Im November durfte ich Anna Katharina Hahn als Laudator zum Buchpreis Familienroman der Stiftung Ravensburger 2020 gratulieren. Sie wurde ausgezeichnet für ihren Roman „Aus und davon“. In den Wochen danach war ich so überhäuft von Tagesarbeit und verschiedenen Verpflichtungen für mein Buch “Februar 33″, dass ich weder die Zeit noch die Energie fand, die Rede online zu stellen. Jetzt komme ich endlich dazu und hoffe, dass meine kleine Rede Leser auf diesen wichtigen und schönen Roman aufmerksam machen und vielleicht zur Diskussion über ein neues Verständnis des anspruchsvollen Genres “Familienroman” beitragen kann.
Das innerfamiliäre Reiz-Reaktions-Pingpong
Viele junge Eltern hängen über der Wiege ihres Neugeborenen ein Mobile auf. Die Babys haben dann etwas, auf das sie ihren Blick fixieren können und dessen langsam schwingende Bewegungen sie beruhigt.
Aber ist das schon alles? Um ehrlich zu sein, habe ich, wenn ich so ein Mobile über einer Wiege hängen sehe, oft das Gefühl, dass diese schaukelnden und schlingernden kleinen Gebilde für das Kind auch eine anschauliche Vorbereitung auf das sind, was in den nächsten Jahren familiär auf sie zukommen wird. Nämlich eine endlose Choreografie bedächtig wogender oder aber auch dramatisch wirbelnder zwischenmenschlicher Beziehungen und Abhängigkeiten, die niemals zum Stillstand kommt.
Jeder von uns kennt das: Schubst man ein Element eines Mobiles an und setzt es damit in Bewegung, teilt sich dieser Schwung in der einen oder anderen Form allen andern Teilen des Mobiles mit. Nichts von dem, was einem Element zustößt, lässt die anderen vollkommen gleichgültig. Zu sensibel ist einerseits die Verbindung zwischen ihnen und zu fest sind sie andererseits aneinander gebunden. Alles bewegt alle – auch wenn sich die Bewegungen den verschiedenen Teilen in einem gebremsten Maße mitteilen und in einer schwer vorherzusehenden Richtung.
Wir stellen uns ein ideales Familienleben gern als eine stabile, gut gefügte, belastbare Einheit vor, in der jedes Teil seinen festen Platz findet. Und natürlich ist diese Vorstellung nicht falsch. Aber wenn wir genauer hinschauen, ähnelt Familienleben letztlich auch dem ewigen Tanz der Mobiles. Alles, was ein Mitglied einer Familie betrifft, beschäftigt, innerlich bewegt, teilt sich in der einen oder anderem Form den anderen Mitgliedern mit, betrifft sie, bewegt sie, verändert ihre Lage. Und das gilt keineswegs nur für Impulse, die von außen kommen, für Erfolge, Schicksalsschläge, neue Begegnungen oder was auch immer. Sondern es gilt ebenso für die ständigen feinen und feinsten Veränderungen der inneren Balancen aller Familienmitglieder. Auch sie teilen sich den anderen mit und verändern wiederum deren Balance. Ein gelungenes Familienleben ist vielleicht nichts anderes als ein ständiger Tumult, der kein konstantes Zentrum kennt und dennoch immerzu nach neuen Gleichgewichtszuständen strebt.
Aus der Perspektive der Schriftstellerin oder des Schriftstellers bedeutet das vor allem eines: jeder Familienroman ist, wenn er seinem Thema gewachsen sein will, nicht zuletzt bei der Zeichnung der Figuren eine ungeheure Herausforderung. Eine Herausforderung, die sich vergrößert, ja multipliziert, je komplexer die Familienkonstellationen sind, von denen erzählt wird. Und Anna Katharina Hahn erweist sich in „Aus und davon“, dem Roman für den sie heute den Preis der Stiftung Ravensburger Verlag erhält, als eine wahre Virtuosin darin, das Familien-Mobile Geiger-Chatzis in kluge Turbulenzen zu versetzen und zugleich die jeweiligen Folgen dieser Turbulenzen im Leben der verschiedenen Familienmitglieder nachzuzeichnen.
Nehmen wir zum Beispiel Elisabeth Geiger, eine Schwäbin, aufgewachsen mit einem ungeliebten pietistischen Über-Ich, das ihr in der Doppelgestalt zweier glaubensstrenger Fellbacher Diakonissen durch das Bewusstsein spukt. Geheiratet hat sie allerdings Heinrich, einen durchaus lebensfrohen Katholiken, der ihr ein wenig Lockerheit ins Leben brachte, so wie sie ihm ein Element von Stabilität schenkte. Zusammen haben sie zwei Töchter, Cornelia und Sabina, und ein Reisebüro in Stuttgart. Ihr Familienmobile setzt sich in Gang, als sich die Töchter sehr gegensätzlich entwickeln. Sabina heiratet einen Arzt und beginnt sich einzumauern in eine gut abgedichtete pietistische Glaubensfestung, in der ihr viel Arbeit und zahllose Ehrenämter jede Zeit für Zweifel rauben. Cornelia dagegen gründet eine Familie mit Dimitrios, Schwabe mit griechischen Vorfahren, und beide werden Physiotherapeuten, sorgen also für das Wohlbefinden des Körpers, dem die Mutter Elisabeth nie Beachtung schenkte und den sie nur das alte „Gestell“ nennt.
Wie reagiert dieses Familiengefüge, wenn, sagen wir, Dimitrios von der Sehnsucht nach seinen griechischen Wurzeln überwältigt wird, sich von Cornelia trennt und nach Parga bei Korfu zieht? Welche Spuren hinterlässt das zum Beispiel bei ihren Kindern, aber auch bei Elisabeth, in deren Wertewelt ein Scheidung im Grunde ein krimineller Akt ist? Welche Familienfolgen stellen sich ein, wenn der genussfrohe Heinrich einen Schlaganfall hat und von Elisabeth gepflegt werden soll, die ihren Lebensabend aber nicht als „Bettflaschenknecht“ am Krankenlager verbringen möchte? Was für Familienturbulenzen löst es aus, wenn Heinrich sich von seinem Schlaganfall gerade gut genug erholt, um aus der kühl gewordenen Ehe mit Elisabeth zu einer anderen Frau zu fliehen?
Anna Katharina Hahn veranschaulicht das alles – und noch viel viel mehr – in ihren Roman in zahllosen Detailbeobachtungen, mit genauem Blick auf ihre Figuren und immer psychologisch überzeugend. Sie ist eine literarische Meisterin dessen, was ich hier einmal hilfsweise das innerfamiliäre Reiz-Reaktions-Pingpong nennen möchte: Also der literarischen Darstellung des Echos, den jede familiäre Veränderung im Innenleben jedes Familienmitglieds auslöst, gefiltert durch die jeweilige Persönlichkeit – eines Echos, das dann unvermeidlich selbst wieder einen neuen Wiederhall bei den anderen findet.
Und immer so weiter in einer schier endlosen Reaktionskaskade.
Wenn Cornelia zum Beispiel meint, der Abschied von Dimitrios sei überfällig gewesen, ihre Ehe habe sich längst erschöpft, dann bedeutet das noch lange nicht, dass Elisabeth ihm die Trennung verzeihen kann, von der glaubensfesten Schwägerin Sabina ganz zu schweigen und von seinem Sohn, der sich aus Angst vor weiteren Verlusten essend einen Panzer aus Übergewicht zulegt, während seine Schwester ihre wachsende Freiheit ohne die Kontrolle der so oft abwesenden Mutter genießt. Jedes der Mobile-Teilchen zerrt in eine eigene Richtung, in seine Richtung im Durcheinander der Gefühle.
Natürlich macht ein derart enges Gewirr von Bindungen und Gefühlen nicht immer nur glücklich, sondern wirkt manchmal wie ein Gefängnis und reizt zum Ausbruch. Anna Katharina Hahn erzählt in ihrem Roman ausführlich von zwei vorübergehenden Abschieden von der Familie, beide führen in die USA, einer ist freiwillig, der andere unfreiwillig. Die unfreiwillige Trennung von der Familie findet in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts statt: Oma Gertrud, die Mutter Elisabeths, wird in sehr jungen Jahren als Haushaltshilfe nach Meadville, Pennsylvania, geschickt, weil die wirtschaftliche Not in Deutschland groß ist, und sie Geld für die Familie verdienen soll. Und Cornelia, ihre Enkelin folgt bei ihrer kurzen freiwilligen Auszeit von der Familie 100 Jahre später den Spuren ihrer Großmutter an den gleichen Ort.
Doch trotz des gleichen Ziels könnten die beiden Reisen kaum unterschiedlicher sein. Für die junge Gertrud ist die Trennung kurz nach dem Ersten Weltkrieg derart traumatisch, dass sie – so verstehe ich jedenfalls einen erzählerischen Kunstgriff Anna Katharina Hahns – ihre Erlebnisse nur noch aus der Perspektive ihrer Puppe erzählen kann. Sie ist ohne ihre Familie nicht mehr sie selbst, sie verliert das Bewusstsein ihrer selbst. Cornelia dagegen bleibt, als sie aus dem täglichen Familienchaos nach Amerika flieht, dennoch über etliche elektronische Kanäle weiter in das Familiengewebe eingebunden: WhatsApp, Email, Skype lassen sie nicht los und damit lässt sie auch der stete Strom familiärer Nachrichten nicht los, durch die sich das beschriebene Reiz-Reaktions-Pingpong fast ungemindert fortsetzt.
Neben Anna Katharina Hahns großartiger Fähigkeit ein Familieninnenleben literarisch zu veranschaulichen, hat mich gerade dies an ihrem Roman hingerissen: Dass sie nämlich zugleich eine genaue Beobachterin unserer Gegenwart ist. Familie ist bei ihr keine fest, unveränderliche Größe, sondern wird eben auch durch die historischen Umstände geformt. Die Gelassenheit und die erzählerische Sicherheit, mit der sie das ihren Lesern in „Aus und davon“ vorführt, ist eine fabelhaft literarische Leistung. Ich gratuliere Ihnen, liebe Anna Katharina Hahn, von Herzen zum Buchpreis Familienroman 2020 der Stiftung Ravensburger Verlag.