Im November 2019 hielt ich eine Laudatio auf Saskia Luka anlässlich der Verleihung des Buchpreises der Stiftung Ravensburger für ihren Roman „Tag für Tag“. In der Zeit danach bin ich so vollständig von der Arbeit an meinem Buch “Februar 33″ verschlungen worden, dass ich weder die Zeit noch die Energie fand, die Rede online zu stellen. Das tat mir vor allem leid, weil Saskia Lukas Roman über drei Frauengenerationen und die Jugoslawienkriege ein sehr bedenkenswerter literarischer Versuch über eine unpolitische Haltung in hochpolitischen Zeiten ist. Ich stelle die Laudatio deshalb jetzt nachträglich auf meine Blog und zur Diskussion.
“Das geht mich nichts an”
Ist Politik die Kunst, die Leute daran zu hindern, sich um das zu kümmern, was sie angeht ?
Sehr geehrte Damen und Herren,
die Kriege im ehemaligen Jugoslawien sind zu einem großen Thema der deutschsprachigen Literatur geworden. Das klingt im ersten Augenblick paradox, doch das ist es nicht. Die Debatte um Peter Handkes Verteidigung serbischer Nationalisten und den ihm zugesprochenen Nobelpreis hat 2019 nicht nur im Literaturbetrieb unversöhnliche Gegensätze aufgerissen. Sie zeigte, wie nah uns diese Kriege sind, auch wenn sie inzwischen zwanzig Jahre oder mehr zurückliegen und jenseits der deutschen Landesgrenzen stattfanden. Die Zahl der Romane, Erzählungen, Theaterstücke oder Gedichte in deutscher Sprache – von Saša Stanišićs „Herkunft“ bis Oliver Bottinis „Der kalte Traum“, von Nicol Ljubićs „Meeresstille“ bis Marco Dinić „Die guten Tage“ – die von Erfahrungen aus diesen Kriegen erzählen und literarisch zu verarbeiten versuchen, ist inzwischen fast unabsehbar geworden.
Saskia Luka, die mit dem Buchpreis der Stiftung Ravensburger auszeichnet wird, entwirft in ihrem großartigen Familienroman „Tag für Tag“ die Geschichte dreier Generationen, deren Leben auf jeweils ganz unterschiedliche Weise durch diese Kriege geprägt, verformt, und zerrissen wird. Das Besondere und Riskante an Saskia Lukas Roman wird sofort deutlich, sobald man sich vor Augen stellt, was in diesem Roman NICHT vorkommt. In ihrem Roman spielt Politik fast keine Rolle. All jene Fragen, die in der Debatte um Handke im Zentrum stehen, also wie der Krieg begann, wer wann welches Massaker aus welchen Gründen beging, ob es ein Rache-Massaker war oder ein versuchter Genozid, kurz: wer die Schuld trägt – all diese Fragen haben in diesem Buch keinen Platz. Dieser Roman erzählt von den gleichen Kriegen, aber er erzählt eine andere Geschichte. Eine Familiengeschichte.
Es gibt eine Szene in Saskia Lukas Roman, die diesen Gegensatz mit charakteristischer Offenheit klarstellt. Es ist bezeichnenderweise eine häusliche Szene. Die in Jugoslawien geborenen Maria und ihr deutscher Mann Georg, der dann viel zu früh stirbt, leben in einer glücklichen Ehe, Streit kennen sie kaum. Doch als die Kämpfe in Jugoslawien aufflammen, bricht auch ein Konflikt zwischen ihnen auf – daheim im friedlichen Deutschland. Und zwar weil sich Maria nicht für den Krieg interessiert, der ihr Geburtsland zerstört, sie will keine Nachrichten hören, sie will keine Position beziehen, sie sagt: „Das geht mich nichts an.“ Georg ist daraufhin außer sich: „Wie kannst Du so gleichgültig sein?“ Sie könne doch nicht einfach so weiterleben wie zuvor. „Doch“, antwortet Maria, „das können wir. Das tun alle anderen auch.“ Ihr Mann hält das für Wahnsinn, und Maria entgegnet ihm, der Krieg sei Wahnsinn. Vor Zorn wirft Georg erst die Zeitung, dann Bücher durch den Raum und schließlich alles, was er zu fassen kriegt. „Ich möchte hier glücklich sein“, bekennt Maria. „Um glücklich zu sein“, erwidert ihr Mann, „musst du erst einmal etwas empfinden.“
Kurz: Der Krieg geht auch an Maria in Deutschland nicht spurlos vorüber. Zumindest die Atmosphäre der Aggression und der Wut schwappt über die Landesgrenzen hinweg bis in ihre Ehe hinein. Obwohl sie versucht, sich und die Ihren aus allem herauszuhalten, fliegen plötzlich Zeitungen, Bücher und andere Gegenstände durch die Wohnung und wird ihr von ihrem Mann die Fähigkeit zum Empfinden und Mitempfinden abgesprochen. Aber das ändert an ihrer Haltung nichts. Dieser Krieg ist nicht ihr Krieg, sie will mit ihm nichts zu tun haben.
Womit aber will sie stattdessen etwas zu tun haben?
Ich möchte, bevor ich dieser Frage weiter nachgehe, kurz an den französischen Philosoph und Schriftsteller Paul Valéry (1871-1945) erinnern. Valéry hatte die Gewohnheit, morgens um fünf Uhr aufzustehen, um noch vor Tau und Tag ebenso ungeschützt wie ungeordnet in simple Schulheften zu notieren, was ihm durch den Kopf ging. In einem der Hefte findet sich ein Gedanke, der berühmt wurde und der im radikalen Widerspruch zu allem zu stehen scheint, was wir heute unter staatsbürgerlicher Verantwortung in einer freiheitlichen Demokratie verstehen. „Politik“, schrieb Valéry, „Politik ist die Kunst, die Leute daran zu hindern, sich um das zu kümmern, was sie angeht.“
Im Sinne dieser Definition scheint mir die Maria, die Saskia Luka in ihrem Roman beschreibt, ein restlos unpolitischer Mensch zu sein. Sie will sich von Politik und Krieg nicht daran hindern lassen, sich ganz entschieden um das zu kümmern, was sie in ihren Augen etwas angeht. Und das sind: Ihre Arbeit als Künstlerin, die Sorge um ihre Familie, die Liebe zu ihrem Mann, die Erziehung ihrer Tochter, die zahllosen kleinen und doch so fundamentalen Mühen des Alltags. Natürlich ist sich Maria klar darüber, dass auch sie Verantwortung trägt und Fehler gemacht hat. Sie hat als junger Frau nicht reagiert, als die verschiedenen Nationalismen im jugoslawischen Vielvölkerstaat plötzlich aufblühten, als „einige kroatische und serbische Schüler, die gestern noch Jugoslawen gewesen waren, plötzlich aufeinander losgingen“, als Mokkatassen und Feuerzeuge mit kroatischen Wappen auftauchten. Doch nachdem Jugoslawien von Fanatikern gespalten und mit populistischen Mitteln aufgehetzt wurde, ist es für sie die einzig denkbare Reaktion, sich eben nicht aufhetzen zu lassen, eben nicht Partei zu ergreifen und mitzukämpfen, sondern das Land zu verlassen, neu anzufangen und sich dort, in dem neuen Land, „um das zu kümmern, was sie angeht“.
Es ist eine Entscheidung, die seinerzeit viele Menschen in Jugoslawien trafen. Wenn ich hier eine kurze persönliche Erinnerung einflechten darf: Unser ältester Sohn Nicolas ging damals in den Kindergarten des Krankenhauses, für das meine Frau arbeitete. Weil in dem Krankenhaus auch zahllose Flüchtlinge aus den jugoslawischen Teilstaaten angestellt waren, traf Nicolas dort auf so viele Spielkameraden, die serbokroatisch sprachen, dass er sich schließlich bei uns beschwerte, wir hätten ihm „diese andere Sprache“ ruhig beibringen können, es sei für ihn mitunter ganz schön lästig, nur Deutsch zu können.
Unser Sohn machte damit bereits frühzeitig eine Erfahrung, die wir jetzt in der deutschen Literatur nachvollziehen können. Es ist unmöglich geworden, sich vor den Kriegen anderer Länder hinter Grenzen verschanzen zu wollen. Die Folgen dieser Kriege, die Flüchtlinge und ihre Konflikte verändern auch unser Leben. Und deshalb ist es eben nicht paradox, sondern ganz natürlich, wenn die Kriege des zerfallenden Jugoslawien heute zu den wichtigen Themen der deutschsprachigen Literatur zählen. Denn diese Kriege sind zu Geschichte geworden und zu Geschichten, die sich die Menschen hierzulande erzählen, egal ob sie erst seither oder immer schon hier lebten.
Die Geschichten der drei Frauengenerationen, die uns Saskia Luka in ihrem Roman erzählt, sind beides zugleich: persönlich und paradigmatisch. Da ist die Älteste, Lucia, die wie versteinert ist und Jugoslawien nicht verließ, obwohl ihr der Krieg alles genommen hat: ihr Mann ist tot, ihre beiden Söhne sind tot und ihre Tochter ist geflohen. Ihr Leben ist pures Ausharren und Erdulden. „Lucia bleibt stehen und lässt das Leben an sich vorüberziehen“, heißt es einmal in dem Roman.
Ihre Tochter Maria aber erweist sich als das Gegenteil, sie bleibt nicht stehen, sondern flieht und passt sich bereitwillig den neuen Lebensumständen an. Sie ist alles andere als versteinert, sondern höchst flexibel, sie ändert ihren Namen, lernt die fremde Sprache makellos, sie will ihr Geburtsland, das der nationalistischen Raserei verfallen ist, abschütteln und dort leben, wo man sie in Frieden leben lässt: „Mein Leben hat keine Nationalität“, sagt sie einmal: „Ich bin Mensch. Darüber diskutiere ich nicht mehr.“
Doch ausgerechnet in diesem Punkt gerät sie mit ihrer Tochter Anna aneinander. Anna ist zwar in Deutschland geboren und ihre Mutter hat ihr nie ein Wort serbokroatisch beigebracht, doch gerade sie ist mit einem Mal wie ergriffen von dem Land, in dem ihre Großmutter Lucia noch immer lebt. Sie wirft der Mutter vor, ihr die andere Sprache vorenthalten und sich viel zu schrankenlos dem neuen Land angepasst zu haben.
Es ist die alte Frage nach dem richtigen Weg zwischen notwendiger Integration in die Verhältnisse eines Gastlandes und der vielleicht übertriebenen Assimilation an dieses Gastland, die hier von Saskia Luka mit großer Sensibilität als Konflikt zwischen Mutter und Tochter ausgebreitet wird. Die richtige Antwort auf diese Frage gibt es nicht. Auch das beschreibt Saskia Lukas Roman. Denn die richtige Antwort kann nur individuell von jedem Einzelnen für sich selbst gegeben werden.
Aber ihr Roman zeigt auch, und das hat mich besonders für ihn eingenommen, dass die Anpassungsbereitschaft Marias keine Einbahnstraße ist. Nachdem Lucia gestorben ist und Maria nach Kroatien fährt, um sie dort zu beerdigen, beginnt sie sich diesem Land wieder anzunähern. Vielleicht hat sie tatsächlich keine Nationalität, wie sie es von sich behauptet, aber sie hat Erinnerungen und die werden bei ihren Besuch so stark, dass es ihr immer schwerer fällt, sich wieder von ihrem Geburtsland zu lösen. „Heimat“, denkt sie, „dieses Wort knirschte zwischen den Zähnen wie Sand.“
Saskia Lukas Roman „Tag für Tag“ ist ein konfliktreiches Buch über ein konfliktreiches Thema. Es liefert keine Antworten und erst recht keine Patentrezepte, welche Form von Integration richtig und welcher Grad an Assimilation übertrieben ist. Es zeigt mit großer Ehrlichkeit Menschen, die sich nicht um Politik kümmern wollen, sondern nur um das, was sie persönlich angeht. Auch dies sicher kein Patentrezept, aber zweifellos ein Teil der Realität, in der wir leben. „Tag für Tag“ ist ein Roman, der mit beeindruckender Einfühlungskraft die Lebenserfahrungen einer von Migration geprägten Familie einfängt und dafür wird Saskia Luka mit dem Buchpreis der Stiftung Ravensburger ausgezeichnet. Ich gratuliere Ihnen, Frau Luka, sehr herzlich und danke Ihnen, meine Damen und Herren, für Ihre Aufmerksamkeit.