Die Bücher-Bar 4 / Eine Kolumne

Was bleibt uns in Zeiten der Krise? Die Bücher! Das Lesen! Und das Reisen im Kopf.

Der Büchersäufer stellt hier Bücher vor, die er mit Genuss bis zur Neige geleert, oder an denen er lieber nur kurz genippt hat.

Heute: Der Büchersäufer macht sich Sorgen über die Seuchenanfälligkeit der Verlage und hat einen Vorschlag

Nachdenken über das tödlichste Tier der Welt

Heinrich Heine: Ich rede von der Cholera. Hoffmann und Campe. 59 Seiten. 14 Euro

Heinrich Heine: Ich rede von der Cholera. Hoffmann und Campe. 59 Seiten. 14 Euro

Die Verlage stürzen sich derzeit auf die großen Seuchen, dass es eine Pracht ist. Nach Dutzenden von aktuellen Corona-Büchern, kommen jetzt die historischen Pandemien dran. Von Daniel Defoe erscheint das 300 Jahre alte Buch über „Die Pest in London“ (Jung & Jung, 25 Euro). Von Heinrich Heine seine knapp 190 Jahre alte Reportage „Ich rede von der Cholera“ (Hoffmann und Campe, 14 Euro). Dazu Erinnerungen an die 100 Jahre alte Spanische Grippe von Harald Salfellner (Vitalis, 24,30 Euro) und Wilfried Witte (Wagenbach, 12 Euro).

Für jedes Seuchen-Interesse ist gesorgt. Ob sie nun ein Buch haben wollen über „Pest und Corona“ (Herder Verlag, 18 Euro) oder eines über „Pest und Cholera“ (Unionverlag, 12,95 Euro), ob über „Grippe, Pest und Cholera“ (Steiner Verlag, 24,90 Euro) oder über „Grippe, Cholera und Pest“ (BoD, 10 Euro).  Sogar medizinisch gewagte Neukombinationen werden erprobt wie „Das Tagebuch eines Geistlichen während der Cholerapest zu Saratow“ (BoD, 10 Euro) oder „Die Scharlachpest“ (BoD, 12,90 Euro).

Daniel Defoe: Die Pest in London. Übersetzung: Rudolf Schaller. Verlag Jung & Jung. 386 Seiten. 25 Euro

Daniel Defoe: Die Pest in London. Übersetzung: Rudolf Schaller. Verlag Jung & Jung. 386 Seiten. 25 Euro

Ich weiß nicht, was Christian Drosten dazu sagt. Aber um mal den Gerechtigkeitsgedanken ins Spiel zu bringen: Bei so viel Aufmerksamkeit für Seuchen müssen sich, denke ich mir, die übrigen Leiden und Gebrechen ziemlich zurückgesetzt vorkommen. Sicher, der im Buchgeschäft wichtige Gruselfaktor ist bei Seuchen besonders hoch, weil die Opfer schnell nach Millionen zählen. Aber auch in dieser Hinsicht wäre es leichtfertig, nur auf Pest & Co. zu setzen.

Nehmen wir zum Beispiel das gefährlichste Tier der Welt, die Mücke, die Malaria überträgt. Sie infiziert pro Jahr rund 200 Millionen Menschen, über eine Million davon sterben. Pro Jahr.

Natürlich ist der Buchmarkt an den Chancen, die so eine Dauerkatastrophe bietet, nicht achtlos vorübergegangen. Vor acht Jahren schrieb die Autorin Carmen Stephan einen Roman über die Krankheit, und zwar aus der Perspektive der Mücke, die gerade eine junge Frau angesteckt hat: „Mal Aria“ (Fischer, 9,99 Euro). Wäre das nicht ein Tipp für die aktuelle Corona-Literatur? Den Krimi aus Virus-Perspektive gibt es noch nicht. Christian Drostens erster Fall! Garantierter Bestseller. Herr Drosten, übernehmen Sie!

Carmen Stephan: "Mal Aria". Roman. Fischer Taschenbuch. 9,99 Euro

Carmen Stephan: “Mal Aria”. Roman. Fischer Taschenbuch. 9,99 Euro

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Die Bücher-Bar 3 / Eine Kolumne

Was bleibt uns in Zeiten der Krise? Die Bücher! Das Lesen! Und das Reisen im Kopf.

Der Büchersäufer stellt hier Bücher vor, die er mit Genuss bis zur Neige geleert, oder an denen er lieber nur kurz genippt hat.

Heute: Über die Sehnsucht nach behaglichen Zimmern,
die demokratischen Grundlagen von Wegen im freien Gelände sowie den Einzelgänger als Varta-Häschen

Das kilometerlange Schweigen beim Denken

Falls Sie mal – für ein Kreuzworträtsel oder so – das Gegenteil von einem Touristikfachmann suchen, möchte ich Ihnen den französischen Philosophen Blaise Pascal ans Herz legen. Er war überzeugt, „das ganze Unglück der Menschen“ rühre daher, „dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.“ Eine Ansicht, die man in diesen Wochen der Viren gar nicht stark genug betonen kann.

Robert Macfarlane: "Alte Wege". Übersetzt von Andreas Jandl und Frank Sievers. Verlag Matthes & Seitz. 346 Seiten, 32 Euro

Robert Macfarlane: “Alte Wege”. Übersetzt von Andreas Jandl und Frank Sievers. Verlag Matthes & Seitz. 346 Seiten, 32 Euro

Das ganze Unglück der Menschen müsste demnach allerdings bereits ziemlich alt sein. Denn schon als unsere Vorfahren in Urhorden die Savannen Afrikas durchstreiften, waren sie Nomaden. Bis sie Häuser beziehen konnten mit behaglichen Zimmern, in denen es eine Freude war, der Empfehlung Pascals zu folgen, hatten sie noch einen langen Weg zu gehen.

Der Brite Robert Macfarlane versucht das Unglück nicht durchs Sitzen im Zimmer hinter sich zu lassen, sondern durchs Wandern. Er liebt Strecken, die bereits seit Jahrhunderten oder sogar schon seit der Steinzeit benutzt wurden und beschreibt sie in seinem Buch „Alte Wege“ (Matthes & Seitz, 32 Euro). Bei ihm kann man lernen, was für eine enorm gemeinschaftliche und letztlich geradezu demokratische Sache so ein Pfad im freien Gelände ist. Denn Pfade entstehen nur dort, wo über einen langen Zeitraum viele Menschen gehen, weil sie alle gerade diese Richtung für die Richtige halten. Ein Einzelner kann da überhaupt nichts ausrichten, es sei denn er würde auf der eigenen Spur immerzu wie ein Varta-Häschen hin und her rasen. Alte Wege sind so etwas wie das Resultat kollektiver Weisheit des Vorankommenwollens.

Wie viel Gemeinsinn ein alter Weg repräsentiert, macht Macfarlane an einem Beispiel klar: Vor Jahrhunderten war es in England üblich, an der Stelle, an der ein Pfad in einen dichten Wald führte, gut sichtbar eine kleine Sichel zu platzieren. Mit der konnte sich der Wanderer die Strecke von nachwachsenden Hindernissen freischneiden, und dann hinterließ er die Sichel nach dem Waldstück wiederum an einem auffälligen Platz, damit ein entgegenkommender Wanderer seinerseits die Pfadpflege fortsetzen konnte. Geklaut wurde sie nicht.

Ob Pascal das wusste? Vielleicht hätte er dann besser über die Welt jenseits seines Zimmers gedacht. Ein anderer Philosoph, Ludwig Wittgenstein, der im Gehen besser denken konnte als im Sitzen, versuchte mitunter beides zugleich: zu wandern und im Zimmer zu bleiben. Eine Möglichkeit, die man derzeit besonders in Betracht ziehen sollte. Wenn Wittgenstein während des Studiums in Cambridge ein Gedanke seines Professors Bertrand Russell besonders aufwühlte, stand er auf und lief im Arbeitszimmer seines Lehrers in erregtem Schweigen auf und ab. Er schritt dessen Argumentation gewissermaßen Punkt für Punkt ab. Er soll in der kleinen Gelehrtenstube ohne ein Wort zu sagen Kilometer um Kilometer abgespult haben, während Russell ebenso schweigsam und sehr geduldig dabei zuschaute, wie ungestüm sein begabtester Schüler lernte.

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Die Bücher-Bar 2 / Eine Kolumne

Der Büchersäufer stellt Bücher vor, die er bis zur Neige genossen, oder an denen er lieber nur genippt hat.

Heute: Über den  Kampf ums Reisendürfen, einen eleganten Anarchisten mit langem Haar sowie das zweifelhafte Glück,  mit Lothar Matthäus zu reden

Das heilige Hemd unter DDR-grauer Jacke

Seit es die Billigflieger gibt, herrscht beim Reisen vor allem die Qual der Wahl. Was darf’s denn sein: Scuba auf Cuba? Radtour in Singapur? Safari in Malawi? Doch das größte Freiheitsglück des Reisens spürt derjenige, der um die Freiheit des Reisens überhaupt erst kämpfen musste.

Alex Raack: “Wolle. Ein Fan zwischen Ost und West”. Tropen Verlag, 16.95 Euro

Wolfgang „Wolle“ Großmann ist so einer, und der Reporter Alex Raack hat seine Geschichte in einem Buch namens „Wolle“ aufgeschrieben (Tropen Verlag, 16,95 Euro). Wolle wurde in Mönchengladbach geboren und erlebte die Urkatastrophe seines Lebens im Alter von zwei Jahren – als seine Eltern mit ihm kurz vor dem Mauerbau nach Dresden umzogen. Denn Wolle ist, sagen wir mal, ein wenig eckig ins Leben gebaut und holte sich pausenlos blaue Flecke im Stasi-Sozialismus der DDR.

Aber hätte es für einen jungen, schwer bezähmbaren Mann aus Mönchengladbach in den 70-er Jahren ein größeres Freiheitsversprechen geben können, als den Hurra-Fußball der Borussia mit Spielern wie Jupp Heynckes und den eleganten Anarchisten Günter Netzer, der sich beim Endspiel um den DFB-Pokal ohne einen Blick zum Trainer selbst einwechselte und das Siegtor schoss?

Wolle wurde in Dresden Borussia-Fan bis auf die Knochen. Jeder schwarz-weiße-grüne Schal, jedes Borussia-Trikot, dessen er habhaft werden konnte, waren ihm heilig, heilig, heilig. Auch wenn er sie versteckt unter DDR-grauen Jacken tragen musste, weil Polizei und Ämter nur zu gern bereit waren,  ihm seine Begeisterung für Westliches krumm zu nehmen.

Bis die Borussia 1981 im Uefa-Pokal gegen den 1.FC Magdeburg spielte. Da hielt Wolle nichts mehr. Als sein Team eintraf, lenkte ein Freund die Stasi-Aufpasser ab, Wolle huschte die Treppe des Mannschaftshotels hinauf, klopfte an irgendeine Tür und trat ein. Okay, zugegeben, nicht für jeden von uns zählt es zum Traum vom Glück, Lothar Matthäus sein Herz auszuschütten. Aber für Wolle war es das. Eine Stunde saß er da, erzählte Matthäus wie es ist, Borussia-Fan in Dresden zu sein, und der konnte es nicht fassen.

Schließlich stellte Wolle einen Ausreiseantrag, und 1985 durfte er sich auf den Weg machen, um seiner Borussia im Heimatstadion nah zu sein. Und hinterließ den denkwürdigen Satz: „Ich hab’ die DDR doch nicht verlassen, weil mir die Wurst nicht schmeckte, sondern weil ich auf den Bökelberg wollte!“ Das erste Spiel am Sehnsuchtsziel war nur ein Unentschieden. Aber das zweite bereits ein Fußballfest, 7:0 gegen Kaiserslautern! Wolle war angekommen.

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Die Bücher-Bar 1 / Eine Kolumne

Der Büchersäufer stellt Bücher vor, die er bis zur Neige genossen, oder an denen er doch lieber nur genippt hat.

Heute: Über ein Buch von Gewicht und die leichtsinnige Hoffnung auf irgendeinen kultivierenden Einfluss der Kunst sowie den Zusammenhang zwischen Hotels und Pilzen.

Was ist besser? Lesen oder Reisen?

Manche Bücher können das Reisen glattweg ersetzen. Mehr noch, ich behaupte, Bücher sind gelegentlich sogar besser als Reisen. Natürlich ist prinzipiell nichts einzuwenden gegen einen leibhaftigen Aufenthalt in fremden Ländern. Aber einige davon haben, seien wir ehrlich, schon so ihre Macken: Sie sind fürchterlich heiß oder erschreckend kalt, die Leute sprechen Sprachen, denen man nur mühsam folgen kann, und dazu die irren Roaming-Gebühren. Also, wenn ich schon auf eine einsame Insel soll, dann am liebsten in der Literatur und in einem Roman wie „Robinson Crusoe“. Da kann ich zwischendurch das Buch mal zuschlagen und Pause machen vom Einsamsein.

Marc Walter / Sabine Arqué: “The Grand Tour. The Golden Age of Travel.” Taschen Verlag. 615 großformatige Seiten. Preis: 150 Euro

Auf dem Weg, eine Reise komplett zu ersetzen, kommt das gigantische Buch „The Grand Tour. Das goldene Zeitalter des Reisens“ von Marc Walter und Sabine Arqué (Taschen Verlag) schon allein in finanzieller Hinsicht ein gutes Stück voran. Es kostet 150 Euro, kann in der Budgetplanung also locker den Platz für den Tagesausflug einer kinderreichen Familie einnehmen.

Dafür hat der Prachtband allerdings auch eine Menge zu bieten: Er bringt gute 6,5 Kilo auf unsere Badezimmerwaage. Wenn ich ihn hochkant auf den Boden stelle, reicht er mir bis zum Knie. Und sobald ich ihn aufschlage, führt er an einige der schönsten Orte dieser Welt. Mit der Grand Tour rundeten nämlich einst die Adligen und Superreichen die Bildung ihrer Kinder ab, schickten sie zur Kunst-Beschau für ein oder zwei Jahre über Paris und Südfrankreich nach Italien und hofften, das würde irgendeinen kultivierenden Einfluss haben auf die lieben Kleinen. Später reisten manche sogar in den Orient oder bis nach Indien.

Natürlich kann man diesem goldenen Zeitalter des Reisens nachtrauen. Die Versuchung dazu ist sogar groß, sobald man in diesem Wunder-Buch blättert und sich in fabelhaft altmodischen Ansichten all jener herrlichen Orte vertieft, an denen inzwischen zwölfstöckige Hotelbauten sprießen wie die Pilze.

Doch an das endgültige Verschwinden der Grand Tour glaube ich nicht. Meines Erachtens lebt sie bis heute weiter – und zwar unter dem Tarnnamen „Work & Travel“. Inzwischen sind es nicht mehr die Eltern, sondern die Sprösslinge selbst, die sich nach Schulschluss für ein Jahr oder länger in Richtung Australien, Peru oder Togo verfrachten. Letztlich geht also auch in der Reisekultur nichts verloren und manches wird, genau betrachtet, sogar besser.

 

 

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Lobrede auf “Ein mögliches Leben” von Hannes Köhler

Der lange Kampf gegen die Vergangenheit

Am 26. November wurde der Schriftsteller Hannes Köhler für seinen Roman “Ein mögliches Leben” (Ullstein Verlag) mit dem Buchpreis der Stiftung Ravensburger 2018 ausgezeichnet. Die Verleihung des Preises fand in Berlin statt, ich durfte dazu eine Laudatio auf den Roman beisteuern – und saß danach mit Hannes Köhler und seiner spanischen Freundin einen Abend lang bei einem sehr guten, von der Stiftung organisierten Essen beisammen. Meine kleine Lobrede möchte ich hiermit gern zur Diskussion stellen.

Sehr geehrte Frau Hess-Meyer,
sehr geehrter Herr Hauenstein,
vor allem aber: sehr geehrter Hannes Köhler
und sehr verehrte Damen und Herren,

es gibt einen Satz von William Faulkner, der hierzulande immer wieder gern zitiert wird. Er lautet: „Die Vergangenheit ist niemals tot, sie ist noch nicht einmal vergangen.“ Er  stammt aus Faulkners „Requiem für eine Nonne“ und nicht aus seinem wohl berühmtesten Buch „Licht im August“, auf das Hannes Köhler in seinem Roman gelegentlich anspielt. Der Held aus „Licht im August“ heißt Joe Chrismas und winkt uns Lesern freundlich zu von einem der amerikanischen Kartoffelfelder, von denen Köhler in seinem Roman erzählt.

Hannes Köhler, Foto Copyright Gerald von Foris

Es ist ein Satz, der es in sich hat. Man kann ihn wie ein Motto sowohl über viele Gesellschaftsromane als auch Familienromane setzen. Und das ist kein Zufall, denn kluge Familienromane erzählen aus einer gleichsam mikroskopischen Perspektive von der Geschichte der Gesellschaft, deren kleinste soziale Einheiten eben die Familien sind. Hannes Köhlers Roman ist ein solcher kluger, klug gebauter Familienroman, der sich die Zeit nimmt, am Beispiel des Schicksals eines Mannes namens Franz Schneider zu zeigen, dass die Vergangenheit niemals tot, ja dass sie noch nicht einmal vergangen ist, sondern dass sie mit umso größerer Macht fortwirkt, je mehr wir uns der Illusion hingeben, sie sei längst abgetan und vergessen.

Das Besondere und das in meinen Augen literarisch besonders Gelungene an Köhlers Roman ist dabei, dass er nicht der Versuchung erliegt, aus seiner Hauptfigur Franz Schneider einem Helden nach dem Geschmack unserer Gegenwart zu machen. Er zeigt ihn stattdessen als Spielball und Opfer der deutschen Geschichte in der entsetzlichen ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, er zeigt ihn als einen Mann, der im Tumult mörderischer politischer Katastrophen oft falsche und manchmal richtige Entscheidungen trifft, immer aber eine ambivalente, zwiespältige Figur bleibt, die den Leser nie zur bequemen Identifikation einlädt.

Franz Schneider ist ein Bergmann aus Essen-Katernberg, und sein Schöpfer Hannes Köhler hat diesen Beruf nicht zufällig für ihn gewählt. Denn Schneiders Schicksal ist es, sich einen Lebensweg aus der brutalen geistigen und politischen Enge des Nationalsozialismus wie ein Verschütteter in eine freiere Welt graben zu müssen – über sich wie ein Berg die unermessliche deutsche Schuld und in sich die Sehnsucht nach Weite, Leichtigkeit und Offenheit. Als er als junger, hitlergläubiger Soldat in amerikanische Kriegsgefangenschaft gerät, erlebt er in der Landschaft von Texas und Utah eine Weite und Offenheit und in der Mentalität vieler Amerikaner eine Freiheit und Leichtigkeit, die ihn berauschen. Doch in beides einzutauchen gelingt ihm nicht, so sehr er es sich auch wünscht, denn seine Vergangenheit als Hitler-Soldat und als Kind der Nazi-Enge ist eben nicht tot, ja sie ist nicht einmal vergangen.

Der in der DDR berühmte, in Deutschlands Westen zu unrecht fast unbekannte Schriftsteller Franz Fühmann hat in seinen autobiographisch grundierten Büchern ein ähnliches Schicksal wie das von Franz Schneider beschrieben, auch wenn Fühmann nicht in amerikanische, sondern sowjetische Kriegsgefangenschaft geriet. Wie Schneider konnten sich auch Fühmann zunächst schwer von seiner jugendlichen Hitlerverehrung lösen, wie für Schneider bedeuteten auch für Fühmann die deutschen Verbrechen eine schier unerträgliche moralische Mitverantwortung, wie Schneider erlebte auch Fühmann eine rasche und scheinbar umfassende politische Wandlung vom Nazi-Anhänger zum Nazi-Gegner, legte aber eine tiefergehende Dumpfheit, in die er als Hitler-Junge hineinerzogen und eine Verrohung, in die er als Wehrmachtssoldat hineingedrillt wurde, erst sehr viel später ab. (Meine kleine Fühmann-Monografie ist hier zu haben.)

Hannes Köhler: "Ein mögliches Leben". Roman. Ullstein Verlag 2018

Hannes Köhler zeigt das alles in seinem Roman mit großartiger erzählerischer Genauigkeit. Wie Franz Schneider, unterstützt durch seinen Freund Paul, das eingeimpfte Nazi-Denken hinter sich lässt und den Krieg aus amerikanischer Perspektive zu sehen beginnt. Wie seine unbelehrbar hitlergläubigen Mitgefangenen ihn deshalb als Verräter ausgrenzen, verfolgen und bedrohen. Wie sein Freund Paul von solchen Unbelehrbaren im Lager ermordet wird, und er selbst nur überlebt, weil er sich vom amerikanischen Wachpersonal verhaften und in ein anderes Lager verlegen lässt.

Hätte Köhler jedoch nur dieses Kapitel von Schneiders Kriegsgefangenschaft geschildert, er hätte einen recht einseitigen, undifferenzierten Roman geschrieben. Die ungewöhnliche literarische Qualität seines Buches und auch die Menschen- und Geschichtskenntnis des Autors erweisen sich darin, was er vom zweiten Teil von Schneiders Gefangenschaft erzählt. Dass Schneider nämlich nach dem Tod seines Freundes Paul von Rachsucht nicht frei ist, dass er in dem neuen Gefangenenlager, in das er verlegt wird, frühzeitig Gleichgesinnte um sich schart, dass er mit ihnen gemeinsam die sturen Hitleranhänger unter den Mitgefangenen seinerseits ausgrenzt, verfolgt und bedroht und dass er sich schließlich an der Ermordung eines solchen Unbelehrbaren beteiligt. Er glaubt in diesem Moment, seine Nazi-Vergangenheit überwunden zu haben, aber in ihm ist diese Vergangenheit keineswegs tot, in ihm ist sie noch lange nicht vergangen, sondern sie wirkt – obwohl die politischen Vorzeichen ausgetauscht wurden – mit brutaler Unmenschlichkeit fort.

Geschichte geht nicht spurlos an uns vorüber, Hannes Köhler zeigt das in seinem Roman auf eindringliche Weise. Was Franz Schneider im Krieg und in der Gefangenschaft zugemutet wurde, hat manches in diesem Bergmann gleichsam zu Stein erstarren lassen. Bezeichnenderweise sammelt er kleine Steine, die er an den entscheidenden Orten seiner Biographie aufliest. Seine Persönlichkeit hat schroffe Bruchkanten, an denen sich selbst seine Familie üble Verletzungen zuziehen kann. Die menschliche Aufgeschlossenheit und Freiheit, die er an vielen Amerikanern bewundert, bleibt für ihn oft unerreichbar, zum Beispiel wenn es um Kritik an jenem geliebten Amerika geht. Als seine Tochter Barbara in den Jahren der Studentenbewegung gegen den Krieg der USA in Vietnam protestiert, reagiert er nicht mit Verständnis, sondern mit Ausgrenzung wie er sie im Gefangenenlager erfahren hat. Er wirft seine Tochter aus dem Haus, er verbannt sie mit steinerner Konsequenz aus seinem Leben und reicht so das Trauma der Ausgrenzung innerhalb der Familie an die nächste Generation weiter.

Sobald Köhlers Roman nicht mehr allein von Franz Schneider erzählt, sondern auch von seiner Tochter Barbara und seinem Enkel Martin, sobald er sich also zum Familienroman weitet, skizziert er zugleich etwas von der Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik in familiärem Maßstab. Barbara zum Beispiel ist keine stereotype, sondern glücklicherweise eine wohltuend unfanatische Achtundsechzigerin. Sie hat von frühester Kindheit an um die Aufmerksamkeit und Liebe ihres seltsam kühlen, distanzierten, erstarrten Vaters werben müssen. Nicht zuletzt deshalb hat sie wohl seine Begeisterung für amerikanische Literatur auch zu der ihren gemacht. Aber als sie von ihm mit fast alttestamentarischer Härte verstoßen wird, beginnt auch sie sich gegen ihren Vater zu verhärten und auf seine Ablehnung ihrerseits mit Ablehnung zu reagieren. Erst ihr Sohn Martin, der Enkel Franz Schneiders, ist von dieser Konfrontation biographisch weit genug entfernt, um Neugier auf die Geschichten seines Großvaters zu entwickeln und durch die gemeinsame Reise nach Amerika die Gespräche zwischen den Generationen wieder in Gang zu bringen.

Doch das ist längst nicht alles, Köhler macht wie nebenbei auch andere mentalitätsgeschichtliche Entwicklungen spürbar. Als Franz Schneider aus der Kriegsgefangenschaft  nach Deutschland zurückkehrt, dort eine Frau kennenlernt und sie schwängert, ist für beide selbstverständlich klar, dass sie heiraten müssen. Es ist eine Ehe, in der oft das Schweigen herrscht und die von Ausbruchsphantasien begleitet wird, die aber für beide einen felsenfesten, steinernen Bestand hat. Für ihre Tochter Barbara ist die Ehe dann nur der äußere Rahmen für eine Liebe, die sie mit ihrem Mann verbindet. Als die Liebe verschwindet, gibt sie ganz selbstverständlich auch die Ehe auf. Für den Enkel Martin wiederum scheint Sex kein großes Thema zu sein, jede Andeutung einer festeren Bindung jedoch ein erhebliches Problem. Als er nach einem One-Night-Stand Vater wird, schließt er das Kind sofort ins Herz, aber es braucht einen ungeheuer langen und windungsreichen Weg, bevor er auch seiner Zuneigung zu der Mutter des Kindes die Chance des Zusammenlebens gibt.

Hannes Köhler, Foto Copyright Gerald von Foris

„Die Vergangenheit ist niemals tot“, schreibt William Faulkner, „sie ist noch nicht einmal vergangen.“ Sie wirkt in uns fort, sie beherrscht uns oft stärker, als wir es selbst wissen. Und das bedeutet zugleich, wir können vieles an anderen Menschen, mehr noch: wir können vieles an den Menschen in der eigenen Familie erst richtig verstehen, wenn wir ihre Vergangenheit zu verstehen beginnen. Hannes Köhlers Roman erzählt von der langen Reise eines Enkels in die Vergangenheit seines Großvaters. Er erzählt nicht nur davon, dass der Enkel seinen Großvater daraufhin besser begreift, sondern auch davon, dass der Großvater die eigene Geschichte mit anderen Augen zu betrachten beginnt und zum ersten Mal versucht, sich seiner Tochter zu erklären. Dieses wiederbegonnene Gespräch nach Jahren des Schweigens wird nicht alle Wunden heilen, machen wir uns nichts vor, manche Wunden sind zu tief, sie verschwinden nicht, sie können allenfalls vernarben. Aber ein wiederbegonnenes Gespräch eröffnet Chancen: auf mehr Verständnis, auf mehr Milde im Umgang oder gar auf Bereitschaft zur Vergebung. Und diese Bereitschaft gehört wohl zu dem, von dem wir sprechen, wenn wir von Familie sprechen.

Wie sorgsam und liebevoll Hannes Köhler seinen Roman „Ein mögliches Leben“ gebaut hat, zeigt sich vor allem an den Details seiner Geschichte. An einer Stelle heißt es zum Beispiel, Franz Schneider habe sich in der Abstellkammer seines Reihenhäuschens ein Arbeitszimmer eingerichtet, um dort amerikanische Romane zu lesen und seiner Träume von der Weite und Offenheit Amerikas zu träumen. Für mich ist das ein ungeheuer intensives Bild: Ich stelle mir diese Abstellkammer eng vor, bedrückend und lichtlos. Der frühere Bergmann Franz Schneider muss sich dort gefühlt haben, als kehre er in die finsteren, engen Stollen zurück, in denen er einst arbeitete. Von realer Offenheit und Weite keine Spur.

Vielleicht darf ich abschließend einen kleinen literarischen Wunsch in diese Lobrede einflechten. Ich weiß natürlich nicht, welche Bücher Franz Schneider in seinem winzigen Arbeitszimmer gelesen hat, Hannes Köhler deutet nur seine Begeisterung für Hemingway und Faulkner an. Doch ich wünschte mir, es wäre auch „The Great Gatsby“ darunter gewesen, jener grandiose Roman von Scott Fitzgerald, der von einem Mann erzählt, der aus einem Weltkrieg zurückkehrt. Es ist ein anderer Krieg als der, aus dem Franz Schneider zurückkehrt, aber das ist egal. Auch Gatsby hat Verletzungen davongetragen, die niemand recht begreifen kann, der den Krieg nicht erlebt hat. Und auch Gatsby scheitert an dem Versuch, sich von dieser Vergangenheit zu lösen und in eine neue, offene, freie Zukunft zu treten. Und falls Franz Schneider, wie ich es mir wünschte, irgendwann „The Great Gatsby“ gelesen haben sollte, dann dürfte ihm vielleicht der ebenso wunderbare wie erschütternde Satz aufgefallen sein, den Fitzgerald an den Schluss seines Romans gestellt hat: „So kämpfen wir weiter“, heißt es da, „ so kämpfen wir weiter, wie Boote gegen den Strom, und unablässig treibt es uns zurück in die Vergangenheit.“

Lieber Hannes Köhler, Sie haben ein sehr kluges, verständnisvolles, sehr beeindruckendes Buch geschrieben. Ich gratuliere Ihnen zu diesem Roman, und ich gratuliere Ihnen zum Buchpreis der Stiftung Ravensburger Verlag. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

 

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Helmut Winkelmann ist tot

Helmut Winkelmann ist tot

Der Schauspieler und Sprecher Helmut Winkelmann ist am 19. August gestorben. Man kennt seine markante Stimme von zahllosen Hörbüchern und von unübersehbar vielen Sendungen der Kulturmagazine “ttt” oder “Kulturzeit”. Vor allem aber war er ein großartiger Mensch, ein wunderbarer Freund und Kollege. Gestern, am 30. August fand die Trauerfeier zu seinen Ehren in Frankfurt am Main statt. Ich durfte eine der Reden auf ihn halten.

Liebe Jutta, liebe Mieka, lieber Malte,
liebe Familie von Helmut,
liebe Freunde, Kollegen, Nachbarn,

Abschiednehmen ist nie leicht. Und manchmal ist es sehr schwer.

Zu dem Kreis der Freunde, Kollegen, Nachbarn von Helmut zähle ich mich auch, mein Arbeitszimmer auf dem Heilsberg liegt keine achtzig Schritte entfernt von Helmuts Arbeitszimmer. Aber mir kommt im Kreis der Freunde, Kollegen, Nachbarn keine besondere Rolle zu. Wenn ich hier zum Abschied von Helmut spreche, bitte ich, darin keine Anmaßung zu sehen, sondern es als Wunsch von Jutta, Mieka und Malte zu betrachten. Ich möchte gern von meiner Freundschaft mit Helmut erzählen, und hoffe, dass meine Erinnerungen an ihn einen Raum bieten, in dem andere ihre Erinnerungen wiederkennen.

E.T.A.Hoffmann: "Der Sandmann". Sprecher: Helmut Winkelmann. Legato Verlag

Das erste, was ich von Helmut kennenlernte, war seine Stimme. Ich konnte ihn nicht sehen, ich konnte ihn nur hören. Es war vor gut 20 Jahren, Helmut saß in einer etwas unübersichtlichen Bürgerversammlung weit hinten, es ging um die Pläne der Stadt Bad Vilbel mit den Häuser auf dem Heilsberg, und natürlich gab es Ärger. Helmut hatte sich zu Wort gemeldet, stand auf und sagte seine Meinung, sehr klar und sehr entschieden und mit einer Stimme, die nicht zu überhören war.  Sie grollte erst wie ein Unwetter und versuchte dann sanft wie das Schnurren eines Kätzchens unsere Kleinstadtpolitiker zurückzulocken auf einen Pfad der Vernunft. Wie gesagt, ich kannte Helmut vorher nicht und konnte ihn von meinem Platz aus zunächst nicht sehen, aber nach dem Mann mit dieser Stimme drehte ich mich um.

Bald merkten Helmut und ich, wie viel wir gemeinsam hatten. Das waren vor allem anderen: Kinder ungefähr im gleichen Alter. Bei Jutta und Helmut also Mieka und Malte, bei Annette und mir Nicolas, Marten und Lennart. Kinder bilden, gleichgültig wo sie sind, eine schier grenzenlose Gemeinschaft des Spielens, die auch ihren Eltern wunderbare Chancen zu neuen Freundschaften eröffnet. Doch schnell kam vieles andere hinzu: Wir hatten beide in Köln studiert: Helmut in den sechziger Jahren Theaterwissenschaft und Germanistik. Ich Germanistik und Theaterwissenschaft in den siebziger Jahren. Helmut war Schauspieler und Sprecher geworden, Sprache war sein tägliches Handwerkszeug. Ich Journalist und Literaturkritiker, was Sprache auch für mich zum täglichen Arbeitsmaterial machte.

Honoré de Balzac: "Tobias Guanerius". Sprecher: Helmut Winkelmann. Legato Verlag

Und noch etwas: Helmut stammt aus Neuss am Rhein, ich wuchs nur 40 Kilometer rheinaufwärts in Köln auf. Wir waren zwei Rheinländer im hessischen Exil. Es ist ein sehr freundliches, ein selbstgewähltes Exil, aus dem wir uns aber im Gespräch dennoch gern fortschlichen in die rheinische Grundhaltung, möglichst nichts allzu ernst zu nehmen.

Mein Gott, wie gern hat Helmut gelacht, mein Gott, wie großartig konnte Helmut lachen und vergnügt in sich hineinkichern. Mir kam es oft vor, als würde er in solchen Momenten ein wenig wachsen, sein Oberkörper hob sich, wippte auf und ab, während er lachte, und Helmut schien für einen Augenblick einen Fingerbreit über dem Boden zu schweben.

Auch Abschieden, die nie leicht und manchmal sehr schwer sind, hat er gerne mit einem Scherz und einem Lachen etwas von ihrem Gewicht genommen. Vermutlich wäre es in Helmuts Sinne, wenn wir auch am Ende dieser Abschiedsfeier lachen und möglichst nichts allzu ernst nähmen.

Zu meinen schönsten Erinnerungen an Helmut gehören einige abendliche und nächtliche Autofahrten durch das Rhein-Main-Gebiet und Hessen. Wir waren damals unterwegs zu den wechselnden Aufnahmeorten von Peter Härtlings langjähriger Radiosendung „Literatur im Kreuzverhör“. Härtling, der im vergangenen Sommer gestorben ist, hatte kurze literarische Texte ausgewählt, die Helmut in der Sendung vortrug. Ich gehörte zu der fünfköpfigen Raterunde, die zu erraten hatte, von welchen Autoren diese Textausschnitte stammten.

Fritrz Kortner: "Aller Tage Abend". Alexander Verlag

Das bot auf der Heimfahrt dann den perfekten Anlass, über die vorgelesenen Autoren und die gehörten Textsplitter zu reden. Wunderbar, wie viel ich von Helmut über das Theater gelernt habe, über seine Zeit am Max Reinhardt Seminar in Wien, über seine Engagements in der Schweiz, dann in Nürnberg, wo er Jutta kennenlernte, und vor allem über die zehn Jahre am Staatstheater in Darmstadt. Zu Hamlet und Macbeth macht man sich auch als Literaturkritiker seine Gedanken, aber was man mit diesen riesenhaften Figuren erlebt, wenn man sie auf der Bühne verkörpert, das kann einem nur ein Schauspieler erzählen, der sie gespielt hat. Ich werde nicht vergessen, wie Helmut mir Fritz Kortners Memoiren „Aller Tage Abend“ ans Herz legte und mir dabei erklärte, wie wichtig das richtige Timing ist für jeden professionellen Sprecher. Kortners großes Vorbild sei, sagte Helmut, der Langstreckenläufer Nurmi gewesen: „Denn der schaute beim Laufen auf die Uhr – um zu sehen, ob er nicht zu schnell ist.“

Wie sehr habe ich Helmut bewundert für seine Präzision als Sprecher – nicht nur, wenn er für Härtling kurze Ausschnitte, sondern wenn er ganze Bücher vorlas. Es war wie ein Zauberkunststück: Aus seinem Mund wurde jeder Text vollkommen klar, verständlich und transparent. Er hatte es zu seiner Kunst entwickelt, dem Zuhörer beim Lesen exakt die Betonungen zu liefern und kleinen Pausen zu verschaffen, die es braucht, um den Gedanken, der in dem Text steckt, tatsächlich verfolgen und begreifen zu können. Ein Kunststück, das ihm auch deshalb so gut gelang, weil er sich beim Lesen nie in den Vordergrund drängte, sondern bewusst hinter das Vorgelesene zurücktrat. Er nutzte seine Stimme, an der man sich als Zuhörer wärmen konnte wie im Winter an einer frisch gebrühten Tasse Tee, um den Text ins beste Licht zu rücken, nicht sich selbst. Diese Fähigkeit steht im Theater heute nicht immer hoch in Kurs. In Nürnberg soll ihn ein Regisseur einmal getadelt haben: „Helmut, Du sprichst so gut, schluder’ doch mal ein bisschen.“

Wilhelm von Sternburg: "Die Geschichte der Deutschen". Sprecher: Helmut Winkelmann. Campus Verlag

Zu den üblichen Vorurteilen über Schauspieler gehört, dass sie unsagbar eitel sind. Vielleicht kann das auch nicht anders sein, wenn man einen Beruf ausübt, der es verlangt, sich selbst mit Haut und Haar öffentlich auszustellen. Aber ich habe nie einen uneitleren Schauspieler kennengelernt als Helmut. Vielleicht war auch das einer der Gründe, weshalb er sich von der Bühne verabschiedet und seinen Platz hinter dem Mikrophon des professionellen Sprechers eingenommen hat. Er liebte es mehr,  Literatur zu präsentieren als sich selbst. Der Text war ihm wichtiger, als das eigene Gesicht in eine Kamera zu halten.

Helmut war für mich immer ein Mann mit ganz besonderen Fähigkeiten und Talenten. Und die größte seiner Begabungen war für mich seine Fähigkeit, trotz seines außerordentlichen Könnens kein Aufhebens um sich zu machen. Er hatte die erstaunliche und sehr seltene Gabe, von sich selbst abzusehen. Er liebte seine Arbeit, sie war seine Passion, in ihr konnte er aufgehen. Er selbst kam erst danach.

Abschiednehmen ist nie leicht und manchmal ist es schwer. Als Annette und ich vor vier Wochen das letzte Mal bei ihm waren, fühlte ich, wie meine Bewunderung für Helmut immer weiter wuchs. Seine Ruhe, seine Gelassenheit, ja seine Heiterkeit trotz der Krankheit haben mich umgehauen. Auch in dieser Situation hatte er die Kraft, von sich selbst abzusehen. Brecht hat in einem seiner letzten Gedichten davon geschrieben, er freue sich nicht nur an den Vögeln, die er vor seinem Fenster singen höre, sondern er freue sich auch an dem Gesang der Vögel, die noch dann vor seinem Fenster singen werden, wenn er nicht mehr da sei. Etwas von dieser erstaunlichen, dieser selbstlosen Freude am Leben habe ich bei diesem Besuch bei Helmut gespürt.

Umberto Eco, T.C.Boyle et.al.: "Ziemlich komisch". Sprecher: Helmut Winkelmann. Hörbuch Verlag

Eine Rede auf Helmut sollte nicht, ja darf nicht in düsterer Tonlage schließen. Dafür hat er viel zu gern gelacht und das Leben genossen. Ich erinnere mich an unsere nächtliche Autofahrt, als mir Helmut von Wien und Fritz Kortner erzählte. Einmal sei, sagte Helmut, Kortner nach dem Unterschied zwischen dem Berliner Schillertheater und dem Wiener Burgtheater gefragt worden. Der Unterschied, antwortete Kortner, sei nicht groß: „An beiden Theatern wird miserabel gespielt. Aber am Burgtheater sind sie stolz darauf.“

Doch die beste Geschichte, die Helmut mir damals erzählte, ist die von dem alten Kortner, der nachts im Zug sitzt und sein müdes, kränkliches Gesicht im spiegelnden Fenster studiert. Bis ihn ein Fremder anspricht und sagt:
„Sie sehen aus wie Fritz Kortner, aber ich weiß, Sie können es nicht sein.“
„Warum nicht?“, fragte Kortner.
„Weil“, so der Mitreisende, „meine Frau mir unlängst erzählt hat, dass Kortner tot ist.“
Kortner zuckte die Achseln: „Sagen Sie ihrer Frau, Kortner lebt.“
Als sein Blick dann wieder auf sein Spiegelbild im Fenster fiel, fügte er schnell hinzu: „Aber sagen Sie es ihr bald!“

Lieber Helmut, nach dieser mustergültigen Pointe lachten wir beide lauthals nachts auf dieser Heimfahrt im Wagen, und wir hätten, ein wenig Licht vorausgesetzt, unsere Gesichter in den Seitenscheiben des Autos studieren können. Wir wussten das, aber es machte nichts. Wir lachten und genossen den Moment, und ich schwöre, für einen winzigen Augenblick schwebte unser Wagen einen Fingerbreit über dem Boden.

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V.S. Naipaul ist tot

Ein Mann mit mindestens drei Gesichtern

Gestern, am 11. August 2018 starb der Literatur-Nobelpreisträger V.S. Naipaul in London. Er galt als einer der größten englischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. 1932 in Trinidat als Nachkomme verarmter indischer Wanderarbeiter geboren, hatte er den atemberaubenden Weg eines “Barfüßigen aus der Kolonie” bis hin zu einem Mitglied der Oberklasse in England erfolgreich bewältigt. Naipaul erhielt nicht nur einige der begehrtesten Literaturpreise, sondern 1990 auch den Adelstitel. Seither durfte er sich Sir Vidiadhar Surajprasad Naipaul nennen, zeichnete seine Bücher aber weiterhin mit der kappen Chiffre: V.S. Naipaul.

V.S.Naipaul: "Ein Haus für Mr. Biswas". Roman. Übersetzt von Sabine Roth. Fischer Taschenbuch Verlag, 12,99 Euro

Der Schriftsteller V. S. Naipaul hatte mindestens drei Gesichter. Er war zu Anfang seiner literarischen Karriere ein Erzähler von großem Atmen und beeindruckender Suggestivität. Zwei seiner Romane – “Ein Haus für Mister Biswas” (1961) und “In der Biegung des großen Flusses” (1979) – gehören zu dem Eindrucksvollsten was in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts über die fragilen, von ihren ehemaligen Kolonialherren in eine krisengeschüttelte Freiheit entlassenen Gesellschaften der Dritten Welt geschrieben wurde. In Anspielung auf seine Herkunft erklärte Naipaul, als er 2001 den Literaturnobelpreis erhielt: “Ich bin höchst erfreut. Dies ist eine große Anerkennung für England, meine Heimat, und für Indien, die Heimat meiner Vorfahren.”

V.S.Naipaul: "Eine islamische Reise". Unter den Gläubigen.Übersetzt von Karin Graf. Derzeit nur als dtv-Taschenbuch lieferbar

Zweitens war der 1932 auf Trinidad als Nachkomme eingewanderter indischer Landarbeiter geborene Naipaul ein Reiseschriftsteller von internationalem Rang. Schon in jungen Jahren, nach der Veröffentlichung seiner ersten drei satirischen Frühwerke, die er selbst als “soziale Komödien” bezeichnete, nahm Naipaul eine ausgedehnte und weitschweifende Reisetätigkeit auf. Wie nur wenige andere Autoren – zumal wie sehr wenige deutschsprachige Schriftsteller – eroberte er sich auf diese Weise weite Erdteile und fremde Zivilisationen durch eigene Anschauung. Als literarischer Erträge brachte er von diesen Expeditionen epische Reportagen mit, die wie “The Middle Passage” (1962), “Indien: Eine verwundete Kultur” (dt. 1978) oder “Eine islamische Reise. Unter den Gläubigen” (dt. 1982) zu dem Anschaulichsten und Informativsten zählen, was man über die Karibik, Indien und die islamischen Länder lesen kann. Zu den Eigentümlichkeiten des deutschen Buchmarktes gehört, das derlei literarische Reisebeschreibungen – auch Naipauls – hierzulande nur sehr wenige Leser finden, obwohl die Deutschen sich doch so gern als überaus reise- und leselustiges Volk betrachten.

V.S.Naipaul: "The Enigma of Arrival" Novel (dt.: "Das Rätsel der Ankunft") Macmillan Publishers International, 9,99 Euro

Drittens schließlich hat sich Naipaul mit zunehmendem Alter zu einem explizit modernen, vielfältig experimentierenden Prosaautor entwickelt, der sich von seinem früheren traditionellen Schreiben fast demonstrativ abwandte. In “Das Rätsel der Ankunft” beispielsweise beschreibt Naipaul über viel hundert Seiten hinweg im Grunde nichts anderes als ein kleines Tal östlich von London, wo er in einem kleinen, feuchten Landhaus jahrelang lebte und schrieb. Ein Buch, dass man eher einem Autor des französischen “Nouveau Roman” zugetraut hätte, als einem ehemals so lebendig und temperamentvoll erzählenden Romancier oder einem politisch kühl analysierenden Reporter zugetraut hätte.

Seinen internationalen Ruhm begründete Naipaul mit dem Roman “Ein Haus für Mister Biswas”, der in seiner karibischen Heimat und den Kampf eines einfachen, aber ambitionierten eingewanderten Inders beschreibt, der das kühne Lebensziel verfolgt, mit seiner Familie ein wirtschaftlich selbständiges und zugleich kultiviertes Leben zu führen. Mit diesem autobiografisch gefärbten Roman setzte Naipaul seinen Vater, der sein Leben lang darum rang, ein Journalist und Schriftsteller zu werden, immer aber an den erbärmlichen Lebensbedingungen Trinidads scheiterte, ein menschlich anrührendes, unvergessliches Denkmal.

V.S.Naipaul: "An der Biegung des großen Flusses". Roman. Übersetzt von Sabine Roth. Fischer Taschenbuch Verlag, 14,99 Euro

Wie beweglich Naipauls literarische Fantasie ist, wie unabhängig von spezifischen Milieus oder Landschaften er zu erzählen vermag, bewies er rund 15 Jahre später, als er mit dem Roman “An der Biegung des großen Flusses” das Porträt einer afrikanischen Gesellschaft schrieb, in der sich ein Einwanderer als Geschäftsmann einen festen Lebensplatz zu erobern versucht. Seine jahrelange Arbeit, seine intensiven Anpassungsbemühungen und auch seine so behutsam angeknüpften Liebesbande zu einer ihm unerreichbar erscheinenden Frau werden kurzer Zeit zunichte gemacht, in der gewalttätige Rassenunruhen die wenigen, mühsam herausgebildeten zivilisatorischen Strukturen in diesem Land hinwegschwemmen.

Wegen seines gnadenlosen Blickes nicht nur auf die Schwächen der Ersten Welt, sondern auch auf die der Dritten Welt ist Naipaul oft heftig angegriffen worden. Sein Fazit, nachdem er als Collegelehrer in den USA gearbeitet hatte: “Ungebildete Studenten mit weißen Söckchen bedrohen Amerika mehr als Öl-Embargos”. Über seine britische Wahlheimat schrieb er: “Das Leben hier ist eigentlich eine Art Kastration. In England sind die Leute sehr stolz darauf, dumm zu sein.” Und nach einer seiner Afrikareise schrieb er: “Die Leute sagen, der Mann im Busch ist ausgebeutet worden, ist ein Opfer des Kolonialismus. Ich dagegen glaube, dass die Menschen in Europa viel größere Ungewissheiten und Gewalt ertragen haben als je ein Mensch, der im Busch lebt. Ich bin erstaunt über die Kreativität in Europa. Unkreative Länder, das sind doch wohl die arabischen Länder und Afrika. Sie tun nichts, das sind parasitäre Orte.”

V.S.Naipaul: "Indien - eine verwundete Kultur". Derzeit nur antiquarisch lieferbar

Naipaul war kein Mann der politisch ausgewogenen, begütigenden Äußerung. Doch er konnte seinen Furor stets mit großer Kompetenz und Lebenserfahrung rechtfertigen: Er kannte, wovon es sprach und konnte sein Urteil durch eigene Erlebnisse untermauern. Naipaul, der vom namenlosen Sohn verarmter indischer Eltern auf einer verlorenen Karibikinsel aus eigener literarischer Kraft zu einem Kosmopoliten und weltweit anerkannten Autor geworden war, legt unerbittliche Maßstäbe an. Dass ihn das zu einem sanftmütigen Menschen machte, wird niemand behaupten. Er sei ein glänzender Schriftsteller, gestanden ihm viele seiner Kritiker zu, aber eben auch ein Mann mit einem schwierigen Charakter.

Naipaul schonte nichts und niemanden – aber am wenigsten sich selbst. Er war ein fanatischer Arbeiter, der seine Manuskripte, nachdem sie getippt waren, mehrfach mit der Hand abschrieb, um so an jedem Satz, an jeder Formulierung erneut zu feilen – mitunter bis zum körperlichen Zusammenbruch. Auf diese Weise wurde er im buchstäblichen Sinn des Wortes ein freier Autor: “Das hat mit die Unabhängigkeit bewahrt”, schrieb er einmal, “von Leuten, von Verstrickungen, von Rivalitäten, vom Wettbewerb. Ich habe keine Gegenspieler, keine Rivalen, keine Meister: Ich fürchte niemanden.”

Gerade zu Beginn des neuen Jahrtausends und nach den Terroranschlägen vom 11. September – V. S. Naipual den Literaturnobelpreis zu verleihen, war mehr als eine literarische Entscheidung. Es war eine politische Demonstration: Für einen in vielen Kulturen erfahrenen Mann, der ohne Scheuklappen auf seine Epoche sah und der ohne Ärmelschoner schrieb und dachte. Für eine Mann, der – auch schmerzvoll – die Globalisierung sämtlicher Lebensverhältnisse schon Jahrzehnten zuvor am eigenen Leibe erfahren hatte. Und nicht zuletzt für einen Schriftsteller, der in der literarischen Tradition Europas den Lesern aller Kontinente mit hinreißender erzählerischer Anschaulichkeit von scheinbar entlegene Weltgegenden berichtet hatte, und der dort letztlich die gleichen Hoffnungen, die gleichen Schmerzen, die gleichen Träume, kurz: die gleichen Menschen entdeckt, die alle großen Romane bevölkern. V.S. Naipaul hat den Horizont unserer Literatur um ein gutes Stück ins Unbekannte vorangeschoben.

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Anna Seghers und John F. Kennedy II

Als John F. Kennedy mal Anhalter mitnahm

Hatte der junge John F. Kennedy, lange bevor er Präsident wurde, einen Gastauftritt in Anna Seghers berühmtesten Roman “Das siebte Kreuz”? Diese Spekulation ist natürlich höchst gewagt, aber es gibt ein paar Indizien für sie.

Das großartige und klug gemachte Literaturfestival “Frankfurt liest ein Buch” war vom 16. bis 29. April des Roman von Anna Seghers gewidmet. Da ich eine der vielen Veranstaltungen zu dem Buch bestreiten durfte, habe ich den Roman wiedergelesen und dabei fiel mir eine ziemlich bemerkenswerte Szene auf, in der der Flüchtling Georg Heisler per Anhalten mitgenommen wurde. Weitere Recherchen machten die Sache immer interessanter.

In einem Artikel für die Frankfurter Rundschau vom 30. April 2018 (Seite F3) breite ich meine Indizien aus – und stelle ihn hier nun online. Meine Behauptung ist natürlich komplett unbeweisbar, aber vielleicht doch bemerkenswert genug, einmal vorgestellt zu werden. Kennedy besuchte Deutschland dreimal zwischen 1937 und 1945. Hinterließ er dabei Spuren in der deutschen Literatur?

Anna Seghers: "Das siebte Kreuz". Ein Roman aus Hitlerdeutschland. Aufbau Verlag. 20 Euro

Um die Entstehung von Anna Seghers Roman „Das siebte Kreuz“ ranken sich Legenden. Ich möchte eine neue hinzufügen. Beweisbar ist meine nicht, aber fantasieanregend.

Anna Seghers hatte bereits 1933 vor den Nazis fliehen müssen. Doch auch Jahre später war sie, zeigt ihr Roman, noch immer exzellent orientiert über die Ereignisse und die soziale Atmosphäre in Deutschland. Offenbar erreichte sie über Exilorganisationen wie die „Rote Hilfe“ einen steter Strom von Informationen über Gruppen, die das Hitler-Regime bekämpften. So erhielt sie vermutlich auch Nachricht von der Flucht von sieben Häftlingen aus dem KZ Sachsenhausen 1936. Sechs von ihnen wurden eingefangen und an Pfählen auf dem Appellplatz des KZs aufgehängt. Der Siebte aber entkam, sein Pfahl blieb leer und wurde so zum Hoffnungszeichen.

Doch wie detailliert waren die Berichte, die Anna Seghers zugetragen wurden? Schließlich lebt ein Roman wie ihrer nicht allein von der Handlungsidee – der dramatischen Flucht –, sondern ebenso von einer Unzahl möglichst überzeugender Kleinigkeiten, die diese Handlung glaubwürdig erscheinen lassen.

Fast in der Mitte ihres Buches hat Anna Seghers eine überraschende Szene eingebaut: Ihre Hauptfigur Georg Heisler wird von einem jungen Ausländer, der einen ausländischen Wagen fährt, per Anhalter mitgenommen. Der Fahrer kaut Kaugummi und spricht gebrochen Deutsch. Die Vermutung, er sei Amerikaner, liegt nahe.

Fabelhaft ist diese Episode schon deshalb, weil Anna Seghers hier den erzählerischen Mut hat, ihren Helden von einer moralisch unvorteilhaften Seite zu zeigen: Heisler erwägt kurz, den freundlichen Fahrer zu ermorden, um den „schönen Schlitten“ zu stehlen. Wie verfiel Anna Seghers auf diese Szene? Sie hatte die Handlung ihres Romans in den Oktober 1937 verlegt, und die Vorstellung von einem jungen Amerikaner, der in dieser Zeit mit einem großen amerikanischen Wagen durch Deutschland reist, liegt nicht eben nahe.

John F. Kennedy: "Unter Deutschen". Reisetagebücher und Briefe1937-1945 Herausgeber: Oliver Lubrich; Übersetzung: Tessari, Carina. 9,95 Euro

Vor fünf Jahren wurde allerdings das Reisetagebuch eines 20-jährigen Amerikaners veröffentlicht, der tatsächlich im 1937 mit seinem Ford Deluxe Cabriolet durch Europa tourte und am 21. August von Süden kommend über Frankfurt nach Köln fuhr, also die fiktive Fluchtroute Heislers berührte. Dieser Amerikaner gelangte später ins höchste politische Amt seines Landes und wird bis heute verehrt: Es war John F. Kennedy.

Er bereiste mit seinem Studienfreund Kirk LeMoyne Billings einen Sommer lang im eigenem Wagen den alten Kontinent. Obwohl der junge Kennedy in Harvard Politik studierte, vertrat er erstaunliche politische Ansichten: „Komme zu dem Schluss, dass Faschismus das Richtige für Deutschland und Italien ist, Kommunismus für Russland und Demokratie für Amerika und England.“ Zudem schreibt er das Wort „Faschismus“ („Fascism“) in seinen Notizen konsequent falsch („Facism“).

Um mehr über Land und Leute zu erfahren, bestand Kennedy darauf, so Billings, „dass wir jeden deutschen Anhalter mitnahmen.“ Darunter sei auch ein Student gewesen, „der sehr gegen Hitler war. Wahrscheinlich ist er jetzt tot.“ In Anna Seghers Roman beginnt die entsprechende Szene mit der Bemerkung, der ausländische Wagenbesitzer habe förmlich Ausschau gehalten nach Anhaltern und „Georgs Wink geradezu erwartet.“

Natürlich kann die Vorstellung, der spätere Präsident Kennedy habe eine Art Gastauftritt im berühmtesten Roman von Anna Seghers, nicht mehr als eine Spekulation sein. Doch ausgeschlossen ist es nicht, dass ihr die unwahrscheinliche Begegnung zwischen einem deutschen Hitlergegner und zwei Amerikanern irgendwo bei Frankfurt bis ins Pariser Exil zugetragen wurde. Ein berührender Gedanke ist es allemal, dass es vielleicht ein Widerstandskämpfer war, der dem Politikstudenten Kennedy zu ein paar realistischen Einsichten über den Nationalsozialismus verhalf.

 

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Matthias Politycki: “Tankwart, das Lied vom Volltanken singend”

Das Leben zwischen Manta und Mazda

Matthias Politycki: "Sämtliche Gedichte 2017-1987". Mit einem Nachwort von Wolfgang Frühwald. Verlag Hoffmann und Campe. 32 Euro

Matthias Politycki gehört für mich zu den originellsten Dichtern, die wir derzeit in der deutschen Literatur haben. Seine Gedichte bereiten mir sinnlich und intellektuell immer wieder ein prachvolles Vergnügen. Jetzt hat Politycki einen umfangreichen Band mit seinen “Sämtlichen Gedichten 2017-1987″ auf den Buchmarkt gewuchtet, den ich jedem, der Gedichte als Genuss und nicht als literaturwissenschaftliche Decodierungsvorlage betrachtet, ans Herz legen möchte. Das Buch enthält außerdem ein kluges Nachwort von Wolfgang Frühwald. Matthias Politycki und sein Verlag Hoffmann und Campe haben mir erlaubt, eines der Gedichte hier im Blog vorzustellen und einen kleinen, hoffentlich erhellenden Kommentar hinzuzufügen. Der Kommentar mir zugleich Gelegenheit gibt, über eine Interpretation nachzudenken, die ich vor über zwanzig Jahren zu eben diesem Gedicht geschrieben habe. Mein Dank an Autor und Verlag!

Zuerst natürlich das 1994 entstandene Gedicht von Politycki:


Tankwart, das Lied vom Volltanken singend

Ist doch
ziemlich egal, ob du einer von denen bist -
einer der lausigen Lichthupenfürsten,
die (mit ner Beifahrerloge in Blond)
hier ihren Unterarm raushängen müssen

Ist doch
wirklich egal, ob du einer von denen bist,
die (mit ner schönen Bescherung zur Rechten
und auch drei schreienden Schrazen im Fond)
vollauf beschäftigt sind, Chips ranzuschaffen

Ist doch
völlig egal, ob ich dir deine Mühle jetzt
volltanken soll, denn schon morgen, da hab ich
den Tag komplett frei und da steig ich, ihr
windigen Manta- und Mazda-Rummurkser, ihr
hochwürdigen Audi- und Volvos-Schnarchsäcke, steig
in meinen Turbo-Metallic und dann: nix wie
weg! Mann, die Kurve gekrazt

bis zu
dieser, oh ja: dieser Tanke, und wenn ich
das Fenster dann kaum einen Spalt runterkurble und
keinen Mucks leiser gar dreh die Musik und auch
keinen Deut rauf in die Stirn etwa schiebe die
Brille mit blickdichtem Sonnenglas, wenn ich
dann nur so leicht nicke und – na? Ist doch
absolut schnurzpiepegal

Fitnesstrainer für die Erinnerung

Polityckis Gedicht hatte mir sofort gefallen, als ich es in seinem Band “Jenseits von Wurst und Käse” (1995) zum ersten Mal las. Also schrieb ich damals für Marcel Reich-Ranicki eine kleine Interpretation dazu, die er am 30. März 1996 in der FAZ in seiner Reihe “Frankfurter Anthologie” veröffentlichte. Die Chance, das Gedicht jetzt in dem 639seitigen Band “Samtliche Gedichte” wiederzulesen, gibt mir folglich auch Gelegenheit, mir nach gut zwanzig Jahren noch einmal meine eigene Interpretation vorzuknöpfen. Hat die Zeit etwas an dem Gedicht geändert oder an meinem Blick darauf? Denn es ist, auch wenn es das im ersten Augenblick vielleicht nicht gleich sichtbar wird, ein politisches Gedicht, dass zu politischen Reaktionen und Interpretationen herausfordert. Und die können sich im Laufe von über zwanzig Jahren ändern.

Aber zunächst einmal zur sprachlichen Seite der Angelegenheit. Denn damit begann ich damals meinen Beitrag zur “Frankfurter Anthologie”:

“Gute Dichter ziehen aus, neue Sprachterritorien zu erbeuten. Sicher, sie kennen jene wunderbaren Wortlandschaften, in denen die Poeten früherer Jahre und Jahrhunderte ihre Lyrikernte einbrachten, und sie tun sich dort ebenfalls um. Aber solche bereits bekannten Areale allein genügen ihnen nicht. Sie wollen Neuland gewinnen und erforschen – denn die wissen, dass sich Sprache unentwegt wandelt.

Aber selbst unter den Autoren, die in ihren Versen der ständigen Spracherneuerung auf den Fersen bleiben, bilden sich immer wieder fade Konventionen aus. So ist in der deutschen Gegenwartslyrik oft – mit wackerer Gesinnung, aber meist ein wenig abstakt – die Rede von übertriebenem Wohlstand oder vergifteter Natur, von der Fremdheit zwischen den Menschen und deren mangelnder Selbsterkenntnis. Sehr selten dagegen treten in Gedichten unserer Jahre ‘Tankstellen’ oder ‘Chips’, ‘Mazda-Rummurkser’ oder ‘Volvo-Scharchsäcke’ in Erscheinung – und das ist verwunderlich, handelt es sich dabei doch um sehr zeitgenössische, sehr vertraute Phänomene. Kann es sein, dass in der Gegenwartslyrik unsere Gegenwart viel zu selten vorkommt?

Matthias Politycki (Jahrgang 1955) liebt es, die Leser seiner Gedichte mit alltäglichen, scheinbar banalen Worten und Wendungen zu konfrontieren, die nicht zum üblichen Lyrik-Vokabular gehören wie Sonne, Mond und Sterne. So ist das ‘Lied vom Volltanken’, das sein Tankwart singt, ganz auf das Adjektiv ‘egal’ eingestimmt: liebevoll gesteigert von ‘ziemlich egal’ über ‘wirklich egal’ und ‘völlig egal’ bis zu ‘absolut schnurzpiepegal’”.

Soweit damals meine ersten Bemerkungen zur Sprache des Gedichts. Diese Ansichten zu Polityckis Arbeit sind inzwischen weit verbreitet. Im Jahr 2000 rechnete ihn der Kritikerkollege Denis Scheck zu den wenigen Autoren deutsche Zunge, in deren Büchern man “ein Soundtrack des gelebten Lebens, eine Tonspur der bundesrepublikanischen Wirklichkeit” wiederfinden könne, wie Wolfgang Frühwald in seinem Nachwort dankenswerterweise zitiert. Ich war vermutlich nicht der erste und bin hoffentlich nicht der letzte, der sich über das große Talent Polityckis freut, bislang ungenutzte Sprachschätze unserer Zeit aus dem Sprechalltag zu bergen und in die Welt der Literatur zu überführen. Ich denke, diesen Punkt können wir abhaken, an dieser Leidenschaft dieses Autors und der entsprechenden Qualität seine Bücher besteht heute kein begründeter Zweifel mehr.

Nach diesem Einstieg bog in meiner Interpretation dann zu dem gesellschaftspolitischen Aspekt des Gedichtes ab. Denn das darin so liebevoll gesteigerte Adjektiv “egal” sah ich und sehe ich auch heute als deutlichen Hinweis an:

“Das unscheinbare Wort ist, so zeigt Polityckis Gedicht, zu einem zentralen Begriff unserer weitgehend egalitären Gesellschaft geworden. Natürlich gibt es nach wie vor Unterschiede zwischen den einzelnen Milieus, zwischen ‘lausigen Lichthupenfürsten’ oder braven Familienvätern mit ‘drei schreienden Schazen im Fond’, zwischen Mazda- oder Audi-Besitzern. Und natürlich werden diese feinen Unterschiede, die nüchtern betrachtet minimal sind, von den Beteiligten gern mit ungeheurer Bedeutung aufgeladen, um sich zumindest die Illusion einer gesellschaftlichen Rangordnung zu retten.

Aber letztlich stehen wir, erinnert uns Politycki, dann doch alle an der gleichen Tankstelle. Das einst so gravierende soziale Gefälle ist letztlich in beträchtlichem Maße applaniert worden. Der Tankwart, der seine Kunden bedient, ist heute kein Diener mehr, und die anderen sind nicht seine Herren. Schon morgen hat er ‘wieder komplett den Tag frei’ steigt in seinen ‘Turbo-Metallic’, fährt zu nächstgelegenen Zapfsäule und ist dort seinerseits Kunde, der auf ein beiläufiges Nicken seines mit ‘blickdichtem Sonnenglas’ bewehrtem Kopf eilfertig umsorgt wird.”

Unschwer zu merken, dass damals meine Lektüre von Pierre Bourdieus “Feinen Unterschieden” seine Spuren im Gedicht-Kommentar hinterlassen hat. Aber ebenso unschwer ist zu spüren, dass der Kommentar vor der Agenda 2010 geschrieben wurde, die zwischen 2003 und 2005 unter Kanzler Schröder die Realitäten des Landes veränderten. Der Begriff “egalitär” gehört nicht zu den zentralen Begriffen, mit denen man derzeit den aktuellen Zustand der Bundesrepublik zu beschreiben versucht. Wenn heute vielmehr von einer “neuen Spaltung” der Gesellschaft gesprochen wird und davon, dass es eine beträchtliche Gruppe von Bürgern “angehängt” fühle von der Entwicklung des Landes, werden die Ursachen dafür regelmäßig auf die Agenda-Politik zurückgeführt.

Ob diese gegenwärtig sehr geläufige Diagnose richtig ist oder unzureichend, ob es dem Land ohne Agenda 2010 heute besser ginge oder nicht, möchte ich hier gern dahingestellt sein lassen. Es interessiert mich bei der Lektüre dieses Gedichtes (samt meiner Interpretation) im Grunde nicht. Darüber wäre in einer zähen und hoffentlich mit zuverlässigen soziologischen und wirtschaftspolitischen Fakten unterfütterten Debatte zu streiten.

Im Hinblick auf das Gedicht scheint mir anderes wichtiger: Nämlich seine Kraft, eine inzwischen fast 25 Jahre zurückliegende gesellschaftliche Atmosphäre beim Lesen zu vergegenwärtigen – eben weil es die Tonlage dieser Zeit und ihr Sprachmaterial literarisch so kunstvoll konserviert hat. Die Sprach-Sinnlichkeit und die Sprach-Freude Polityckis hat einen bestimmten gesellschaftlichen Moment durch das saloppe Schwingen der Verse, durch die kunstvolle Lässigkeit des Tonfalls eingefangen. Er führt seinen Lesern nicht nur einen Ausschnitt des Lebens unter egalitären Verhältnissen vor, er lässt sie diesen Moment mit Worten noch einmal nachschmecken. Mit Sonne, Mond und Sternen, also mit dem traditionell gewohnten lyrischen Sprachmaterial, das große Teile der zeitgenössischen Lyrik hierzulande noch immer dominiert, wäre das wohl kaum möglich. Politycki erfüllt so eine uralte Aufgabe der Literatur: die sinnliche Vergegenwärtigung von Vergangenheit. Er ist ein Fitnesstrainer für die Erinnerung.

 

 

 


 

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Karl Marx und das Theater

Kapital und Drama

Als Student wollte Karl Marx ein romantischer Dichter werden. Bald schon sah er ein, dass seine Talente nicht in der Lyrik lagen und beendete seine poetische Karriere bevor er 19 wurde. Aber ein leidenschaftlicher Leser der Literatur ist er sein Leben lang geblieben. Was nicht ohne Einfluss blieb auf seine ökonomischen Theorien und vielleicht auch auf seine frühe Geschichtsphilosophie. Für DasTheaterMagazin habe ich einen Aufsatz über “Kapital und Drama. Was Marx von Shakespeare lernte” geschrieben. Er ist jetzt online zu lesen:

https://www.der-theaterverlag.de/theatermagazin/dtm/theatermagazin-05-2018/marx-shakespeare/

 

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