wird erpresst und einmal sogar in eine Art  Gefängnis gesteckt – doch nichts kann ihn stoppen, nichts. Kein Weg ist zu weit, kein Risiko zu groß. Er will zu seinem Bruder.

Das riesige Lager am libyschen Meer erweist sich als wahres Inferno, irgendwo in diesem Lager wird immer gerade gekämpft, geschossen, gestorben. Das neue Herz der Finsternis. Aber Ibrahima zögert nicht, er betritt dieses Totenreich bewaffnet nur mit einem winzigen Fotos seines Bruders und dem unbeirrbaren Glauben, sich inmitten der Gefechte zu ihm durchfragen zu können. Es ist eine sehr moderne, sehr traurige Heldengeschichte.

 

Veröffentlicht unter Bücher-Bar / Eine Kolumne | Verschlagwortet mit , | Hinterlasse einen Kommentar

Die Bücher-Bar / Eine Kolumne / Folge 8

Der Büchersäufer stellt hier Bücher vor, die er mit Genuss bis zur Neige geleert, oder an denen er lieber nur kurz genippt hat.

Heute geht es um Jamaica Kincaid: Eine Autorin, die aus einem wahren Sonnenparadies stammt und so eindringlich von dessen Schattenseiten erzählt, dass ich zu frösteln begann.

Der Fluch der Karibik

Jamaica Kincade: "Nur eine kleine Insel". Übersetzt von Ilona Lauscher. Kampa Verlag, 18 Euro

Jamaica Kincade: “Nur eine kleine Insel”. Übersetzt von Ilona Lauscher. Kampa Verlag, 18 Euro

Jamaica Kincaid wurde 1949 auf der Karibikinsel Antigua geboren. Mit 17 ging sie als Au-pair-Mädchen nach New York. Neben der Arbeit büffelte sie an einer Abendschule, erhielt ein Stipendium, brach aber ihr Studium ab, um Schriftstellerin zu werden. Schon ihre frühen Short-Stories erschienen in den besten Zeitschriften, in „The Paris Review“ und im „New Yorker“. Eine der Geschichten im “New Yorker” trug den Titel “Girl”, sie ist nur 40 Zeilen lang, aber ebenso ergreifend wie kurz.  Heute lehrt Jamaica Kincade, wenn sie keine Romane oder Erzählungen schreibt, an der Harvard University.

Antigua ist keine große Insel, nur 16 Kilometer lang und 24 Kilometer breit. Sie ist wunderschön und bettelarm. Hundertfünfzig Jahre lang ließen hier weiße Siedler afrikanische Sklaven auf Plantagen um ihr Leben schuften. Erst 1981, vor vierzig Jahren, wurde das Land wirklich unabhängig.

Jamaica Kincaid gehört nicht zu den Autorinnen und Autoren, die von dem Glück berichten, dass die Sklaverei abgeschafft wurde, sondern zu denen, die voll Zorn sind darüber, dass Nationen, die sich gern zivilisiert nennen, jemals Sklaverei betrieben haben. In ihrem Buch „Nur eine kleine Insel“ (Kampa, 18 Euro) erzählt sie vom vergangenen Elend Antiguas unter britischer Herrschaft und vom Elend danach unter der angeblich unabhängigen Regierung.

Sie berichtet strikt aus der Perspektive der ehemaligen Sklaven, denen jedes Verständnis fehlt für die Brutalität ihrer ehemaligen Herren: „Wir dachten, sie seien wie Tiere, ein Stück unter dem menschlichen Niveau.“ Queen Victoria, in deren Namen so viel Unrecht verübt wurde, ist für sie nichts als eine „abstoßende Person“. Und auf die Frage, warum es ihrem Land nach seiner Befreiung noch immer nicht besser geht, antwortet Jamaica Kincaid, dass die korrupte neue Regierung genau das nachahmt, was sie von dem Kolonialregime gelernt hat: wie man Leute einsperrt oder umbringt, und wie man den Reichtum des Landes abräumt, um ihn auf Schweizer Konten zu deponieren.

 

Veröffentlicht unter Bücher-Bar / Eine Kolumne, Personen, Über Bücher | Verschlagwortet mit | Hinterlasse einen Kommentar

Die Bücher-Bar / Eine Kolumne / Folge 7

Was bleibt uns in Zeiten der Krise? Die Bücher! Das Lesen! Abenteuer im Kopf.

Der Büchersäufer stellt hier Bücher vor, die er mit Genuss bis zur Neige geleert, oder an denen er lieber nur kurz genippt hat.

Heute: Nature writing ist derzeit zwar Trend, aber nicht so mein Ding. Ich bin zwei mit der Natur und war deshalb sofort neugierig auf ein schmales Buch mit dem vielversprechenden Titel Ein Stadtmensch im Wald.

Die Flucht zurück zu den Menschen

Ich bin in Städten aufgewachsen. Ich habe mich in Städten immer wohl gefühlt. Von Wäldern kann ich das nicht sagen. Wälder sind gefährlich. Als Kind stellte ich fest, dass es Leute gibt, die Bäume nicht Bäume nennen, sondern Ulme, Erle, Esche, Eiche oder von mir aus auch Linde. Ich fand das überflüssig, letztlich sehen sie alle gleich aus: Stamm, Äste, Grünzeug. Ein wenig meine ich das heute noch.

Jetzt las ich das Buch „Ein Stadtmensch im Wald“ (Galiani, 14 Euro). Es stammt angeblich von dem Autor H.D. Walden. Doch das ist ein Pseudonym, hinter dem der Schweizer Schriftsteller Linus Reichlin steckt.

H.D.Walden (Linus Reichlin): "Ein Stadtmensch im Wald". Galiani Verlag, 112 Seiten, 14 Euro

H.D.Walden (Linus Reichlin): “Ein Stadtmensch im Wald”. Galiani Verlag, 112 Seiten, 14 Euro

Erzählt wird von einem Naturbanausen, der aus Furcht vor Corona in eine einsame Waldhütte flieht. Er will nichts als allein und in Sicherheit sein. Bäume, Tiere, Pflanzen sind ihm fremd wie der Mars. Doch dann kommen ihn die Tiere besuchen, weil sie Futter wollen, und er beginnt, sie mit Hilfe einer App allmählich kennenzulernen. Was zwei Flügel hat, ist ein Vogel, soviel weiß er. Doch die App erklärt ihm, was ein Kleiber ist, was ein Dompfaff oder eine Mönchsgrasmücke.

Vor allem verliebt er sich in einen Waschbären, der jede Nacht um zwei Uhr auftaucht, um Meisenknödel zu klauen. Kurz: Nach und nach verwandelt ihn die Waldeinsamkeit in einen heiligen Franziskus, der mit den Tieren spricht und lebt.

Bis er einen Schuss hört und begreift, dass es im Wald auch Jäger gibt. Jäger, die Waschbären ermorden. Tagelang rennt er durch den Forst, um den Jäger um das Leben seines Waschbären anzuflehen. Bis ihm klar wird, wie verrückt sein Wunsch ist, ein einzelnes Tier retten zu wollen, und dass der Wald beginnt, ihn tiefer und tiefer in eine Wahnwelt einzuspinnen. Schleunigst packt er seine Sachen und flieht zurück zu den Menschen, zurück in die Stadt. Ein kluges, ein witziges Buch, ein Bericht aus dem Herzen der Finsternis namens Wald.

Veröffentlicht unter Bücher-Bar / Eine Kolumne | Verschlagwortet mit , | Hinterlasse einen Kommentar

Die Bücher-Bar / Eine Kolumne / Folge 6

Was bleibt uns in Zeiten der Krise? Die Bücher! Das Lesen! Die Abenteuer im Kopf.

Der Büchersäufer stellt hier Bücher vor, die er mit Genuss bis zur Neige geleert, oder an denen er lieber nur kurz genippt hat.

Heute macht sich der Büchersäufer Gedanken, ob er bald schon im Wald lebt und an Schuhen kaut

Über die Stadt von morgen und andere Katastrophen

Früher lebten die Füchse im Wald. Heute ziehen sie den Großstadtdschungel vor. Forscher haben nachgezählt: In Berlin trifft man inzwischen fünfmalmehr Füchse als in einer berlingroßen Fläche in Brandenburg. Einer von ihnen hat inzwischen sogar seinen eigenen Instagram-Kanal (@derbergmannfuchs)

58394688zDa gleichzeitig immer mehr Menschen aufs Land ziehen, ist der Trend klar: Die Städte werden voller Füchse sein, die Menschen in Wäldern hausen. Wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen: Hier ist eine groß angelegte Umvolkung durch die fuchsbevorzugende Merkel-Regierung im Gange, und die AfD tut nichts dagegen.

In Berlin sind bereits Füchse beobachtet worden, die mit dem Bus zur Arbeit fahren. Empört stellten die übrigen Fahrgäste fest, dass die Tiere keine Tickets haben. Nachfragen bei den Behörden ergaben, dass die Füchse keine Fahrkarten brauchen, da sie künftig als Kontrolleure eingesetzt werden und menschliche Schwarzfahrer während der Fahrt über Bord gehen lassen sollen.

Höchste Zeit, sich über die fuchsrote Gefahr zu informieren. Unter dem originellen Titel „Füchse“ sind jetzt gleich zwei neue Bücher über Füchse erschienen von Karin Schumacher (Matthes & Seitz, 20 Euro) und Adele Brand (C.H.Beck, 22 Euro). Sie verraten alles, was man über die neuen Nachbarn aus dem Bau nebenan wissen muss.

58013578zSchon in den Märchen treten sie als gewitzte Betrüger und Räuber auf. Bedeutende Vertreter der Füchse finden sich inzwischen  im Autobau (VW Fox), in der Hetzjagd (Fox News) beim Tanz (Foxtrott) und bei der Balkonbepflanzung (Fuchsie).

Davon, wie gefährlich die Raubzüge der Füchse werden können, weiß die Bevölkerung der Kleinstadt Föhren in Rheinland-Pfalz ein schmerzvolles Lied zu singen. Zwischen 2009 und 2010 stahl eine Füchsin rund 200 Schuhe von Terrassen oder Hauseingängen. In ihrem Bau wurden 86 Stiefel, Pantoffeln oder Pumps gefunden und an die rechtmäßigen Besitzer zurückerstattet. Doch die Füchsin ließ sich nicht beirren und entwendete oft genug dieselben Exemplare noch einmal. Die Einwohner Föhrens entwickelten trotzdem viel Verständnis für die schuhfetischistische Füchsin und tauften sie auf den Namen „Imelda“.

 

Veröffentlicht unter Bücher-Bar / Eine Kolumne | Verschlagwortet mit , , , | Hinterlasse einen Kommentar

Die Bücher-Bar / Eine Kolumne / Folge 5

Was bleibt uns in Zeiten der Krise? Die Bücher! Das Lesen! Und das Reisen im Kopf.

Der Büchersäufer stellt hier Bücher vor, die er mit Genuss bis zur Neige geleert, oder an denen er lieber nur kurz genippt hat.

Heute: Der Büchersäufer hat als Stubenhocker im Lockdown Speck angesetzt und fragt sich, wie er bis zum Post-Corona-Sommer seine Bikini-Figur zurückbekommen kann.

Was Sie schon immer mal tun wollten, sich aber nie trauten

So wie es derzeit aussieht, werden wir alle nur noch ein paar Wochen Stubenarrest haben. Es ist also allmählich an der Zeit darüber nachzudenken, wie man in den verbleibenden letzten Lockdown-Wochen wieder so in Form kommen will, dass man sich außer Haus überhaupt sehen lassen kann. Dafür bieten sich vor allem zwei Tätigkeitsbereiche an.

60091392z Der zweite ist das Kochen. Nichts vermisst der daheim eingesperrte Arbeitnehmer so schmerzlich, wie den täglichen Gang zur liebgewordenen Kantine. Um die Verlusterfahrung in Grenzen zu halten, wurde für die Quarantäne-Zeiten „Das große Home-Office-Kochbuch“ entwickelt (Neumann & Göbel, 8 Euro). Das Werk bringt 77 Rezepte und dazu einen Haufen revolutionäre Küchentricks speziell für Leute, die ihre eigene Küche in Vor-Lockdown-Zeiten eher selten betreten haben. Zum Beispiel den Tipp, es mal mit Meal Prepping zu versuchen. Meal Prepping ist das coole Wort für Omas „Vorkochen“: Wer heute für zwei Tage kocht, hat morgen noch was im Topf. Super Idee. Oder den Tipp, sogenannte „Vorräte“ anzulegen, statt für jede Tiefkühlpizza einzeln zum Supermarkt zu laufen. Man glaubt es nicht.

71MMGYA6a9L._AC_UY327_QL65_An den fortgeschrittenen Corona-Koch wendet sich das Gerüchteküchen-Rezeptbuch von Aylin Sönmez: „Lügenkresse“ (Independet, 8,90 Euro). Es will randalierenden Verschwörungstheoretikern, Reichsbürgern oder Maskenmuffeln auf nahrhafte Weise das Maul stopfen. Auf der Speisekarte stehen hier unter anderem das „Geimpfte Spahnferkel“, die „Ofenkartoffel im Aluhut“ und der „Vegane Reichsburger“.

58506566nSollte damit noch nicht jeder Hunger gestillt sein, ist es an der Zeit, sich auf den anderen der beiden Tätigkeitsbereiche für letzte lange Lockdown-Abende zu besinnen. Das entsprechende Lehrbuch stammt von der Amerikanerin Libby Jones und heißt „Striptease daheim“ (Matthes & Seitz, 15 Euro). Es enthält nicht nur eine kluge Choreografie, wie Damen (oder von mir aus Herren) Kleidungsstücke ablegen können, sondern auch zur Vorbereitung auf den großen Auftritt passende Schmink- und Gymnastiktipps. Und außerdem detaillierte Anleitungen zu Stripteasetypischen Bewegungsmustern wie dem „Shimmy“, dem „Bounce“, dem „Stomp“ und – oh mein Gott! – sogar den „Bump“! Unfassbar! Ein Buch, das in Coronazeiten (aber auch danach) in keinem Haushalt fehlen sollte.

Veröffentlicht unter Bücher-Bar / Eine Kolumne | Verschlagwortet mit , | Hinterlasse einen Kommentar

Traditionsbuchhandlung in Not

Das kulturelle Wohnzimmer von Frankfurt-Bornheim ist in Gefahr

Trotz ungekündigtem Vertrag schickt der Vermieter dem Antiquariat eine Räumungsklage

Die Buchhandlung “Schutt” von Angelika Schleindl in Frankfurt-Bornheim ist wirklich etwas besonderes. Ich kaufe meine Bücher seit vielen Jahren dort, gehe zu den Lesungen, genieße die Gastfreundschaft des Antiquariats. Ich weiß noch nicht, wie ich (oder: wie man) der Buchhandlung gegen die unmotivierte und meines Erachtens rechtswidrige Räumungsklage helfen kann. Aber ich möchte hier unbedingt auf den Hilferuf in Form eines Offenen Briefes der Buchhändlerin hinweisen. Hier ist ein Stück Frankfurter Kultur in Gefahr.

Traditionsbuchhandlung in Not!

Seit über zwanzig Jahren führe ich mit meinem Team die Buchhandlung Schutt in Bornheim Mitte. Diese Traditionsbuchhandlung gehört zu Bornheim wie das Uhrtürmchen und sie ist auch fast so alt.
Der Vermieter der Buchhandlung hat mir eine Räumungsklage geschickt, die am 24. September vor dem Landgericht Frankfurt verhandelt wird.

Seitdem ich mich gegen die Zerschlagung der Buchhandlung und den Verlust des Arbeitsplatzes meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wehre, werde ich mit diversen Schikanen mürbe gemacht.

Die Absicht des Hausbesitzers ist es, die Buchhandlung auf den Verkaufsladen im Vorderhaus zu reduzieren –  wobei die Seele der Buchhandlung das Antiquariat im Hinterhof ist. Hier finden regelmäßig Lesungen, Schreibkurse, Chorproben, Diskussionen, Konzerte statt – hundert Quadratmeter Kultur in Bornheim – und nicht nur für die Menschen dieses Stadtteils. Ich habe diesen Raum für 100.000 Euro renovieren und restaurieren lassen und eine Küche, ein Bad, eine neue Heizung und neue Fenster einbauen lassen.

Das Antiquariat in der Arnsburger Straße ist ein ganz besonderer Ort. Es gibt keinen zweiten dieser Art in Frankfurt – er ist das kulturelle Wohnzimmer dieses Viertels. Hier gab es legendäre Veranstaltungen mit Robert Gernhardt, Eckard Henscheid, Wilhelm Genazino, Martin Mosebach, Michi Herl und Jan Seghers.  Er ist und war das Zuhause der Neuen Frankfurter Schule. Hier wurden Autoren bekannt gemacht und Buchpremieren gefeiert.

Ich habe einen gültigen Vertrag mit dem Besitzer und bin nicht Willens und auch nicht in der Lage, eine Mieterhöhung von fast 2.000 Euro zu bezahlen. Sollte die Buchhandlung auf den kleinen Verkaufsraum reduziert werden, ist sie nicht mehr lebensfähig und Bornheim verliert sein kulturelles Zentrum.

Gerade während des Shut downs haben wir eine Unterstützung unserer Kundinnen und Kunden erfahren, die uns überwältigt hat. Wir wurden mit Kaffee und Gebäck versorgt, es wurden Büchergutscheine gekauft wie sonst nur vor Weihnachten, wir haben Trinkgelder bekommen wie die Bedienungen in Edelrestaurants.

Kampflos werden wir die älteste Traditionsbuchhandlung der internationalen Messestadt Frankfurt nicht aufgeben!

Ich lade Sie gerne zu einem persönlichen Gespräch ein.

Buchhandlung Schutt
Angelika Schleindl
Arnsburger Straße 76
60385 Frankfurt/Main
Tel. 069/435 173
handy: 0179/13 777 11
info@buchhandlung-schutt.de
 

 

Veröffentlicht unter Uncategorized | Verschlagwortet mit , | 2 Kommentare

Die Bücher-Bar 4 / Eine Kolumne

Was bleibt uns in Zeiten der Krise? Die Bücher! Das Lesen! Und das Reisen im Kopf.

Der Büchersäufer stellt hier Bücher vor, die er mit Genuss bis zur Neige geleert, oder an denen er lieber nur kurz genippt hat.

Heute: Der Büchersäufer macht sich Sorgen über die Seuchenanfälligkeit der Verlage und hat einen Vorschlag

Nachdenken über das tödlichste Tier der Welt

Heinrich Heine: Ich rede von der Cholera. Hoffmann und Campe. 59 Seiten. 14 Euro

Heinrich Heine: Ich rede von der Cholera. Hoffmann und Campe. 59 Seiten. 14 Euro

Die Verlage stürzen sich derzeit auf die großen Seuchen, dass es eine Pracht ist. Nach Dutzenden von aktuellen Corona-Büchern, kommen jetzt die historischen Pandemien dran. Von Daniel Defoe erscheint das 300 Jahre alte Buch über „Die Pest in London“ (Jung & Jung, 25 Euro). Von Heinrich Heine seine knapp 190 Jahre alte Reportage „Ich rede von der Cholera“ (Hoffmann und Campe, 14 Euro). Dazu Erinnerungen an die 100 Jahre alte Spanische Grippe von Harald Salfellner (Vitalis, 24,30 Euro) und Wilfried Witte (Wagenbach, 12 Euro).

Für jedes Seuchen-Interesse ist gesorgt. Ob sie nun ein Buch haben wollen über „Pest und Corona“ (Herder Verlag, 18 Euro) oder eines über „Pest und Cholera“ (Unionverlag, 12,95 Euro), ob über „Grippe, Pest und Cholera“ (Steiner Verlag, 24,90 Euro) oder über „Grippe, Cholera und Pest“ (BoD, 10 Euro).  Sogar medizinisch gewagte Neukombinationen werden erprobt wie „Das Tagebuch eines Geistlichen während der Cholerapest zu Saratow“ (BoD, 10 Euro) oder „Die Scharlachpest“ (BoD, 12,90 Euro).

Daniel Defoe: Die Pest in London. Übersetzung: Rudolf Schaller. Verlag Jung & Jung. 386 Seiten. 25 Euro

Daniel Defoe: Die Pest in London. Übersetzung: Rudolf Schaller. Verlag Jung & Jung. 386 Seiten. 25 Euro

Ich weiß nicht, was Christian Drosten dazu sagt. Aber um mal den Gerechtigkeitsgedanken ins Spiel zu bringen: Bei so viel Aufmerksamkeit für Seuchen müssen sich, denke ich mir, die übrigen Leiden und Gebrechen ziemlich zurückgesetzt vorkommen. Sicher, der im Buchgeschäft wichtige Gruselfaktor ist bei Seuchen besonders hoch, weil die Opfer schnell nach Millionen zählen. Aber auch in dieser Hinsicht wäre es leichtfertig, nur auf Pest & Co. zu setzen.

Nehmen wir zum Beispiel das gefährlichste Tier der Welt, die Mücke, die Malaria überträgt. Sie infiziert pro Jahr rund 200 Millionen Menschen, über eine Million davon sterben. Pro Jahr.

Natürlich ist der Buchmarkt an den Chancen, die so eine Dauerkatastrophe bietet, nicht achtlos vorübergegangen. Vor acht Jahren schrieb die Autorin Carmen Stephan einen Roman über die Krankheit, und zwar aus der Perspektive der Mücke, die gerade eine junge Frau angesteckt hat: „Mal Aria“ (Fischer, 9,99 Euro). Wäre das nicht ein Tipp für die aktuelle Corona-Literatur? Den Krimi aus Virus-Perspektive gibt es noch nicht. Christian Drostens erster Fall! Garantierter Bestseller. Herr Drosten, übernehmen Sie!

Carmen Stephan: "Mal Aria". Roman. Fischer Taschenbuch. 9,99 Euro

Carmen Stephan: “Mal Aria”. Roman. Fischer Taschenbuch. 9,99 Euro

Veröffentlicht unter Bücher-Bar / Eine Kolumne | Verschlagwortet mit , , , , , , | Hinterlasse einen Kommentar