Buch & Bar (22): Jane Austen ” Stolz und Vorurteil”

Kutsche fahren und über Männer reden

Klar, Essen ist auch wichtig. Aber in dieser Kurz-Kolume BUCH & BAR geht es nur um Lesen und Trinken. Warum? Weil beides, in richtiger Qualität und Dosierung, einen kostbaren Fingerbreit über die klägliche Wirklichkeit hinausheben kann.

Heute: Über genussvoll avantgardistisches Lesen und Trinken

Jane Austen: "Stolz und Vorurteil". Mit einem Nachwort von Felicitas von Lovenberg. Übersetzt von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. Fischer Taschenbuch Verlag 2015. 9,99 Euro

Vor 100 Jahren, als der Begriff Avantgarde noch kein Wischlappen war, an dem sich jeder Wichtigtuer die Schuhe abputzt, träumten Autoren davon, einen Roman über nichts zu schreiben. Ein Roman ohne Handlung. Ich habe diese Leidenschaft nie verstanden, denn den Roman gab es längst. Jetzt habe ich ihn in neuer Übersetzung von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié gelesen: „Stolz und Vorurteil“ von Jane Austen (Fischer Verlag, 9,99 €).

Der perfekte Non-Action-Roman, 200 Jahre alt. Nichts passiert. Junge Leute fahren mit Kutschen und reden. Das ist alles. Die Frauen reden über die Männer und ihre Gefühle zu den Männern. Oder über Gefühle ihrer Schwestern zu den Männern. Oder über vermutete Gefühle der Männer zu ihnen. Das ist so großartig, so spannend, so hinreißend klug, dass ich den letzten Teil bis halb vier Uhr früh zu Ende las, weil ich einfach nicht aufhören konnte.

Was wird heute in Frauenrunden getrunken, wenn sie über Männer reden? Bei meinen ausschweifenden Recherchen unter männeranalysierenden Damen wurde der Queen Mum erwähnt: 4 cl Gin (ich mag Hendrick’s), 250 cl Tonic und Gurkenscheiben. Dass Frauen auf kleingeschnittenen Gurken im Glas bestehen, sobald sie über Männer sprechen, lässt die Psychologen unter uns aufhorchen. Queen Mum ist mit dem Drink fast 102 Jahre alt geworden, ganz ungesund kann er also nicht sein.

Die Kolumne erschien im Focus vom 30. Mai 2015. 
2014 startete meine Kurz-Kolumne Buch & Bar im Focus. Sie ist schon deshalb unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.
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Buch & Bar (21): Ulrich Woelk “Pfingstopfer”

Das Mädchen und die Glaubensmänner

Klar, Essen ist auch wichtig. Aber in dieser Kurz-Kolume BUCH & BAR geht es nur um Lesen und Trinken. Warum? Weil beides, in richtiger Qualität und Dosierung, einen kostbaren Fingerbreit über die klägliche Wirklichkeit hinausheben kann.

Heute: Über angstlüsternes Lesen und Trinken

Ulrich Woelk: "Pfingstopfer". Kriminalroman. dtv, München 2015. 14,90 Euro

Es beginnt wie im Schwedenkrimi: Eine junge Frau ist auf bizarre Weise ermordet worden, Teile des Hirns wurden ihr entfernt und ein Zettel mit einer Nachricht im Schädel versteckt. Sie war eine Prostituierte, ihr Mörder hat sie nackt und von Kopf bis Fuß kahl rasiert vor einer Kirche drapiert.

Doch Ulrich Woelk hat mit seinem Kriminalroman „Pfingstopfer“ (dtv, 14,90 Euro) mehr ihm Sinn, als die Angstlust seiner Leser durch exquisite Schockeffekte zu schüren. Denn bei ihm geraten als Täter einerseits fanatisierte christliche Fundamentalisten in Verdacht und andererseits ein Hirnforscher, der Gott zur evolutionsbedingten Selbsttäuschung der Menschen erklärt. So beschreibt der Roman neben dem Kriminalfall einen handfesten philosophischen Streit: zwischen der radikal nüchteren Weltsicht des Wissenschaftlers und dem ebenso radikalen Glaubensdiktat des Theologen.

Ein klassischer Konflikt. Schon Galilei trug ihn einst aus mit der Inquisition. Also liegt es nahe, dazu einen Cocktail-Klassiker zu wählen. Da der Mörder dem Mädchen so übel mitspielt, habe ich mich für Bloody Mary entschieden. Dazu braucht es, wie jeder weiß, zwei Teile Tomatensaft und einen Teil Wodka. Erst die übrigen Zutaten machen den Charakter des Drinks aus: Ich mag ihn mit Tabasco und Worcestershire-Sauce (je drei Schuss), einem Spritzer Zitrone und dazu ein bisschen Salz und Pfeffer.

Die Kolumne erschien im Focus vom 23. Mai 2015. 
2014 startete meine Kurz-Kolumne Buch & Bar im Focus. Sie ist schon deshalb unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.
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Buch & Bar (20): Dörte Hansen “Altes Land”

Der Schnaps der Gummistiefelwelt

Klar, Essen ist auch wichtig. Aber in dieser Kurz-Kolume BUCH & BAR geht es nur um Lesen und Trinken. Warum? Weil beides, in richtiger Qualität und Dosierung, einen kostbaren Fingerbreit über die klägliche Wirklichkeit hinausheben kann.

Heute: Über trendskeptisches Lesen und Trinken

Dörte Hansen: "Altes Land". Roman. Knaus Verlag, München 2015. 19,99 Euro

Noch immer kommt kein deutscher Familienroman, der von mehr als zwei Generationen erzählt, ohne ein paar zappendustere Kapitel aus. In Dörte Hansens Debüt „Altes Land“ (Knaus Verlag, 19,99 EURO) ist es die Geschichte einer Flucht aus Ostpreußen durch den Eiswinter 1945 in Richtung Westen und von den Mühen, in der neuen, oft abweisenden Heimat anzukommen.

Sage keiner, unsere Zeit sei geschichtsvergessen. Oder vergnügungssüchtig. Dieses Buch einer komplett unbekannten Autorin ist jedenfalls weder das eine noch das andere – und landete doch sofort für Wochen auf den Bestsellerlisten. Selbst 70 Jahre danach ist das Thema Kriegsende für Leser offenbar noch lange nicht erledigt.

Heitere Kapitel hat das Buch aber auch. Dörte Hansen hält wenig von der Landliebe, die manche trendbewusste Städter in den jüngsten Jahren überkam. Mit Lust karikiert sie deren romantisch verblasene Verzückung angesichts der „Gummistiefelwelt“.

Das Alte Land bei Hamburg gilt als größtes geschlossenes Obstanbaugebiet Europas. Schon deshalb kommt zu dem Roman ein guter Obstbrand wie gerufen. Ein Hamburger Freund empfahl mir einen sortenreinen Altländer Williams-Christ. Ich kann nur hoffen, dass er Dörte Hansens strengen Vorstellungen vom richtigen, untrendigen Landleben standhält. Aber mir hat er jedenfalls geschmeckt. Herrlich fruchtig bei 40 % vol.

Die Kolumne erschien im Focus vom 16. Mai 2015. 
2014 startete meine Kurz-Kolumne Buch & Bar im Focus. Sie ist schon deshalb unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.
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Buch & Bar (19): Henry Keazor “Täuschend echt!”

Der Fälscher, der Fälschungen fälscht

Klar, Essen ist auch wichtig. Aber in dieser Kurz-Kolume BUCH & BAR geht es nur um Lesen und Trinken. Warum? Weil beides, in richtiger Qualität und Dosierung, einen kostbaren Fingerbreit über die klägliche Wirklichkeit hinausheben kann.

Heute: Über goldrichtiges Lesen und Trinken

Henry Keazor: "Täuschend echt. Eine Geschichte der Kunstfälschung". Theiss Verlag 2015. 24,95 Euro

Experten behaupten, 30 bis 50 Prozent der Bilder auf dem Kunstmarkt seien gefälscht. Manche sprechen sogar von 60 Prozent. Das ist unschön für Kunstsammler, zugegeben. Doch da ich keiner bin, sondern begabte Geschichtenerfinder liebe, kann und will ich meine Sympathie für virtuose Hochstapler, Schwindler oder Bärenaufbinder nicht verleugnen.

Von solchen moralisch zweifelhaften Gefühlen ist der Kunsthistoriker Henry Keazor, der das gewichtige Buch „Täuschend echt!“ (Theiss Verlag, 24,95 Euro) über Kunstfälschungen geschrieben hat, komplett frei. Aber auch er erzählt betörend schöne Fälschergeschichten. Etwa die von Elmyr de Hory, der in der Nachkriegszeit alles fälschte, was nicht bei drei auf den Bäumen war. Orson Welles drehte einen Film über ihn und machte Hory so berühmt, dass seine inzwischen enttarnten Fälschungen ausgestellt, bewundert und teuer verkauft werden. Also machten sich nach Horys Tod andere Fälscher daran, seine Fälscherhandschrift zu fälschen und ihre schwachen Kopien als echte Hory-Fälschungen zu verscherbeln.

Zu diesem herrlichen Streich gratuliere ich und hebe anerkennend mein Glas mit einem Falschen Mojito. Er wird mit Limette, Minze, Rohrzucker, Crushed Ice und Ginger Ale, aber ohne Rum serviert. An den heißen Sommertagen, auf die wir – hoffentlich, hoffentlich, hoffentlich – zusteuern, ist er gar nicht falsch, sondern goldrichtig und eine fabelhafte Erfrischung.

Die Kolumne erschien im Focus vom 9. Mai 2015. 
2014 startete meine Kurz-Kolumne Buch & Bar im Focus. Sie ist schon deshalb unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.
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Gespräch mit Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich

“Studien am Duschgel”

Wolfgang Ullrich war lange Professor für Kunstwissenschaft und Medientheorie in Karlsruhe und hat seine Professur jetzt zurückgegeben, um wieder als freier Autor zu arbeiten. Er ist einer der hellsten und originellsten Köpfe, die sich gegenwärtig hierzulande der Kunsttheorie widmen. In mehreren Studien ging Ullrich der Frage nach, welchen Folgen diese schier grenzenlose Aufwertung und Befreiung der Kunst für die Kunst selbst hat. Tiefer hängen ist der Titel eines seiner Bücher und zugleich wohl als Ratschlag zu verstehen angesichts der Glorifizierungsbereitschaft, die den Kunstbetrieb inzwischen prägt. An der so oft wie inständig beschworenen Macht der Kunst zweifelt er: „Im Drogeriemarkt lässt sich mehr über unsere Gesellschaft lernen als im Museum für zeitgenössische Kunst“. Ich habe ihn in Leipzig zu einem Gespräch getroffen. Es wurde am 16. Mai 2015 im Nachrichtenmagazin Focus in gekürzter Form gedruckt. Hier ist es in voller Länge und Schönheit zu besichtigen.

Wolfgang Ullrich: "Tiefer hängen. Über den Umgang mit der Kunst". Wagenbach Verlag, 11,90 Euro

Uwe Wittstock: Der Kunst wird viel zugetraut. Angeblich läutert sie die Menschen durch ästhetische Erziehung oder ist eine fundamentale Gegenwelt zur schnöden Realität oder liefert radikal neue, revolutionäre Ideen oder trägt zur quasireligiösen Sinnstiftung bei. Ist das nicht ein bisschen viel? Kann sie solche Erwartungen erfüllen?

Wolfgang Ullrich: Ja, das ist offensichtlich zu viel. Manchmal kommt es mir vor, als stellten Kunsttheoretiker solche pauschalen Behauptungen auf, um die Bedeutung ihres eigenen Metiers möglichst gewichtig erscheinen zu lassen. Zunächst muss man aber unterscheiden, welche Kunstgattung welche Wirkungen erreichen kann. Jeder hat sicher schon einmal erlebt, wie sehr ihn Musik ergriffen hat. Darin kann man eine – vielleicht vorübergehende – Läuterung der Zuhörer sehen. Ähnliches kann mit Film, Oper, Theater gelingen. Doch wäre es Unsinn, eine vergleichbare Wirkung von einer Ausstellung, einer Skulptur oder der Architektur zu erwarten. Literatur dagegen eignet sich, neue Ideen oder Lebenshaltungen durchzuspielen. Weil einzelne Künste manches ganz gut können, entsteht der Eindruck, „die“ Kunst könnte nahezu alles. Aber das ist eine klare Überforderung.

Wittstock: Woher kommen diese übergroßen Erwartungen?

Wolfgang Ullrich: Noch vor 250 Jahren war die Kunst fast ausschließlich eine Sache der Adligen. Sie vergaben Aufträge an die Künstler, unterhielten Orchester oder besaßen Kunstsammlungen. Der Adel schmückte sich mit der Kunst, auch um seinen Herrschaftsanspruch zu unterstreichen. Die Bürger versuchten sich dagegen zu behaupten, indem sie betonten, für sie sei Kunst weniger Besitz und Schmuck als vielmehr ein enormes inneres Erlebnis. Und um dieses innere Erleben der Kunst noch weiter aufzuwerten, wurde es in der Kunsttheorie gern als lebens- oder weltverändernde Kraft beschrieben. Das wurde dann zum Maßstab für den Umgang mit der Kunst: Wer erlebt am meisten? Wer kann ihr am meisten Sinn abgewinnen. Wer entdeckt in ihr die revolutionärsten Ideen?

Wolfgang Ullrich: "Des Geistes Gegenwart. Eine Wissenschaftspoetik". Wagenbach Verlag, 11,90 Euro

Wittstock: Für die Adligen war der Künstler ein Handwerker und Entertainer. Für den Bürger ein Genie, das alle Regeln sprengte?

Wolfgang Ullrich: Ja, der Adel rechtfertigte seine Herrschaft durch Stammbäume, die über Jahrhunderte zurückreichten. Der Bürger hatte keinen Stammbaum, er war ein Individuum, und das wurde damals als Defizit empfunden. Deshalb nahm der Bürger sich den Künstler als Vorbild, der als Individuum große Werke schuf und sich dabei nur auf sich selbst berief. Der wurde zum Genie stilisiert, das ganz aus sich heraus, ohne Rückhalt, große Werke vollbrachte.

Wittstock: Hat die Kunst in unserer Gesellschaft heute an Bedeutung verloren?

Wolfgang Ullrich: Das hängt davon ab, was man unter Bedeutung versteht. Der Kunstmarkt hat in den letzten Jahren eine ungeheure Ausweitung und Aufwertung erlebt. Auch die Zahl der großen Ausstellungs-Events – wie der Documenta – ist gewachsen, ebenso die Zahl der Besucher. Andererseits richtet sich die Gesellschaft heute nicht mehr so stark nach dem Geschmack oder den Überzeugungen von Malerfürsten oder Dichterfürsten aus, wie das früher einmal der Fall war. Die Rolle als Orientierungsfiguren haben die Prominenten und die Stars übernommen – unter denen manchmal auch Künstler zu finden sind.

Wittstock: Auch die öffentliche Hand gibt nach wie vor eine Menge Geld für die Kunst aus: Museen werden gebaut, Theater finanziert, Kunsthochschulen unterhalten. Das zeigt, wie tief die Überzeugung sitzt, Kunst sei für die Gesellschaft insgesamt sehr wichtig.

Wolfgang Ullrich: Ja, ohne die Vorstellung von einer lebensverändernden und sinnstiftenden Kraft der Kunst lässt sich das alles nicht erklären. Auch die zahllosen Aktionen der Kulturvermittlung zielen letztlich darauf, möglichst viele Menschen mit der Kunst in Berührung zu bringen, damit die Kunst auch an ihnen ihre segensreiche Wirkung entfalten kann. Da haben sich Kunstreligion und Sozialdemokratie miteinander verbündet.

Wittstock: Sie schreiben, Theorien im allgemeinen, aber damit natürlich auch Theorien über Kunst könnten niemals wahr sein. Es sind immer nur Interpretationen, die uns einleuchten oder nicht, und die schnell durch andere Interpretationen ausgetauscht werden können. Warum können wir uns dann die Mühe der Interpretationen nicht sparen?

Wolfgang Ullrich: "Gesucht: Kunst!. Das Phantombild eines Jokers". Wagenbach Verlag, 14,90 Euro

Wolfgang Ullrich: Weil unsere Welt sehr arm wäre ohne unsere Interpretationen. Wir brauchen ja Orientierung, die stellt sich nicht von alleine her. Diese Orientierung liefern uns die Interpretationen oder Theorien, denen wir folgen können. Wir können nicht leben ohne Interpretation, nicht ohne für uns eine sinnvolle Ordnung ins Leben zu bringen. Das ist wichtig und eine ernste Sache. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass es keinen allgemeingültigen Sinn gibt. Jeder von uns legt sich seinen zurecht, aber er kann dafür nicht mehr Wahrheit beanspruchen als andere für ihren.

Wittstock: Nach verbreiteten Vorstellungen der Moderne hat Kunst autonom, also unabhängig zu sein und nur ihren eigenen Gesetzen zu folgen. Ist eine solche totale Unabhängigkeit überhaupt möglich?

Wolfgang Ullrich: Streng genommen nicht. Es gibt nichts, das voraussetzungslos wäre. Also kann es auch kein Kunstwerk geben, das frei von Voraussetzungen und damit Abhängigkeiten wäre. Aber die Idee von der Autonomie der Kunst ist dennoch wichtig: Damit gewinnt die Kunst einen Raum der Immunität, in dem sie weitgehend frei ist. Im Museum oder auf der Theaterbühne bedeuten die Dinge etwas anderes, als wenn sie im Alltag stattfinden. Künstler können in diesem autonomen Freiraum Sachen ausprobieren, die unnütz, schockierend, verspielt oder auch skandalös sind, ohne dass sie gleich mit den Maßstäben des alltäglichen Lebens gemessen werden. Die Kunst ist das Als-ob. Auf der Bühne darf man so tun, als ob man jemanden ermordet, ohne in Verdacht zu geraten, kriminell zu sein. Jonathan Meese darf in Rahmen einer Performance den Hitlergruß machen.

Wittstock: Halten sich die Künstler denn an diesen Freiraum? Einer der wichtigsten Surrealisten, André Breton, schrieb einmal, der einfachste surrealistische Akt sei es, mit Revolvern aus dem Haus zu treten und blind in die Menschenmenge zu feuern.

Wolfgang Ullrich: Ja, manche Avantgardisten betrachteten sich als autonome Künstler, wollten aber die Trennlinie zwischen Kunst und Leben beseitigen. Die Gesellschaft sollte sich ihren Vorstellungen unterwerfen. Damit bekam die Avantgarde brutale und diktatorische Züge. Piet Mondrian zum Beispiel reduzierte in seinen Bildern alles auf rechte Winkel und die Grundfarben – und forderte, alle Menschen müssten nach diesen Formprinzipien leben, nur so könne eine gute Welt entstehen. In solchen Fällen wird Kunst gefährlich. Dann muss man die Künstler daran erinnern, dass sich ihre Freiheit auf den Kunstraum beschränkt.

Wittstock: Kunstwissenschaftler sind, schreiben Sie, hauptsächlich damit beschäftigt, Kunstwerke als besonders bedeutend und bewundernswert hinzustellen. Sie steigern also den Wert auf dem Kunstmarkt. Das kritische Urteil ist unter Wissenschaftlern fast ausgestorben. Muss ich den Wissenschaftlern also konsequent misstrauen, da sie mit ihrer Arbeit ohnehin nur die Kunstpreise hochtreiben?

Wolfgang Ullrich: Das ist eine seltsame Selbstbeschränkung viele Kunstwissenschaftler. Vielleicht entsteht sie auch durch Gewohnheit oder Gedankenlosigkeit: Kunstwerke werden von ihnen nahezu unterschiedslos gefeiert. Dabei sind sie fast die Einzigen im Kunstbetrieb, die auch die Freiheit haben, differenziert zu werten und Schwaches schwach zu nennen. Museumsdirektoren müssen die Bedeutung ihrer Sammlung herausstreichen, das ist ihre Aufgabe. Autoren von Auktionskatalogen sind dazu gezwungen, die angebotene Kunst zu loben und für bedeutsam zu erklären. Der staatlich bestallte und bezahlte Kunsthistoriker jedoch ist frei im Urteil – und mich wundert, weshalb diese Freiheit so selten genutzt wird.

Wittstock: Nicht nur die Kunst bereichert das Leben mit ästhetischen Erfahrungen. Viele Konsumgüter leisten das auch. Ich denke an Steve Jobs, der mit nahezu religiöser Inbrunst die Schönheit von iPhone, iPad, iPod feierte. Kann ich als ästhetisch interessierter Zeitgenosse also auch auf Kunst verzichten und mich stattdessen an der Ästhetik hübscher Alltagsgeräte erfreuen?

Wolfgang Ullrich: "Alles nur Konsum. Kritik der warenästhetischen Erziehung". Wagenbach Verlag, 12,90 Euro

Wolfgang Ullrich: Wer sich heute mit Ästhetik beschäftigt, um seine Gegenwart besser zu verstehen, sollte tatsächlich lieber in einen Baumarkt oder einen Supermarkt gehen als ins Museum. Was dort an ästhetisch gestalteten Produkten präsentiert wird, sagt sehr viel mehr über unsere Gesellschaft, unsere Werte, unser Denken, als es die Kunst tut. Gerade wenn Kunst autonom sein will, ist sie kein guter Seismograph für das, was die Gesellschaft an- und umtreibt. Sie folgt einer eigenen Logik, wogegen die Produkte, die uns in Supermärkten angeboten werden, durch aufwendige Marktforschung auf die Bedürfnisse der Gegenwart zugeschnitten sind. Da fließt in codierter Form enorm viel ein von den Wünschen und Werten einer Zeit – und lässt sich von den Produkten wieder ablesen. Bei der genauen Betrachtung eines Regals mit Duschgels im Drogeriemarkt zum Beispiel lässt sich mehr über unsere Gesellschaft lernen als durch ausführliche Studien im Museum für zeitgenössische Kunst. Es gibt Duschgels für jedes Milieu: für Aussteiger, für Liebhaber des Landlebens, für konkurrenzorientierte Leistungsträger, für verantwortungsbewusste Naturschützer usw.

Wittstock: Ist der ästhetische Genuss an einem Konsumgut nicht letztlich doch profaner als der an einem Kunstwerk? Ein Beispiel: Ich kann mich an der Schönheit des Kölner Doms erfreuen, ohne dass der Dom mir gehört. Aber seltsamerweise freuen sich die meisten Leute erst dann am iPhone, wenn sie eines besitzen.

Wolfgang Ullrich: Es gehörte zu den Grundüberzeugungen der Moderne, dass ein Kunsterlebnis nur dann wirklich rein und stark ist, wenn es nicht getrübt wird durch das Bedürfnis, das entsprechende Werk zu besitzen. Es ging, wie Kant es nannte, um das „interesselose Wohlgefallen“ an der Kunst. Das ist aus der Sicht des besitzlosen Bildungsbürgertums gedacht und einmal mehr gegen den Adel gerichtet gewesen. Dagegen steht die Erfahrung, dass viele sich einem Kunstwerk erst dann intensiv verbunden fühlen, wenn sie es besitzen, es nutzen und frei mit ihm umgehen können. Eigentlich liegt doch auf der Hand, dass mein ästhetische Genuss größer oder zumindest ein anderer ist, wenn ich das, was ich schön finde, auch besitzen und so in meinem Alltag erleben kann.

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Buch & Bar (18): Jack London “Der Mexikaner”

Stünden Sie gern mal mit Mike Tyson im Ring?

Klar, Essen ist auch wichtig. Aber in dieser Kurz-Kolume BUCH & BAR geht es nur um Lesen und Trinken. Warum? Weil beides, in richtiger Qualität und Dosierung, einen kostbaren Fingerbreit über die klägliche Wirklichkeit hinausheben kann.

Heute:Über körperorientiertes Lesen und Trinken

Jack London: "Der Mexikaner" Übersetzt von Regine Strotbek. Mit Illustrationen von Andrea Grosso Ciponte. Edition Faust, Frankfurt am Main 2015. 18 Euro

Boxen ist ein archaischer, ungebändigter, barbarischer Sport. Doch ausgerechnet die Dichter lieben ihn. Lord Byron, Hemingway, Sartre oder Norman Mailer boxten selbst. Kleist, Brecht, Musil oder Joyce Carol Oates schrieben drüber. Warum? Einige der wichtigsten Erfahrungen, von denen Literatur berichtet, sind körperlicher Art: Geburt, Tod, Sex, Schmerz – und kein anderer Sport ist von so direkter, brutaler Körperlichkeit wie das Boxen.

In Jack Londons Boxer-Erzählung Der Mexikaner, die jetzt neu erschienen ist (Edition Faust, 18 Euro), tritt ein dämonischer, von Hass beseelter Mexikaner gegen einen freundlich lächelnden, leichtherzigen Amerikaner an. Doch so, wie London die Sympathien der Leser lenkt, stehen sie ganz auf Seiten des Finsterlings. Denn der steigt nicht für Geld, sondern für die mexikanische Revolution in den Ring. Ich las die Geschichte jetzt zum dritten Mal und habe mich wieder dabei erwischt, wie ich gegen Ende fiebernd durch die Seiten hetzte, als wüsste ich nicht, wie der Kampf ausgeht.

Pflichtgemäß muss zu dieser Erzählung ein Knock-out getrunken werden, ein Tequila-Cocktail mit Galliano-Likör, Zitronen- und Orangensaft. Aber Vorsicht, achten Sie darauf, dass er mit 100 Prozent reinem Agave-Tequila gemixt wird! Mixto-Tequila kann entsetzlicher Fusel sein, nach dem der Kopf schmerzt, als hätte man drei Runden im Ring verbracht mit Mike Tyson.

Die Kolumne erschien im Focus vom 2. Mai 2015. 
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Buch & Bar (17): Oliver Maria Schmitt

Auf der Suche nach dem vermissten Rum oder: Pointen pflastern seinen Weg

Klar, Essen ist auch wichtig. Aber in dieser Kurz-Kolume BUCH & BAR geht es nur um Lesen und Trinken. Warum? Weil beides, in richtiger Qualität und Dosierung, einen kostbaren Fingerbreit über die klägliche Wirklichkeit hinausheben kann.

Heute: Über berauschendes Lesen, Lachen und Trinken

Wenn es gerecht – oder wenigstens unterhaltsam – zuginge auf dieser Welt, hätte Oliver Maria Schmitt längst seine Late Night Show. Er ist schneller als Lucky Luke, witziger als Oliver Welke, dreckiger als Harald „Dirty Harry“ Schmidt in besten Zeiten. Aber mal ehrlich: deutsches Fernsehen und echt schnelle, echt dreckige, echt witzige Witze?

Oliver Maria Schmitt: "Ich bin dann mal Ertugrul". Traumreisen durch die Hölle und zurück. Rowohlt Berlin 2015. 16,96 Euro (E-Book: 14,99 Euro)

Zum Trost gibt es Oliver Maria Schmitt  in Buchform. Auch das ein Oliver Maria Schmitt in Hochform. Als er einst im legendären Frankfurter „Klabunt“ (die einzige Kneipe, in der ich je einen Pilz-Schnaps angeboten bekam – und auch trank) seinen Punkroman Anarcho-Shnitzel schrieen sie vorstellte, nahm die Luftnot durchs Lachen medizinisch bedenkliche Formen an. Jetzt erscheinen seine höchst pointenträchtigen Abenteuerreiseberichte Ich bin dann mal Ertugrul (Rowohlt, 16,95 Euro), ebenfalls erstklassige Witz-Ware. Ob er zum Hemingway-Lookalike-Contest in Key West antritt, ob er besten Bordeaux-Experten weltweit eine „Assemblage“ von sehr gutem Rotwein mit sehr guter Cola („Keine Pepsi!“) vorschlägt oder auf der Frankfurter Buchmesse ein Romanmanuskript vertickt – immer ist er dreist, bissig, knallhart komisch.

Ganz Nicaragua stellt Schmitt auf den Kopf bei der Suche nach dem sagenhaften Rum Flor de Caæa Centenario Gold 18 yrs.. Doch als er das sanfte, bernsteinfarbene Wunder endlich in Händen hält, verkneift sogar er sich jeden vorlauten Witz. Weil das Wort „Goldrausch“ für ihn mit einem Mal eine völlig neue Bedeutung erhält.

Die Kolumne erschien im Focus vom 25. April 2015. 
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Buch & Bar (16): “Der gepflegte Rausch” von Cleo Rocos

Vom Leeren der Gläser mit Gin und Verstand

Klar, Essen ist auch wichtig. Aber in dieser Kurz-Kolume BUCH & BAR geht es nur um Lesen und Trinken. Warum? Weil beides, in richtiger Qualität und Dosierung, einen kostbaren Fingerbreit über die klägliche Wirklichkeit hinausheben kann.

Heute: Über unzimperlich kluges Lesen und Trinken 

Schrill ist schön – das dürfte die Devise der britischen TV-Moderatorin Cleo Rocos sein. Tatsächlich sagt sie, tut sie und trägt sie Sachen vor der Kamera, die mir als Liebhaber

Cleo Rocos: "Der gepflegte Rausch. Stilvoll trinken ohne Reue". Rowohlt Verlag, Reinbek 2015, 12 Euro

schwerstsensibler Dichtung die Haare derart zinnsoldatenmäßig zu Berge stehen lassen, wie Cleo Rocos sie sich für manche ihrer Auftritte frisiert, fixiert bzw. festbetoniert.

Doch ihr Buch Der gepflegte Rausch. Stilvoll trinken ohne Reue (Rowohlt Verlag, 12 Euro) ist vernünftig, um nicht zu sagen: klug. Seite um Seite zeugt es von der Schluck um Schluck hart erarbeiteten Weisheit, dass es beim formvollendeten Leeren alkoholhaltiger Gläser nur darum gehen kann, „mit größtmöglichem Genuss zu trinken – aber mit minimalem Schaden für Körper, Portemonnaie und die eigene Würde“. Die präzisen Ratschläge, die sie zu eben diesem Zweck erteilt, sind kompetent, unzimperlich und geben außerdem Antwort auf so brennende Fragen unserer Zeit wie: Was ist ein perfekter Martini? Kann man gegen Jack Nicholson im Kopfstandwettbewerb gewinnen? Und dabei gleichzeitig einen Cocktail trinken? Gibt es einen legendären Abend ohne harte Sachen? Wie kleidet sich die Frau von Welt zum Wodka?

Apropos Wodka: Cleo Rocos schätzt unter anderem die Marke Russian Standard. Ich habe mal einen fabel-, wenn nicht gar zauberhaften Abend in der Berliner Bar „Kvartira No. 62“ in Gesellschaft gleich mehrerer Russian Standards verbracht und kann bestätigen, was Mrs. Rocos behauptet: klar, köstlich, kopfschmerzfrei.

Die Kolumne erschien im Focus vom 18. April 2015. 
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3 Fragen an John Banville über seinen Philip Marlowe-Roman

Das schöne Wiedersehen nach dem Langen Abschied

Sieben Marlowe-Romane hat Raymond Chandler der Krimi-Welt geschenkt, millionenfach gelesen, dutzendfach verfilmt – entschieden zu wenig für jeden echten Aficionado. Der große Irische Erzähler John Banville ist jetzt unter seinem Pseudonym Benjamin Black in die (Sprach-)Haut von Chandler geschlüpft und hat den klassischsten aller Detektiv-Klassiker wiederbelebt. Ich habe den Roman Die Blonde mit den schwarzen Augen sehr genossen und hatte Gelegenheit, Banville drei Fragen zu stellen. Der Titel stammt noch von Chandler persönlich und die Geschichte, die Banville ersonnen hat, schließt fast fugenlos an Chandlers Meisterwerk Der lange Abschied an.

John Banville (alias Benjamin Black): "Die Blonde mit den schwarzen Augen". Verlag Kiepenheuer & Witsch. Köln 2015. 14,99 Euro

Es ist, so rühmt Stephen King das Buch, „als würde ein alter, tot geglaubter Freund plötzlich den Raum betreten“. Banville trifft den Tonfall Chandlers mit bewundernswerter Präzision und versetzt die Leser augenblicklich zurück in das Los Angeles der 50er-Jahre. Allerdings ist Banville keiner der routinierten Action-Autoren, die Krimis wie am Fließband abliefern. Er genießt international höchstes literarisches Renommee, wurde mit Booker- und Kafka-Preis ausgezeichnet und steht alle Jahre wieder auf der Kandidatenliste für den Nobelpreis. Sein Bruder, so hatte ich irgendwo im Internet aufgeschnappt, habe ihn „mit Marlowe bekannt gemacht“. Danach litt er, wie die zahllosen anderen Chandler-Fans weltweit, offenbar darunter, nach nur sieben Romanen von Marlowe Abschied nehmen zu müssen.

Uwe Wittstock: Is it right that your brother Vincent recommended Chandlers novels to you?

John Banville: Yes indeed. I suppose I was fourteen or fifteen. I think I first read The Big Sleep, and was captivated by Chandler’s style, wit and refreshing cynicism. Before that, I had not realised what could be done in the crime fiction genre.

Wittstock: How was the experience of writing in the style of an other Author?

John Banville: It was a very strange experience. I wrote the book over the period of a summer, and the strange thing is that i really have no memory of actually writing it, almost as if I had been in a self-induced trance. I do remember enjoying the experience, but at the same time feeling oddly detached from myself. Don’t they say one is capable of hypnotising oneself in order to get a fixed task completed?

Wittstock: Are there any differences between your Marlowe and Chandlers Marlowe?

John Banville: At first I thought that I would ‘update’ Marlowe and make him more a figure of our time, but when I went back and re-read the books I saw at once that Marlowe is complete and fixed, and should not be interfered with in any way. So my Marlowe is Chandler’s Marlowe, except in that I think my Marlowe is more acutely aware of his own isolation and loneliness.

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Buch & Bar (15): “Die literarische Sau”

Bei Pornos muss ich immer an Sex denken

Klar, Essen ist auch wichtig. Aber in dieser Kurz-Kolume BUCH & BAR geht es nur um Lesen und Trinken. Warum? Weil beides, in richtiger Qualität und Dosierung, einen kostbaren Fingerbreit über die klägliche Wirklichkeit hinausheben kann.

Heute: Über sauscharfes Lesen und eher zartscharfes Trinken

Kürzlich schrieb ich in dieser Kolumne über das Buch Wer hat den schlechtesten Sex? von Rainer Moritz (http://blog.uwe-wittstock.de/?p=1194). Es beschreibt, wie schwer es selbst gefeierten Großschriftstellern fällt, reizvolles Körpergeschehen in reizvolle Wörter zu kleiden und aufs Papier zu bringen. Prompt wuchtete sich ein paar Tage später

"Die literarische Sau". Herausgegeben von Viktor und Viktoria. Verlag Haffmans & Tolkemitt. 19,95 Euro

Die literarische Sau (Haffmans & Tolkemitt, 19,95 Euro) auf meinen Schreibtisch: Eine Anthologie mit sorgsam animierenden Geschichten und Gedichten, die nur wenig andere als pornographische Ziele haben.

Zugegeben, die meisten Beiträge dieses Bandes stammen nicht von Groß-, sondern von ausgesprochenen Kleinschriftstellern. Aber die wissen genau, was sie wollen, widerstehen unerschrocken allen höheren literarischen Zielen und erreichen so treffsicher ihren herrlich niederen Zweck. Wo die Artisten ihre Pirouetten verstolpern, liefern die Facharbeiter gediegene Standards ab. Und, offen gestanden, gediegene Facharbeit ist immer eine feine Sache. Oder um es mit den Worten des unsterblichen Richard Burton zu sagen, der diesem Band das Vorwort lieferte: „All der salbungsvolle Scheiß, der über Pornographie geschrieben wird, ist Unsinn.“

Zur animierenden Literatur passt ein aphrodisierender Drink. Der neue Likör Pussanga behauptet die ultimative Formel gefunden zu haben, um Trinkerinnen und Trinker auf Touren zu bringen. Die stilvolle Bar “Grosz” an Berlins Kurfürstendam bieten ihn bereits an. Ich habe umgehend einen Selbstversuch gemacht: Granatapfel macht Pussanga rot; Ingwer, Chili, und geheimnisvolle Kräuter aus Peru machen ihn scharf. Scharf macht er nicht.

Die Kolumne erschien im Focus vom 11. April 2015. 
2014 startete meine Kurz-Kolumne Buch & Bar im Focus. Sie ist schon deshalb unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.
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