Buch & Bar (40): Günter Grass “Vonne Endlichkait”

Das letzte Selfie eines Patriarchen

Buch & Bar: Heute über federleichtes vogelfreies Abschiednehmen beim Lesen und Trinken

Günter Grass: "Vonne Endlichkait". Steidl Verlag, Göttingen 2015. 28 Euro

Das Leben ist kein Ponyhof, klar. Das Sterben aber erst recht nicht. Zumal wenn einem der Glaube an Gott und Jenseits gründlich abhanden gekommen ist. Günter Grass berichtet davon in seinem letzten Buch „Vonne Endlichkait“ (Steidl, 28 Euro).

Vom Zerbröseln der Zähne bis zum Brodeln der Pfeifenraucher-Lunge registriert Grass den Verfall seines Körpers. Aber er jammert nicht, sondern schreibt, liest, zeichnet. Und genießt, was noch zu genießen ist: seine Arbeit, die Natur, die lang geübte Harmonie mit seiner Frau, die eigene Ironie angesichts seiner Gebrechlichkeit und die Freiheiten des Alters: „Mich spüren. Federleicht vogelfrei sein, wenngleich seit Langem reif zum Abschuss.“

Kurz, Grass zeigt Haltung. Er malt ein cooles Abschiedsporträt von sich, auf dem er auf ganz zivile Weise todesmutig dasteht. Ein Bild, das sich als Vorbild anbietet, und wie fast alle Vorbilder auch ein wenig auf die Nerven geht.

Ich hoffe, Grass’ letzte Monate waren tatsächlich so, wie er sie hier beschreibt. Und hebe mein Glas zum Abschied auf einen kantigen Mann. Womit? Danziger Goldwasser würde sich anbieten, aber das ist nicht so mein Fall. Lieber nehme ich den polnischen Wodka Starka Banquet. Er reift 30 Jahre in Eichenfässern, hat 50 % Vol., ist kostbar und definitiv etwas für den besonderen Moment.

Die Kolumne erschien im Focus vom 2. Oktober 2015. 
 
Klar, Essen ist auch wichtig. Aber in dieser Kurz-Kolume BUCH & BAR geht es nur um Lesen und Trinken. Warum? Weil beides, in richtiger Qualität und Dosierung, einen kostbaren Fingerbreit über die klägliche Wirklichkeit hinausheben kann. 2014 startete BUCH & BAR im Focus. Die Kolumne ist schon deshalb absolut unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.

 

Veröffentlicht unter Buch & Bar | Verschlagwortet mit | Hinterlasse einen Kommentar

Buch & Bar (39): Jim Holt “Kennen Sie den schon?”

Wenn sich Körper in Ekstase winden

Heute über: Jim Holt und die Geschichte und Philosophie des Witzes

Jim Holt: "Kennen Sie den schon?" Die Geschichte und Philosophie des Witzes. Übersetzt von Martin Hielscher. Rowohlt Verlag 2015. 12 Euro

Mit Witzen ist nicht zu spaßen. Es sind kleinste Geschichten mit größter Macht. Sie verwandeln Gesichter in Grimassen, lassen Körper ekstatisch zucken und entlocken den Kehlen Salven explosionsartiger Laute. Keine andere literarische Gattung hat so plötzliche, massive Wirkung. Und niemand kennt den Grund dafür.

Auch nicht der Amerikaner Jim Holt, der in dem Buch „Kennen Sie den schon?“ (Rowohlt, 12 Euro) die Geschichte des Witzes auf handlichen 130 Seiten zusammenfasst. Er hat sie alle gelesen, die Theoretiker des Komischen, von Platon bis Kant, von Sigmund Freud bis Henri Bergson. Aber jeder Versuch zu erklären, was das Witzige am Witz ist, wirkt, als wolle man Schmetterlinge mit Bulldozern fangen.

Zur Entschädigung erzähle ich Ihnen meinen Lieblingswitz: Eine Frau stellt ihrem Mann die Albtraumfrage: „Fällt dir etwas an mir auf?“
„Natürlich“, antwortet er ängstlich, „du hast neue Schuhe?“
„Nein, Liebling“, sagt sie.
„Du warst“, ruft er schweißüberströmt, „beim Friseur?“
„Auch nicht, Liebling, sagt sie.
„Ich hab’s“, schreit er in Panik, „du hast abgenommen!“
„Nein, Liebling“, sagt sie, „ich trage eine Gasmaske.“

Eine gute Pointe befreit, so kommt es mir vor, für eine herrliche Sekunde von aller Erdenschwere und bringt die Dinge zum Fliegen. Selbst ein Cocktail wie „Flying“, gemixt aus Gin, Triple Sec, Zitronensaft und Sekt, kann dieses federleichte Gefühl nicht ersetzen. Doch besser als gar nichts ist er schon.

Die Kolumne erschien im Focus vom 26. September 2015. 
 
Klar, Essen ist auch wichtig. Aber in dieser Kurz-Kolume BUCH & BAR geht es nur um Lesen und Trinken. Warum? Weil beides, in richtiger Qualität und Dosierung, einen kostbaren Fingerbreit über die klägliche Wirklichkeit hinausheben kann. 2014 startete BUCH & BAR im Focus. Die Kolumne ist schon deshalb absolut unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.
Veröffentlicht unter Buch & Bar | Verschlagwortet mit | Hinterlasse einen Kommentar

Buch & Bar 38: Navid Kermani “Ungläubiges Staunen”

Von der Schönheit und anderen Taschenspielertricks

Heute über: Navid Kermani und kunstfrommes Lesen sowie Trinken

Navid Kermani: "Ungläubiges Staunen". Über das Christentum. Verlag C.H.Beck, München 2015. 24,95 Euro

Kunst will beeindrucken und großer Kunst gelingt es auch. Angesichts einiger der schönsten Bilder und Plastiken der christlichen Kunst erfasst den Schriftsteller Navid Kermani „Ungläubiges Staunen – und so hat er auch sein Buch getauft (C.H. Beck, 24,95 Euro), in dem er jetzt 40 Meisterwerke in kurzen, wunderbar klaren Kapiteln vorstellt.

Der Titel hat allerdings einen doppelten Boden. Denn der deutsche Schriftsteller iranische Herkunft und gläubige Muslim Kermani ist aus christlicher Sicht ein Ungläubiger. Doch er kennt sich nicht nur in Kunst-, sondern auch in Kirchen- und Bibelfragen so exzellent aus wie nur wenige Christen. Und da er ein frommer Mann ist, spielt er sein Wissen unter der Hand gegen all jene aus, die heute für Religion in ihrem Leben nur noch ein Schulterzucken übrig haben. Seht her, sagen Kermanis Kunst-Essays, so schön ist euer christlicher Glaube, warum habt ihr ihn verloren? Das ist glänzend gemacht, zugegeben, aber letztlich ein Taschenspielertrick. Denn ob man an Gott glauben kann oder nicht, ist keine Frage der Schönheit.

Was darf man einem Muslim, der es ernst meint mit seinem Glauben und noch dazu ernst meint mit dem Christentum, in einer Bar anbieten? Mit gutem Gewissen wohl nur einen Drink, den frömmsten aller Cocktails: Virgin Mary. Tomatensaft mit Worcestershire-Sauce, Zitronensaft, Tabasco – und strikt ohne Wodka.

Die Kolumne erschien im Focus vom 19. September 2015. 
 
Klar, Essen ist auch wichtig. Aber in dieser Kurz-Kolume BUCH & BAR geht es nur um Lesen und Trinken. Warum? Weil beides, in richtiger Qualität und Dosierung, einen kostbaren Fingerbreit über die klägliche Wirklichkeit hinausheben kann. 2014 startete sie im Focus. Sie ist schon deshalb absolut unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.
Veröffentlicht unter Buch & Bar | Verschlagwortet mit | Hinterlasse einen Kommentar

Uwe Wittstock (Hg.): “Die Postmoderne in der deutschen Literatur”

Ein paar poetologische Lockerungsübungen

Ich habe einen Reader zur sprunghaften Karriere des Begriffs “Postmoderne” in den Diskussionen zur deutschen Literatur herausgebracht. Der Band enthält Aufsätze, Essays, Artikel deutscher Schriftsteller (und eines amerikanischen Kritikers) aus den letzten Jahrzehnten, die sich Gedanken darüber machen, wie es in der Literatur weiter und über die Theoreme der klassischen Literatur hinaus gehen kann.

“Eine sehr wichtige, toll ausgewählte, klug kommentierte Anthologie! Gibt zu denken: Die Moderne als ewige Untote?”      Wolfgang Ullrich

Uwe Wittstock (Hg.): "Postmoderne in der deutschen Literatur". Lockerungsübungen aus fünfzig Jahren. Wallstein Verlag, Göttingen 2015. 24,90 Euro

Es geht los mit H.M. Enzensberger, der bei mir mit einem Aufsatz aus dem Jahr 1960 als “Erfinder der Postmoderne” firmiert. Weiter geht es mit eine erstmals vollständig dokumentierten Literatur-Debatte aus dem Jahr 1968, die von einem Aufsatz des Literaturkritikers Leslie A.Fieder über die “Todesagonie der Moderne und die Geburtswehen einer Nach-Moderne” ausgelöst wurde, und an der sich von Martin Walser bis Jürgen Becker, von Helmut Heißenbüttel Rolf Dieter Brinkmann alles beteiligte, was damals Rang und Namen hatte.

Darüber hinaus gibt es Aufsätze von Günter Grass, der die Neigung der Avantgardisten unter den Modernen zu totalitären politischen Gedanken kritisiert, von Christoph Ransmayr, Peter Sloterdijk, Sten Nadolny, Peter Rühmkorf, heiner Müller, Daniel Kehlmann, Klaus Modick, Dirk von Petersdorff, Ulrich Woelk, Durs Grünbein und noch einigen anderen.

“Postmoderne in der deutschen Literatur”
Lockerungsübungen aus fünfzig Jahren
Herausgegeben von Uwe Wittstock
Wallstein Verlag, Göttingen.
412 Seiten, 24, 90 Euro

»Die Moderne ist hundert Jahre alt. Sie gehört der Geschichte an«, schrieb Hans
Magnus Enzensberger 1960 in seinem Nachwort zur Sammlung Museum der modernen
Poesie. Auch wenn er hier den Begriff “Postmoderne”  noch nicht gebraucht, kann dieser
Text als Beginn der Diskussion zum Thema im deutschsprachigen Raum angesehen werden, die zeitgleich auch in den USA in Gang kam. Was – mit allem Respekt – als »Moderne« verstanden wurde, schien plötzlich »ermüdet«, es konnte nun nicht mehr einfach für das Neue (Gute) im Gegensatz zum Traditionellen stehen, sondern wurde selbst in seiner Geschichtlichkeit gesehen. Aber es brauchte in Deutschland bis 1968, als der US-amerikanische Literaturwissenschaftler Leslie A. Fiedler mit seinem Freiburger Vortrag über »Das Zeitalter der neuen Literatur« (auf Englisch gedruckt im »Playboy«, auf Deutsch in »Christ und Welt«) eine über Monate geführte Diskussion auslöste – und für poetologische Aufregung sorgte unter den Alten wie Robert Neumann und Hans Egon Holthusen ebenso wie unter den damals Jungen: Rolf Dieter Brinkmann, Martin Walser und Jürgen Becker. Diese Diskussion von 1968 wird hier erstmals komplett in Buchform wiedergegeben. Gefolgt von beträgen jüngerer und junger Autoren aus den 90iger Jahren und den sogenannten Nuller-Jahren.

Veröffentlicht unter Geschmacksfragen, Personen, Poesie, Über Bücher | Hinterlasse einen Kommentar

Buch & Bar (37): Philipp Tingler “Schöne Seelen”

Wie täusche ich meinen Therapeuten richtig?

Heute: Über herrlich verhöhnendes Lesen und Trinken

Klar, Essen ist auch wichtig. Aber in dieser Kurz-Kolume BUCH & BAR geht es nur um Lesen und Trinken. Warum? Weil beides, in richtiger Qualität und Dosierung, einen kostbaren Fingerbreit über die klägliche Wirklichkeit hinausheben kann.

Philipp Tingler: "Schöne Seelen". Roman. Verlag Kein & Aber, Zürich 2015. 22 Euro

Die edelsten der edlen Menschen wurden in der Antike schöne Seelen genannt. Wenn Philipp Tingler seinen Roman „Schöne Seelen“ (Kein & Aber, 22 Euro) nennt, ist das purer Sarkasmus. Ich kenne keinen anderen deutschen Autor, der das Gala-Milieu der Reichen, Botox-Schönen und Prada-Berühmten so kenntnisreich und komisch zu verhöhnen versteht wie er.

Und das geht so: Viktor hat Geld wie Heu und Eheprobleme. Seine Frau schickt ihn zur Psychotherapie, doch dazu fehlen ihm Zeit und Lust. Also bittet er kurzerhand seinen Freund Oskar, für ihn zum Therapeuten zu gehen, um ihm anschließend davon zu berichten. Was er dabei dann aufschnappt, muss für Frau und Ehe reichen. Aus dem Rollentausch ergeben sich logischerweise fabelhafte und höchst pointenträchtige Komplikationen. Tingler schreibt absolut hinreißende Screwball-Dialoge. Aber leider ist er so verliebt in seine Story, dass er sie allzu breit auswalzt. Wäre sein Buch halb so lang, wäre es doppelt so gut.

Bei ihren Treffen trinken Viktor und Oskar Prince-of-Wales-Cocktails. Natürlich aus Silberbechern, damit jeder sofort sieht, dass nicht nur die beiden Trinker, sondern auch ihre Getränke etwas Besonderes sind. Für den Drink brauch es einen guten Cognac (mein Vorschlag: Prince Polignac VSOP), Kräuterlikör (D.O.M. Bénédictine) und Angostura, aufgefüllt mit, wie könnte es anders sein, Champagner.

Die Kolumne erschien im Focus vom 12. September 2015. 
2014 startete meine Kurz-Kolumne Buch & Bar im Focus. Sie ist schon deshalb absolut unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.
Veröffentlicht unter Buch & Bar | Verschlagwortet mit | 1 Kommentar

Buch & Bar (36): Helen Macdonald “H wie Habicht”

Mehr, als Sie je über Geflügel wissen wollten

Über definitiv unkuschliges Lesen und Trinken

Klar, Essen ist auch wichtig. Aber in dieser Kurz-Kolume BUCH & BAR geht es nur um Lesen und Trinken. Warum? Weil beides, in richtiger Qualität und Dosierung, einen kostbaren Fingerbreit über die klägliche Wirklichkeit hinausheben kann.

Helen Macdonald: "H wie Habicht". Übersetzt von Ulrike Kretschmer. Allegria Verlag, Berlin 2015. 20 Euro

Um ehrlich zu sein, Habichte waren mir bislang schnurzegal. Am Mirower See in Mecklenburg habe ich mal einen gesehen. Er thronte auf einem Baum, war sehr schön und schaute stur an mir vorbei. Offenbar war auch ich ihm schnurzegal.

Die Britin Helen Macdonald dagegen hat einen Narren an ihnen gefressen. Und ihr Buch „H wie Habicht“ (Allegria, 20 Euro) ist so hinreißend gut geschrieben, dass ich mir von ihr beim Lesen begeistert jede Feder einzeln erklären ließ. Wenn Macdonald Bedienungsanleitungen schriebe, wären jetzt Waschmaschinen meine neuen Stars. Sie erzählt, wie sie nach dem Tod ihres Vaters einen Habicht für die Jagd abrichtet, weil der ist, wie sie gern wäre: „Einzelgänger, selbstbeherrscht, frei von Trauer und taub gegenüber den Verletzungen des Lebens.“ Habichte sind, stellt sie klar, keine Kuschelvögel, sondern Killer, die nur eine Freude kennen: das Töten. Echt ungemütliche Tiere also, in denen sie etwas von ihrem kalten, nackten Zorn auf ein Leben wiederfand, das ihr den Vater nahm.

Als ich mit dem Buch fertig war, habe ich mir bei Victoria, Berlins bester Bar, einen Rattlesnake bestellt, einen grimmigen Drink: Wild Turkey Bourbon mit 50,5 % Vol., Zitronensaft, Zuckersirup, Eiweiß und einem Schuss Ansinth. Nichts für den gemütlichen Tagesausklang. Eher was, um Zorn runterzuspülen.

Die Kolumne erschien im Focus vom 5. September 2015. 
2014 startete meine Kurz-Kolumne Buch & Bar im Focus. Sie ist schon deshalb unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.
Veröffentlicht unter Buch & Bar | Verschlagwortet mit | 1 Kommentar

Buch & Bar (35): Carlo Rovelli “Sieben kurze Lektionen über Physik”

Das Hirn in den Zeiten der Teilchen

Über sternenstaubiges Lesen und Trinken

Klar, Essen ist auch wichtig. Aber in dieser Kurz-Kolume BUCH & BAR geht es nur um Lesen und Trinken. Warum? Weil beides, in richtiger Qualität und Dosierung, einen kostbaren Fingerbreit über die klägliche Wirklichkeit hinausheben kann.

Carlo Rovelli: "Sieben kurze Lektionen über Physik". Übersetzt von Sigrid Vagt. Rowohlt Verlag, Reinbek 2015. 10 Euro

Kaum schlage ich so ein populäres Physik-Buch der Stephen Hawking-Klasse auf, zerfällt mir die Realität unter den Händen in einen Haufen von Elektronen, Photonen, Gluonen, Klingonen und Quarks. Dem CERN in Genf reichte das nicht, also schickten sie kürzlich noch die Higgs-Boson-Teilchen ins Rennen. Okay, denke ich, warum nicht, und rufe ihnen im Sinne einer positiven Willkommenskultur ein herzliches: „Hallo Higgs, toll, dass ihr da seid“ zu.

Auch der italienische Wissenschaftler Carlo Rovelli braucht in seinen „Sieben kurzen Lektionen über Physik“ (Rowohlt, 10 Euro) nur 90 Seiten, um die Alltags-Vorstellungen meines Hirns von Raum und Zeit in einen Klumpen nasse Lumpen zu verwandeln. Die Welt und wir, das ist nur Sternenstaub, schreibt Rovelli, und bestimmt hat er Recht. Ich mag den Effekt dieser Bücher ganz gern. Denn wenn ich danach einen Sonnenuntergang sehe oder ein Bild von Matisse, denke ich, klar, alles nur Quarks und Higgs, aber ganz chic, was das Hirn draus zaubern kann, oder?

Dem Sonnenuntergang mit einem ein Stardust-Cocktail in der Hand zuzuschauen, macht die Sachen noch ein wenig hübscher. Natürlich ist auch der nur Sternenstaub. Und es gibt so viele Varianten dieses Drinks wie Teilchen. Mit Wodka Citron und Blue Curaçao (Brrh!) oder Amaretto, Wodka, Erdbeer-Likör (Brrrh!!) und Prosecco  oder mit Tequila, Crème de Cacao und Heavy Cream (Brrrrh!!!). Ich mag den Negroni-nahen Mix aus Gin, Campari, Wermut, Orangen- und Grapefruit-Saft. Selten schmecken mir Quarks und Higgs besser.

Die Kolumne erschien im Focus vom 29. August 2015. 
2014 startete meine Kurz-Kolumne Buch & Bar im Focus. Sie ist schon deshalb unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.
Veröffentlicht unter Buch & Bar | Verschlagwortet mit , | Hinterlasse einen Kommentar

Buch & Bar (34): Helmut Krausser “Alles ist gut”

Von “Boah” zu “Pff” in 100 Seiten

Über: Leider verwässertes Lesen und Trinken

Klar, Essen ist auch wichtig. Aber in dieser Kurz-Kolume BUCH & BAR geht es nur um Lesen und Trinken. Warum? Weil beides, in richtiger Qualität und Dosierung, einen kostbaren Fingerbreit über die klägliche Wirklichkeit hinausheben kann.

Helmut Krausser: "Alles ist gut". Roman. Berlin Verlag 2015, 20 Euro

Während der inzwischen leider vergangenen heißen Tage bestellte ich abends beim Italiener einen Negroni. Sie hatten die Tische rausgestellt auf die breiten Neuköllner Bürgersteige und der erste eiskalte Schluck war fabelhaft: Der Gin gab dem bitteren Gemisch aus Campari und Wermut etwas Wuchtiges, Übermütiges. Auch der zweite schnelle Schluck war noch gut, dann schmolz das Eis und der Drink wurde dünn.

Ganz ähnlich ging es mir mit dem neuen Roman „Alles wird gut“ (Berlin Verlag, 20 Euro) von Helmut Krausser, den ich dabei las. Er fängt fabelhaft an: Ein großmäuliger Komponist fühlt sich verkannt, seine Opern werden nicht aufgeführt und also ergeht er sich in Weltverachtung und Selbstmitleid. So wie der Gin den Negroni so verwandelt Kraussers beneidenswerte Sprachkraft das an sich banale Gejammer seines Helden anfangs in einen übermütigen, spritzigen Sarkasmus.

Doch dann wird der Roman dünn wie ein wässriger Cocktail: Krausser lässt ihn in fade historische Rückblenden und abgedroschene Spielereien mit verschiedenen Fiktionsebenen verläppern. Kurz: Er modelliert eine wunderbare Romanfigur, aber vermurkst die Romanhandlung. Erst dachte ich: Boah! Nach 100 Seiten dachte ich: Pfff. Trost spendete nach dem Essen ein zweiter Negroni.

Die Kolumne erschien im Focus vom 22. August 2015. 
2014 startete meine Kurz-Kolumne Buch & Bar im Focus. Sie ist schon deshalb unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.
Veröffentlicht unter Buch & Bar | Verschlagwortet mit | Hinterlasse einen Kommentar

Buch & Bar (33): Ari Turunen “Kann mir bitte das Wasser reichen?”

Von Demut und anderen Lastern

Klar, Essen ist auch wichtig. Aber in dieser Kurz-Kolume BUCH & BAR geht es nur um Lesen und Trinken. Warum? Weil beides, in richtiger Qualität und Dosierung, einen kostbaren Fingerbreit über die klägliche Wirklichkeit hinausheben kann.

Heute: Über zwiespältiges Lesen und eindeutiges Trinken

Arrogant sind immer nur die anderen. Ist Ihnen das schon mal aufgefallen? Fast jeder hält sich selbst für die Bescheidenheit in Person. Ich mich natürlich auch.

Ari Turunen: "Kann mir bitte jemand das Wasser reichen? Eine kurze Geschichte der Arroganz". Übersetzt von Gabriele Schrey-Vasara. Verlag Nagel & Kimche 2015. 19,90 Euro

Schon deshalb war das Buch „Kann mir bitte jemand das Wasser reichen?“ (Nagel & Kimche, 19,90 Euro) von Ari Turunen eine wahre Labsal für mich. Er erzählt darin eine „kurze Geschichte der Arroganz“ und beweist auf jeder Seite mehrfach, dass Hochmut geradewegs vor dem Fall kommt. Denn Menschen mit überschäumendem Selbstbewusstsein hören a) nicht auf Ratschläge, b) unterschätzen ihre Gegner, c) halten sich für fehlerlos und d) leugnen objektive Probleme. Sie scheitern also an sich selbst. Wie schön.

Nur leider scheitern ebenso all jene, die a) zu gern auf Ratschläge hören, b) Gegner überschätzen, c) überall eigene Fehler oder d) angeblich objektive Probleme sehen. Pure Bescheidenheit ist also auch keine Lösung. Doch vor deren Gefahren warnt Turunen nicht.

In seinem lateinischen Ursprung bedeutet „arrogans“ nicht nur anmaßend, sondern auch anspruchsvoll. In diesem Sinne hat der Tequila „Arrogante“ den passenden Namen. Der 18 Monate im Fass gereifte Arrogante Añejo ist zwar hierzulande nicht leicht zu bekommen (zeetequila.com). Aber auf seinen verführerischen Beigeschmack von Vanille und Karamell kann er meines Erachtens ganz unbescheiden stolz sein.

Die Kolumne erschien im Focus vom 15. August 2015. 
2014 startete meine Kurz-Kolumne Buch & Bar im Focus. Sie ist schon deshalb unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.
Veröffentlicht unter Buch & Bar | Verschlagwortet mit | 1 Kommentar

Buch & Bar (32): Ralf Rothmann “Im Frühling sterben”

Die Kindersoldaten des letzten Weltkriegs

Klar, Essen ist auch wichtig. Aber in dieser Kurz-Kolume BUCH & BAR geht es nur um Lesen und Trinken. Warum? Weil beides, in richtiger Qualität und Dosierung, einen kostbaren Fingerbreit über die klägliche Wirklichkeit hinausheben kann.

Heute: Über erlebnisgieriges Lesen und Trinken

Ein verdammt starker Roman: Zwei siebzehnjährige Jungen werden in den letzten Kriegsmonaten zur Waffen-SS eingezogen und fast ohne Ausbildung an die Front geschickt. Walter ist vorsichtig und kommt davon. Fiete ist frech, versucht zu desertieren, wird geschnappt und hingerichtet. Da Walter ins Erschießungskommando befohlen wird, muss er mithelfen, seinen Freund ins Jenseits zu befördern.

Ralf Rothmann: "Im Frühling sterben". Suhrkamp verlag, Berlin 2015. 19,95 Euro

Ralf Rothmann war nie im Krieg, aber sein Kriegsroman „Im Frühling sterben“ (Suhrkamp, 19,95 €) geht unter die Haut. Nicht zuletzt weil er den Mut hat, einen Großteil von Walters Kriegserlebnissen als Abenteuergeschichte zu erzählen. Rothmann zeichnet ein Inferno im Superbreitwandformat: hin- und hergerissen zwischen Nervenkitzel und Angst, Sensationslust und Abscheu. Er zeigt nicht nur das Grauen, sondern auch die makabre Faszination des Kriegs, der sich ein Siebzehnjähriger nur schwer entziehen kann.

Ein klassischer Cocktail mit militärischem Touch ist für mich der Sidecar. Gemixt wird er aus 5 cl Cognac, 2 cl Cointreau und 2 cl frisch gepresstem Zitronensaft. Benannt wurde er angeblich nach dem Motoradgespannen, die US-Soldaten im 1.Weltkrieg fuhren. Vor Jahren bin ich Ralf Rothmann mal begegnet, er ist ein spröder Autor, der zu Kritikern lieber Abstand wahrt. Sein gutes Recht. Also hebe ich mein Glas aus der Ferne und trinke auf ihn und sein bemerkenswertes Buch.

Die Kolumne erschien im Focus vom 8. August 2015. 
2014 startete meine Kurz-Kolumne Buch & Bar im Focus. Sie ist schon deshalb unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.
Veröffentlicht unter Buch & Bar | Verschlagwortet mit | Hinterlasse einen Kommentar