Helmut Winkelmann ist tot
Der Schauspieler und Sprecher Helmut Winkelmann ist am 19. August gestorben. Man kennt seine markante Stimme von zahllosen Hörbüchern und von unübersehbar vielen Sendungen der Kulturmagazine “ttt” oder “Kulturzeit”. Vor allem aber war er ein großartiger Mensch, ein wunderbarer Freund und Kollege. Gestern, am 30. August fand die Trauerfeier zu seinen Ehren in Frankfurt am Main statt. Ich durfte eine der Reden auf ihn halten.
Liebe Jutta, liebe Mieka, lieber Malte,
liebe Familie von Helmut,
liebe Freunde, Kollegen, Nachbarn,
Abschiednehmen ist nie leicht. Und manchmal ist es sehr schwer.
Zu dem Kreis der Freunde, Kollegen, Nachbarn von Helmut zähle ich mich auch, mein Arbeitszimmer auf dem Heilsberg liegt keine achtzig Schritte entfernt von Helmuts Arbeitszimmer. Aber mir kommt im Kreis der Freunde, Kollegen, Nachbarn keine besondere Rolle zu. Wenn ich hier zum Abschied von Helmut spreche, bitte ich, darin keine Anmaßung zu sehen, sondern es als Wunsch von Jutta, Mieka und Malte zu betrachten. Ich möchte gern von meiner Freundschaft mit Helmut erzählen, und hoffe, dass meine Erinnerungen an ihn einen Raum bieten, in dem andere ihre Erinnerungen wiederkennen.
Das erste, was ich von Helmut kennenlernte, war seine Stimme. Ich konnte ihn nicht sehen, ich konnte ihn nur hören. Es war vor gut 20 Jahren, Helmut saß in einer etwas unübersichtlichen Bürgerversammlung weit hinten, es ging um die Pläne der Stadt Bad Vilbel mit den Häuser auf dem Heilsberg, und natürlich gab es Ärger. Helmut hatte sich zu Wort gemeldet, stand auf und sagte seine Meinung, sehr klar und sehr entschieden und mit einer Stimme, die nicht zu überhören war. Sie grollte erst wie ein Unwetter und versuchte dann sanft wie das Schnurren eines Kätzchens unsere Kleinstadtpolitiker zurückzulocken auf einen Pfad der Vernunft. Wie gesagt, ich kannte Helmut vorher nicht und konnte ihn von meinem Platz aus zunächst nicht sehen, aber nach dem Mann mit dieser Stimme drehte ich mich um.
Bald merkten Helmut und ich, wie viel wir gemeinsam hatten. Das waren vor allem anderen: Kinder ungefähr im gleichen Alter. Bei Jutta und Helmut also Mieka und Malte, bei Annette und mir Nicolas, Marten und Lennart. Kinder bilden, gleichgültig wo sie sind, eine schier grenzenlose Gemeinschaft des Spielens, die auch ihren Eltern wunderbare Chancen zu neuen Freundschaften eröffnet. Doch schnell kam vieles andere hinzu: Wir hatten beide in Köln studiert: Helmut in den sechziger Jahren Theaterwissenschaft und Germanistik. Ich Germanistik und Theaterwissenschaft in den siebziger Jahren. Helmut war Schauspieler und Sprecher geworden, Sprache war sein tägliches Handwerkszeug. Ich Journalist und Literaturkritiker, was Sprache auch für mich zum täglichen Arbeitsmaterial machte.
Und noch etwas: Helmut stammt aus Neuss am Rhein, ich wuchs nur 40 Kilometer rheinaufwärts in Köln auf. Wir waren zwei Rheinländer im hessischen Exil. Es ist ein sehr freundliches, ein selbstgewähltes Exil, aus dem wir uns aber im Gespräch dennoch gern fortschlichen in die rheinische Grundhaltung, möglichst nichts allzu ernst zu nehmen.
Mein Gott, wie gern hat Helmut gelacht, mein Gott, wie großartig konnte Helmut lachen und vergnügt in sich hineinkichern. Mir kam es oft vor, als würde er in solchen Momenten ein wenig wachsen, sein Oberkörper hob sich, wippte auf und ab, während er lachte, und Helmut schien für einen Augenblick einen Fingerbreit über dem Boden zu schweben.
Auch Abschieden, die nie leicht und manchmal sehr schwer sind, hat er gerne mit einem Scherz und einem Lachen etwas von ihrem Gewicht genommen. Vermutlich wäre es in Helmuts Sinne, wenn wir auch am Ende dieser Abschiedsfeier lachen und möglichst nichts allzu ernst nähmen.
Zu meinen schönsten Erinnerungen an Helmut gehören einige abendliche und nächtliche Autofahrten durch das Rhein-Main-Gebiet und Hessen. Wir waren damals unterwegs zu den wechselnden Aufnahmeorten von Peter Härtlings langjähriger Radiosendung „Literatur im Kreuzverhör“. Härtling, der im vergangenen Sommer gestorben ist, hatte kurze literarische Texte ausgewählt, die Helmut in der Sendung vortrug. Ich gehörte zu der fünfköpfigen Raterunde, die zu erraten hatte, von welchen Autoren diese Textausschnitte stammten.
Das bot auf der Heimfahrt dann den perfekten Anlass, über die vorgelesenen Autoren und die gehörten Textsplitter zu reden. Wunderbar, wie viel ich von Helmut über das Theater gelernt habe, über seine Zeit am Max Reinhardt Seminar in Wien, über seine Engagements in der Schweiz, dann in Nürnberg, wo er Jutta kennenlernte, und vor allem über die zehn Jahre am Staatstheater in Darmstadt. Zu Hamlet und Macbeth macht man sich auch als Literaturkritiker seine Gedanken, aber was man mit diesen riesenhaften Figuren erlebt, wenn man sie auf der Bühne verkörpert, das kann einem nur ein Schauspieler erzählen, der sie gespielt hat. Ich werde nicht vergessen, wie Helmut mir Fritz Kortners Memoiren „Aller Tage Abend“ ans Herz legte und mir dabei erklärte, wie wichtig das richtige Timing ist für jeden professionellen Sprecher. Kortners großes Vorbild sei, sagte Helmut, der Langstreckenläufer Nurmi gewesen: „Denn der schaute beim Laufen auf die Uhr – um zu sehen, ob er nicht zu schnell ist.“
Wie sehr habe ich Helmut bewundert für seine Präzision als Sprecher – nicht nur, wenn er für Härtling kurze Ausschnitte, sondern wenn er ganze Bücher vorlas. Es war wie ein Zauberkunststück: Aus seinem Mund wurde jeder Text vollkommen klar, verständlich und transparent. Er hatte es zu seiner Kunst entwickelt, dem Zuhörer beim Lesen exakt die Betonungen zu liefern und kleinen Pausen zu verschaffen, die es braucht, um den Gedanken, der in dem Text steckt, tatsächlich verfolgen und begreifen zu können. Ein Kunststück, das ihm auch deshalb so gut gelang, weil er sich beim Lesen nie in den Vordergrund drängte, sondern bewusst hinter das Vorgelesene zurücktrat. Er nutzte seine Stimme, an der man sich als Zuhörer wärmen konnte wie im Winter an einer frisch gebrühten Tasse Tee, um den Text ins beste Licht zu rücken, nicht sich selbst. Diese Fähigkeit steht im Theater heute nicht immer hoch in Kurs. In Nürnberg soll ihn ein Regisseur einmal getadelt haben: „Helmut, Du sprichst so gut, schluder’ doch mal ein bisschen.“
Zu den üblichen Vorurteilen über Schauspieler gehört, dass sie unsagbar eitel sind. Vielleicht kann das auch nicht anders sein, wenn man einen Beruf ausübt, der es verlangt, sich selbst mit Haut und Haar öffentlich auszustellen. Aber ich habe nie einen uneitleren Schauspieler kennengelernt als Helmut. Vielleicht war auch das einer der Gründe, weshalb er sich von der Bühne verabschiedet und seinen Platz hinter dem Mikrophon des professionellen Sprechers eingenommen hat. Er liebte es mehr, Literatur zu präsentieren als sich selbst. Der Text war ihm wichtiger, als das eigene Gesicht in eine Kamera zu halten.
Helmut war für mich immer ein Mann mit ganz besonderen Fähigkeiten und Talenten. Und die größte seiner Begabungen war für mich seine Fähigkeit, trotz seines außerordentlichen Könnens kein Aufhebens um sich zu machen. Er hatte die erstaunliche und sehr seltene Gabe, von sich selbst abzusehen. Er liebte seine Arbeit, sie war seine Passion, in ihr konnte er aufgehen. Er selbst kam erst danach.
Abschiednehmen ist nie leicht und manchmal ist es schwer. Als Annette und ich vor vier Wochen das letzte Mal bei ihm waren, fühlte ich, wie meine Bewunderung für Helmut immer weiter wuchs. Seine Ruhe, seine Gelassenheit, ja seine Heiterkeit trotz der Krankheit haben mich umgehauen. Auch in dieser Situation hatte er die Kraft, von sich selbst abzusehen. Brecht hat in einem seiner letzten Gedichten davon geschrieben, er freue sich nicht nur an den Vögeln, die er vor seinem Fenster singen höre, sondern er freue sich auch an dem Gesang der Vögel, die noch dann vor seinem Fenster singen werden, wenn er nicht mehr da sei. Etwas von dieser erstaunlichen, dieser selbstlosen Freude am Leben habe ich bei diesem Besuch bei Helmut gespürt.
Eine Rede auf Helmut sollte nicht, ja darf nicht in düsterer Tonlage schließen. Dafür hat er viel zu gern gelacht und das Leben genossen. Ich erinnere mich an unsere nächtliche Autofahrt, als mir Helmut von Wien und Fritz Kortner erzählte. Einmal sei, sagte Helmut, Kortner nach dem Unterschied zwischen dem Berliner Schillertheater und dem Wiener Burgtheater gefragt worden. Der Unterschied, antwortete Kortner, sei nicht groß: „An beiden Theatern wird miserabel gespielt. Aber am Burgtheater sind sie stolz darauf.“
Doch die beste Geschichte, die Helmut mir damals erzählte, ist die von dem alten Kortner, der nachts im Zug sitzt und sein müdes, kränkliches Gesicht im spiegelnden Fenster studiert. Bis ihn ein Fremder anspricht und sagt:
„Sie sehen aus wie Fritz Kortner, aber ich weiß, Sie können es nicht sein.“
„Warum nicht?“, fragte Kortner.
„Weil“, so der Mitreisende, „meine Frau mir unlängst erzählt hat, dass Kortner tot ist.“
Kortner zuckte die Achseln: „Sagen Sie ihrer Frau, Kortner lebt.“
Als sein Blick dann wieder auf sein Spiegelbild im Fenster fiel, fügte er schnell hinzu: „Aber sagen Sie es ihr bald!“
Lieber Helmut, nach dieser mustergültigen Pointe lachten wir beide lauthals nachts auf dieser Heimfahrt im Wagen, und wir hätten, ein wenig Licht vorausgesetzt, unsere Gesichter in den Seitenscheiben des Autos studieren können. Wir wussten das, aber es machte nichts. Wir lachten und genossen den Moment, und ich schwöre, für einen winzigen Augenblick schwebte unser Wagen einen Fingerbreit über dem Boden.