Der Büchersäufer stellt hier Bücher vor, die er mit Genuss bis zur Neige geleert, oder an denen er lieber nur kurz genippt hat.
Heute geht es um Jamaica Kincaid: Eine Autorin, die aus einem wahren Sonnenparadies stammt und so eindringlich von dessen Schattenseiten erzählt, dass ich zu frösteln begann.
Der Fluch der Karibik
Jamaica Kincaid wurde 1949 auf der Karibikinsel Antigua geboren. Mit 17 ging sie als Au-pair-Mädchen nach New York. Neben der Arbeit büffelte sie an einer Abendschule, erhielt ein Stipendium, brach aber ihr Studium ab, um Schriftstellerin zu werden. Schon ihre frühen Short-Stories erschienen in den besten Zeitschriften, in „The Paris Review“ und im „New Yorker“. Eine der Geschichten im “New Yorker” trug den Titel “Girl”, sie ist nur 40 Zeilen lang, aber ebenso ergreifend wie kurz. Heute lehrt Jamaica Kincade, wenn sie keine Romane oder Erzählungen schreibt, an der Harvard University.
Antigua ist keine große Insel, nur 16 Kilometer lang und 24 Kilometer breit. Sie ist wunderschön und bettelarm. Hundertfünfzig Jahre lang ließen hier weiße Siedler afrikanische Sklaven auf Plantagen um ihr Leben schuften. Erst 1981, vor vierzig Jahren, wurde das Land wirklich unabhängig.
Jamaica Kincaid gehört nicht zu den Autorinnen und Autoren, die von dem Glück berichten, dass die Sklaverei abgeschafft wurde, sondern zu denen, die voll Zorn sind darüber, dass Nationen, die sich gern zivilisiert nennen, jemals Sklaverei betrieben haben. In ihrem Buch „Nur eine kleine Insel“ (Kampa, 18 Euro) erzählt sie vom vergangenen Elend Antiguas unter britischer Herrschaft und vom Elend danach unter der angeblich unabhängigen Regierung.
Sie berichtet strikt aus der Perspektive der ehemaligen Sklaven, denen jedes Verständnis fehlt für die Brutalität ihrer ehemaligen Herren: „Wir dachten, sie seien wie Tiere, ein Stück unter dem menschlichen Niveau.“ Queen Victoria, in deren Namen so viel Unrecht verübt wurde, ist für sie nichts als eine „abstoßende Person“. Und auf die Frage, warum es ihrem Land nach seiner Befreiung noch immer nicht besser geht, antwortet Jamaica Kincaid, dass die korrupte neue Regierung genau das nachahmt, was sie von dem Kolonialregime gelernt hat: wie man Leute einsperrt oder umbringt, und wie man den Reichtum des Landes abräumt, um ihn auf Schweizer Konten zu deponieren.