Die Bücher-Bar / Eine Kolumne / Folge 9

Der Büchersäufer stellt hier Bücher vor, die er mit Genuss bis zur Neige geleert, oder an denen er lieber nur kurz genippt hat.

Heute geht es um eine Flüchtlingsgeschiche, die das Zeug zu einem großen Roman hat: Wie rette ich einen Bruder, der am anderen Ende Afrikas verschollen ist? Die Geschichte eines Wegs durch die Wüste, die man nicht so schnell vergisst:

Das neue Herz der Finsternis

Von Kain und Abel bis hin zu den Royals William und Harry sind Bibel und Boulevardzeitungen voller Geschichten über Zank zwischen Brüdern. Von Brüderliebe dagegen wird selten erzählt. Die mythischen Zwillinge Castor und Pollux sind das beste Beispiel, das mir dazu einfällt. Als Castor getötet wird, ist Pollux so untröstlich, dass er Gottvater Zeus darum bittet, ihn im Totenreich suchen zu dürfen, um zumindest vorübergehend bei ihm sein zu dürfen.

Ibrahima Balde / Amets Arzallus: "Kleiner Bruder". Aus dem Baskischen übersetzt von Raul Zelik. Suhrkamp Verlag, 14 Euro

Ibrahima Balde / Amets Arzallus: “Kleiner Bruder”. Aus dem Baskischen übersetzt von Raul Zelik. Suhrkamp Verlag, 14 Euro

Ibrahima Balde, ein junger Mann aus Guinea in Westafrika, hat genau diese Geschichte heutzutage erlebt. Und da Ibrahima Analphabet ist, hat der baskische Sänger Amets Arzallus sie für ihn aufgeschrieben: „Kleiner Bruder“ (Suhrkamp, 14 Euro).

Ibrahima arbeitet in Guinea für einen LKW-Fahrer. Da er selten zu Hause ist, kann er sich nicht um seinen kleinen Bruder Alhassane kümmern, obwohl ihm sein Vater kurz vor dem Tod aufgetragen hat, auf ihn zu achten. Irgendwann kommt ein Anruf vom fernen Mittelmeer am anderen Ende Afrikas: Alhassane hat die übliche Fluchtroute quer durch die Sahara in Richtung Europa genommen, ist in ein gefährliches Lager in Libyen geraten und in höchster Not.

Sofort bricht Ibrahima auf. Um zu Alhassane zu kommen, muss er dieselbe Route nehmen wie Tausende Flüchtlinge vor ihm und nach ihm. Er kämpft um Plätze in Bussen, in LKWs oder Pickups und einmal muss er sogar hunderte Kilometer durch die Wüste, bis seine Beine unerträglich anschwellen. An jedem Etappenziel wird er von Fluchthelfern ausgeraubt und schuftet dann wochenlang für Hungerlöhne, um die Weiterfahrt bezahlen zu können. Er wird geschlagen, er wird beschossen, er wird erpresst und einmal sogar in eine Art  Gefängnis gesteckt – doch nichts kann ihn stoppen, nichts. Kein Weg ist zu weit, kein Risiko zu groß. Er will zu seinem Bruder.

Das riesige Lager am libyschen Meer erweist sich als wahres Inferno, irgendwo in diesem Lager wird immer gerade gekämpft, geschossen, gestorben. Das neue Herz der Finsternis. Aber Ibrahima zögert nicht, er betritt dieses Totenreich bewaffnet nur mit einem winzigen Fotos seines Bruders und dem unbeirrbaren Glauben, sich inmitten der Gefechte zu ihm durchfragen zu können. Es ist eine sehr moderne, sehr traurige Heldengeschichte.

 

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