Was bleibt uns in Zeiten der Krise? Die Bücher! Das Lesen! Und das Reisen im Kopf.
Der Büchersäufer stellt hier Bücher vor, die er mit Genuss bis zur Neige geleert, oder an denen er lieber nur kurz genippt hat.
Heute: Über die Sehnsucht nach behaglichen Zimmern,
die demokratischen Grundlagen von Wegen im freien Gelände sowie den Einzelgänger als Varta-Häschen
Das kilometerlange Schweigen beim Denken
Falls Sie mal – für ein Kreuzworträtsel oder so – das Gegenteil von einem Touristikfachmann suchen, möchte ich Ihnen den französischen Philosophen Blaise Pascal ans Herz legen. Er war überzeugt, „das ganze Unglück der Menschen“ rühre daher, „dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.“ Eine Ansicht, die man in diesen Wochen der Viren gar nicht stark genug betonen kann.
Das ganze Unglück der Menschen müsste demnach allerdings bereits ziemlich alt sein. Denn schon als unsere Vorfahren in Urhorden die Savannen Afrikas durchstreiften, waren sie Nomaden. Bis sie Häuser beziehen konnten mit behaglichen Zimmern, in denen es eine Freude war, der Empfehlung Pascals zu folgen, hatten sie noch einen langen Weg zu gehen.
Der Brite Robert Macfarlane versucht das Unglück nicht durchs Sitzen im Zimmer hinter sich zu lassen, sondern durchs Wandern. Er liebt Strecken, die bereits seit Jahrhunderten oder sogar schon seit der Steinzeit benutzt wurden und beschreibt sie in seinem Buch „Alte Wege“ (Matthes & Seitz, 32 Euro). Bei ihm kann man lernen, was für eine enorm gemeinschaftliche und letztlich geradezu demokratische Sache so ein Pfad im freien Gelände ist. Denn Pfade entstehen nur dort, wo über einen langen Zeitraum viele Menschen gehen, weil sie alle gerade diese Richtung für die Richtige halten. Ein Einzelner kann da überhaupt nichts ausrichten, es sei denn er würde auf der eigenen Spur immerzu wie ein Varta-Häschen hin und her rasen. Alte Wege sind so etwas wie das Resultat kollektiver Weisheit des Vorankommenwollens.
Wie viel Gemeinsinn ein alter Weg repräsentiert, macht Macfarlane an einem Beispiel klar: Vor Jahrhunderten war es in England üblich, an der Stelle, an der ein Pfad in einen dichten Wald führte, gut sichtbar eine kleine Sichel zu platzieren. Mit der konnte sich der Wanderer die Strecke von nachwachsenden Hindernissen freischneiden, und dann hinterließ er die Sichel nach dem Waldstück wiederum an einem auffälligen Platz, damit ein entgegenkommender Wanderer seinerseits die Pfadpflege fortsetzen konnte. Geklaut wurde sie nicht.
Ob Pascal das wusste? Vielleicht hätte er dann besser über die Welt jenseits seines Zimmers gedacht. Ein anderer Philosoph, Ludwig Wittgenstein, der im Gehen besser denken konnte als im Sitzen, versuchte mitunter beides zugleich: zu wandern und im Zimmer zu bleiben. Eine Möglichkeit, die man derzeit besonders in Betracht ziehen sollte. Wenn Wittgenstein während des Studiums in Cambridge ein Gedanke seines Professors Bertrand Russell besonders aufwühlte, stand er auf und lief im Arbeitszimmer seines Lehrers in erregtem Schweigen auf und ab. Er schritt dessen Argumentation gewissermaßen Punkt für Punkt ab. Er soll in der kleinen Gelehrtenstube ohne ein Wort zu sagen Kilometer um Kilometer abgespult haben, während Russell ebenso schweigsam und sehr geduldig dabei zuschaute, wie ungestüm sein begabtester Schüler lernte.