Als John F. Kennedy mal Anhalter mitnahm
Hatte der junge John F. Kennedy, lange bevor er Präsident wurde, einen Gastauftritt in Anna Seghers berühmtesten Roman “Das siebte Kreuz”? Diese Spekulation ist natürlich höchst gewagt, aber es gibt ein paar Indizien für sie.
Das großartige und klug gemachte Literaturfestival “Frankfurt liest ein Buch” war vom 16. bis 29. April des Roman von Anna Seghers gewidmet. Da ich eine der vielen Veranstaltungen zu dem Buch bestreiten durfte, habe ich den Roman wiedergelesen und dabei fiel mir eine ziemlich bemerkenswerte Szene auf, in der der Flüchtling Georg Heisler per Anhalten mitgenommen wurde. Weitere Recherchen machten die Sache immer interessanter.
In einem Artikel für die Frankfurter Rundschau vom 30. April 2018 (Seite F3) breite ich meine Indizien aus – und stelle ihn hier nun online. Meine Behauptung ist natürlich komplett unbeweisbar, aber vielleicht doch bemerkenswert genug, einmal vorgestellt zu werden. Kennedy besuchte Deutschland dreimal zwischen 1937 und 1945. Hinterließ er dabei Spuren in der deutschen Literatur?
Um die Entstehung von Anna Seghers Roman „Das siebte Kreuz“ ranken sich Legenden. Ich möchte eine neue hinzufügen. Beweisbar ist meine nicht, aber fantasieanregend.
Anna Seghers hatte bereits 1933 vor den Nazis fliehen müssen. Doch auch Jahre später war sie, zeigt ihr Roman, noch immer exzellent orientiert über die Ereignisse und die soziale Atmosphäre in Deutschland. Offenbar erreichte sie über Exilorganisationen wie die „Rote Hilfe“ einen steter Strom von Informationen über Gruppen, die das Hitler-Regime bekämpften. So erhielt sie vermutlich auch Nachricht von der Flucht von sieben Häftlingen aus dem KZ Sachsenhausen 1936. Sechs von ihnen wurden eingefangen und an Pfählen auf dem Appellplatz des KZs aufgehängt. Der Siebte aber entkam, sein Pfahl blieb leer und wurde so zum Hoffnungszeichen.
Doch wie detailliert waren die Berichte, die Anna Seghers zugetragen wurden? Schließlich lebt ein Roman wie ihrer nicht allein von der Handlungsidee – der dramatischen Flucht –, sondern ebenso von einer Unzahl möglichst überzeugender Kleinigkeiten, die diese Handlung glaubwürdig erscheinen lassen.
Fast in der Mitte ihres Buches hat Anna Seghers eine überraschende Szene eingebaut: Ihre Hauptfigur Georg Heisler wird von einem jungen Ausländer, der einen ausländischen Wagen fährt, per Anhalter mitgenommen. Der Fahrer kaut Kaugummi und spricht gebrochen Deutsch. Die Vermutung, er sei Amerikaner, liegt nahe.
Fabelhaft ist diese Episode schon deshalb, weil Anna Seghers hier den erzählerischen Mut hat, ihren Helden von einer moralisch unvorteilhaften Seite zu zeigen: Heisler erwägt kurz, den freundlichen Fahrer zu ermorden, um den „schönen Schlitten“ zu stehlen. Wie verfiel Anna Seghers auf diese Szene? Sie hatte die Handlung ihres Romans in den Oktober 1937 verlegt, und die Vorstellung von einem jungen Amerikaner, der in dieser Zeit mit einem großen amerikanischen Wagen durch Deutschland reist, liegt nicht eben nahe.
Vor fünf Jahren wurde allerdings das Reisetagebuch eines 20-jährigen Amerikaners veröffentlicht, der tatsächlich im 1937 mit seinem Ford Deluxe Cabriolet durch Europa tourte und am 21. August von Süden kommend über Frankfurt nach Köln fuhr, also die fiktive Fluchtroute Heislers berührte. Dieser Amerikaner gelangte später ins höchste politische Amt seines Landes und wird bis heute verehrt: Es war John F. Kennedy.
Er bereiste mit seinem Studienfreund Kirk LeMoyne Billings einen Sommer lang im eigenem Wagen den alten Kontinent. Obwohl der junge Kennedy in Harvard Politik studierte, vertrat er erstaunliche politische Ansichten: „Komme zu dem Schluss, dass Faschismus das Richtige für Deutschland und Italien ist, Kommunismus für Russland und Demokratie für Amerika und England.“ Zudem schreibt er das Wort „Faschismus“ („Fascism“) in seinen Notizen konsequent falsch („Facism“).
Um mehr über Land und Leute zu erfahren, bestand Kennedy darauf, so Billings, „dass wir jeden deutschen Anhalter mitnahmen.“ Darunter sei auch ein Student gewesen, „der sehr gegen Hitler war. Wahrscheinlich ist er jetzt tot.“ In Anna Seghers Roman beginnt die entsprechende Szene mit der Bemerkung, der ausländische Wagenbesitzer habe förmlich Ausschau gehalten nach Anhaltern und „Georgs Wink geradezu erwartet.“
Natürlich kann die Vorstellung, der spätere Präsident Kennedy habe eine Art Gastauftritt im berühmtesten Roman von Anna Seghers, nicht mehr als eine Spekulation sein. Doch ausgeschlossen ist es nicht, dass ihr die unwahrscheinliche Begegnung zwischen einem deutschen Hitlergegner und zwei Amerikanern irgendwo bei Frankfurt bis ins Pariser Exil zugetragen wurde. Ein berührender Gedanke ist es allemal, dass es vielleicht ein Widerstandskämpfer war, der dem Politikstudenten Kennedy zu ein paar realistischen Einsichten über den Nationalsozialismus verhalf.