Der Büchersäufer stellt Bücher vor, die er bis zur Neige genossen, oder an denen er lieber nur genippt hat.
Heute: Über den Kampf ums Reisendürfen, einen eleganten Anarchisten mit langem Haar sowie das zweifelhafte Glück, mit Lothar Matthäus zu reden
Das heilige Hemd unter DDR-grauer Jacke
Seit es die Billigflieger gibt, herrscht beim Reisen vor allem die Qual der Wahl. Was darf’s denn sein: Scuba auf Cuba? Radtour in Singapur? Safari in Malawi? Doch das größte Freiheitsglück des Reisens spürt derjenige, der um die Freiheit des Reisens überhaupt erst kämpfen musste.
Wolfgang „Wolle“ Großmann ist so einer, und der Reporter Alex Raack hat seine Geschichte in einem Buch namens „Wolle“ aufgeschrieben (Tropen Verlag, 16,95 Euro). Wolle wurde in Mönchengladbach geboren und erlebte die Urkatastrophe seines Lebens im Alter von zwei Jahren – als seine Eltern mit ihm kurz vor dem Mauerbau nach Dresden umzogen. Denn Wolle ist, sagen wir mal, ein wenig eckig ins Leben gebaut und holte sich pausenlos blaue Flecke im Stasi-Sozialismus der DDR.
Aber hätte es für einen jungen, schwer bezähmbaren Mann aus Mönchengladbach in den 70-er Jahren ein größeres Freiheitsversprechen geben können, als den Hurra-Fußball der Borussia mit Spielern wie Jupp Heynckes und den eleganten Anarchisten Günter Netzer, der sich beim Endspiel um den DFB-Pokal ohne einen Blick zum Trainer selbst einwechselte und das Siegtor schoss?
Wolle wurde in Dresden Borussia-Fan bis auf die Knochen. Jeder schwarz-weiße-grüne Schal, jedes Borussia-Trikot, dessen er habhaft werden konnte, waren ihm heilig, heilig, heilig. Auch wenn er sie versteckt unter DDR-grauen Jacken tragen musste, weil Polizei und Ämter nur zu gern bereit waren, ihm seine Begeisterung für Westliches krumm zu nehmen.
Bis die Borussia 1981 im Uefa-Pokal gegen den 1.FC Magdeburg spielte. Da hielt Wolle nichts mehr. Als sein Team eintraf, lenkte ein Freund die Stasi-Aufpasser ab, Wolle huschte die Treppe des Mannschaftshotels hinauf, klopfte an irgendeine Tür und trat ein. Okay, zugegeben, nicht für jeden von uns zählt es zum Traum vom Glück, Lothar Matthäus sein Herz auszuschütten. Aber für Wolle war es das. Eine Stunde saß er da, erzählte Matthäus wie es ist, Borussia-Fan in Dresden zu sein, und der konnte es nicht fassen.
Schließlich stellte Wolle einen Ausreiseantrag, und 1985 durfte er sich auf den Weg machen, um seiner Borussia im Heimatstadion nah zu sein. Und hinterließ den denkwürdigen Satz: „Ich hab’ die DDR doch nicht verlassen, weil mir die Wurst nicht schmeckte, sondern weil ich auf den Bökelberg wollte!“ Das erste Spiel am Sehnsuchtsziel war nur ein Unentschieden. Aber das zweite bereits ein Fußballfest, 7:0 gegen Kaiserslautern! Wolle war angekommen.