Buch&Bar 83: John le Carré “Im Taubentunnel”

Alle Agenten lügen, sagt der Agent

Heute: Über den Verlust an Gleichgewicht beim Lesen und Trinken

John le Carré: "Der Taubentunnel. Geschichten aus meinem Leben". Übersetzung: Peter Torberg. Ullstein Verlag, 22 Euro

John le Carré hat ein paar seiner besten Romane über den eiskalten Krieg zwischen britischem Geheimdienst MI6 und seinem sowjetischem Pendent KGB geschrieben. Da er Anfang der sechziger Jahre selbst als Nachwuchsspion in Bonn und Hamburg für den MI6 arbeitete, traf er die paranoide Agenten-Atmosphäre offenbar so gut, dass er sogar unter KGB-Chefs echte Fans fand.

In seinen Erinnerungen „Der Taubentunnel“ (Ullstein, 22 Euro) erzählt le Carré jetzt, wie ihn Jewgeni Primakov, der fünf Jahre lang den russischen Geheimdienst geleitet hatte, in London in die russische Botschaft einlud. Und zwar um Zorn loszuwerden: Iraks Diktator Saddam Hussein sei ein Freund von ihm gewesen und habe angeboten, sich aus dem von ihm besetzten Kuwait zurückzuziehen, um den ersten Golfkrieg gegen die USA und Großbritannien zu vermeiden. Doch George Bush sen. und Margaret Thatcher seien nicht zu stoppen gewesen: „Sie wollten den Krieg.“

Warum, fragt sich le Carré, während Primakow unausgesetzt Wodka mit ihm trinken will, warum erzählt er das mir? Betreibt er Information oder Desinformation? Sofort fühlt er sich zurückversetzt in die Denk-Labyrinthe des Kalten Kriegs: „Nichts, absolut gar nichts ist so, wie es scheint.“ Alles kann Täuschung sein, die Wahrheit wird ungreifbar. Eine Welt des permanenten Schwindels – weshalb, logisch, auch nach diesem Geheimdienst-Boss ein Wodka Primakov benannt wurde, der einen blitzschnell ums Gleichgewicht bringen und in Schwindel stürzen kann.

 

2014 startete BUCH & BAR. Die Kolumne ist schon deshalb absolut unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.

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“Terror – Ihr Urteil”. Gespräch mit Ferdinand von Schirach und Lars Eidinger

 ”Die Verfassung ist klüger als wir. Sie schützt uns vor uns selbst”

Am 29. September traf ich Ferdinand von Schirach und Lars Eidinger zu einem Gespräch über “Terror – Ihr Urteil” im Berliner Café “Grosz”. Der Film wird am kommenden Montag, dem 17. Oktober, nicht nur von der ARD ausgestrahlt, sondern zeitgleich in Österreich, der Schweiz, der Tschechischen Republik und der Slowakei. Das ist nicht nur für das Fernsehen ein besonderes Spektakel, sondern das wohl größte europäische Theatereignis der letzten Jahre.

Denn der Film geht zurück auf von Schirachs Drama “Terror”, dass seit seiner Premiere im Oktober 2015 in 54 Theatern auf dem Spielplan stand und bislang etwa 150.000 Zuschauer fand. Es führt eine fiktibe Gerichtsverhandlung vor: Ein Kampfpilot der Bundeswehr hat entgegen seiner Befehle ein entführtes Passagierflugzeug mit 164 Menschen an Bord abgeschossen, bevor der Terrorist es in ein mit 70.000 Menschen von besetztes Fußballstadion lenken konnte.

Das Stück lehnt sich eng an ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts an, das 2006 den Abschuss entführter Flugzeuge für grundgesetzwidrig erklärte. Im Anschluss an den Film “Terror – Ihr Urteil” werden die Zuschauer aufgefordert werden, per Telefon oder Internet über Verurteilung bzw. Freispruch des Pioloten abzustimmen. Mit dieser Beteiligung des Publikums am Theatergeschehen stellt sich von Schirach deutlich in die Tradition der Lehrstücke Bertolt Brechts. Das Resultat der Abstimmung legt auch fest, welche Urteilsbegründung der Richter abschließend verließt.

Danach werden sich in allen fünf Ländern, die den Film zeigen, Diskussionssendungen dem Thema widmen. Für die ARD wird Frank Plasberg diese Sendung als Sonderausgabe von “Hart aber fair” leiten. Schon im vergangenen Juli hatten die FDP-Politiker Gerhart Baum und Burkhard Hirsch gegen von Schirachs Stück polemisiert und von den ARD-Verantwortlichen verlangt, auf die Ausstrahlung samt Abstimmung und Diskussionssendung zu verzichten.

Offen gestanden war ich mir vor dem Doppel-Interview mit Schauspieler Lars Eidinger, der im Film den Anwalt des angeklagten Kampfpiloten spielt, und dem Autor von Schirach nicht sicher, ob zu Dritt ein auf die Themen des Films konzentriertes Gespräch zustande kommen würde. Doch beide Interviewpartner waren einerseits locker und witzig, andererseits allein an den vom Film aufgeworfenen Fragen interessiert und redeten immer intensiv zur Sache. Ich danke beiden sehr, das Gespräch hier in voller Länge im Blog veröffentlichen zu dürfen.

Uwe Wittstock: Die Ausstrahlung des Stücks „Terror“ in fünf Ländern gleichzeitig ist wohl das größte Theaterereignis Europas seit Jahren. Wie fühlen Sie sich dabei?

 

Ferdinand von Schirach: "Terror". Ein Theaterstück und eine Rede. btb. 10 Euro

Lars Eidinger: Mir macht das ein bisschen Angst. Natürlich ist es schön, wenn man als Schauspieler Teil einer Produktion ist, die derart viel Aufmerksamkeit kriegt. Aber ich habe immer auch Angst, ein gewisses Maß an Popularität zu überschreiten, so dass es meine Weiterarbeit belastet und alles zu viel wird. Ich möchte nicht zu so einem Gesicht werden, das den Leuten an jeder Bushaltestelle auf die Nerven geht. Wenn ein Projekt solche Dimensionen annimmt, dann fragt man sich schon, ist man dem gewachsen.

Ferdinand von Schirach: Lars Eidinger steht vor der Kamera, er hält buchstäblich seinen Kopf hin für dieses Projekt. Das ist als Schriftsteller angenehmer, an Bushaltestellen wird man nur selten erkannt (beide lachen). Ich freue mich jedenfalls über die Dimension. Sehen Sie, der Terror hat ja längst die Politik verändert, er verändert das Recht und die Moral. Wir müssen uns klar darüber werden, was gerade passiert. Wenn es jetzt gelingt, dass in fünf Ländern zur besten Fernsehzeit über Kant, über unseren Staat und über unsere Gesellschaft in den Zeiten des Terrors diskutiert wird, ist viel erreicht. Genau das ist Demokratie.

Wittstock: Das Stück ist hochpolitisch und keine leichte Kost. Dennoch war es schon in den Theatern ein Riesenerfolg. Ist das große Publikum politischer und anspruchsvoller, als üblicherweise angenommen wird?

Von Schirach:  Ja, ich glaube das. Sobald es ernst wird, sobald wir also in der Verantwortung stehen, wollen wir das Richtige tun. Schauen Sie sich nur eine normale Verhandlung in einem Strafgericht an: Wir haben dort ein System, das Laienrichter beteiligt, also Menschen aus der Mitte der Gesellschaft. Sie brauchen keine akademische Ausbildung zu haben, ein juristischer Beruf ist ihnen sogar verboten. Manche solcher Laienrichter – das Gesetz nennt sie «Schöffen» – haben vielleicht ein paar Tage zuvor noch gefordert, man solle endlich die Mörder köpfen und die Sexualstraftäter kastrieren. Aber sobald sie auf der Richterbank Platz nehmen, ändert sich alles. Ich habe in den vielen Jahren als Strafverteidiger nur sehr selten erlebt, dass sich ein Schöffe nicht für den Menschen interessiert, über den er urteilen soll. Es mag an der Atmosphäre des Gerichts liegen, an dem Ernst, wie ein Fall dort erzählt wird. Aber es scheint doch auch noch etwas anderes zu sein: Wir sind Vernunftwesen, wir haben Mitleid und wir wollen gerecht handeln. Die Vorstellung vieler Politiker, die wichtigen Themen seien zu anspruchsvoll für eine große Wählerschaft, halte ich für Unsinn. Das Gegenteil ist der Fall. Bei Kant hieß der Leitspruch der Aufklärung: «Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.» Daran hat sich nichts geändert.

Wittstock: Wie wichtig ist der Kunstgriff des Stückes, die Zuschauer am Schluss über das Urteil abstimmen zu lassen? Bringt das die  Schauspieler nicht eine ganz ungewohnte Situation?

Eidinger: Im Grunde profitiert man als Fernseh-Schauspieler nicht davon, weil man sein Publikum nicht vor sich hat. Ich habe das gemerkt, als an einem Tag bei den Aufnahmen ein paar Journalisten im Auditorium saßen. Da machte mir das Drehen ungleich mehr Spaß, weil ich merkte, die hören jetzt zum ersten Mal zu und die kann ich gedanklich mitnehmen. Andererseits komme ich bei einem juristischen Thema natürlich ganz schnell an meine Grenzen. Markus Lanz hat mich eingeladen in seine Talk-Show zu „Terror“, aber ich möchte mich lieber nicht einreihen in die Riege der Schauspieler, die, nur weil sie in einem bestimmten Stück mitgespielt haben, glauben, plötzlich der superkompetente Fachmann zum Thema des Stücks zu sein. Also habe ich abgesagt.

 

Ferdinand von Schirach: "Die Würde ist antastbar". Essays. Piper Verlag. 8,99 Euro

Von Schirach: Wie schade, Herr Eidinger. Es geht nicht um Fachleute, nicht um irgendwelche hochgeschraubten juristische Theorien, die niemanden wirklich interessieren. Wir reden über Moral, Politik und Recht. Und damit reden wir über uns selbst. Die Verfassung ist real und greifbar. Es wäre auch seltsam, wenn das Grundgesetz von Dingen handeln würde, über die sich nur Professoren unterhalten können. Dann würde es nichts taugen. Nein, jeder versteht, was in den ersten 20 Artikeln des Grundgesetzes steht. Wir wissen, was Freiheit, Würde oder Sicherheit bedeuten. Und gerade Lars Eidinger hat das alles genau durchdacht und kann es sehr gut erklären.

Eidinger: Das liegt aber auch an diesem Stück. Als Schauspieler wird man ja immer wieder gefragt, wie man so viel Text auswendig lernen kann. Bei mir hat das viel damit zu tun, ob mir ein Text schlüssig erscheint. Bei „Terror“ war das so ein Genuss, die Gedanken nachzuvollziehen und die Argumentation mitzugehen. Das hat mit gedanklicher Genauigkeit zu tun, aber auch mit dem Charme oder Witz des Textes. Gerade wenn der Verteidiger oder die Staatsanwältin sprechen, ist jedes Wort entscheidend und jeder Satz ist immer glasklar. Dieses Stück macht einem mal wieder bewusst, was für ein großer Spaß es ist, genau zu denken. Das ist etwas wahnsinnige lustvolles. Das imponiert mir, auch weil es Ferdinand von Schirach gelingt, wirklich jeder Figur eine eigene Sprache zu geben. Jede hat eine eigene, autarke Schlüssigkeit und Logik.

Wittstock: Wie haben Sie sich vorbereitet auf ihre Rolle als Verteidiger?

Eidinger: Ich war vorher viel im Landgericht. Ich wollte mir einfach ein Bild machen, wie verhalten sich Anwälte, wenn sie vor Gericht auftreten. Wann und wie holen sie den Laptop aus der Aktentasche, wie sitzen sie da, wenn sie der Verhandlung zuhören Diese Besuche waren große Erlebnisse, man wird dort, wie im Theater, Zeuge echter Dramen: Da war ein junger Mann, gerade mal 19, der hat über WhatsApp von seinem besten Freund Mohammed eine Nachricht bekommen: „Wer hat Lust, sich schnelles Geld zu verdienen? 3000 Euro, nach Istanbul fahren und wieder zurück und ein paar Sachen, Schmuck und Kleidung, mitzunehmen?“ Der junge Mann hat die Fahrt gemacht, aber unter den Sachen war Heroin und an der Grenze haben sie ihn geschnappt. Jetzt sitzt er im Gefängnis. Der ist nicht doof, nur ein wenig leichtgläubig. Dann sitzt man in der Verhandlung und denkt, was macht man jetzt mit dem? Man kann ihn nicht laufenlassen, er muss für seine Tat bestraft werden Das hat mich wahnsinnig mitgenommen.

Von Schirach: Sie mussen Lars Eidinger einmal am Set erleben. Er scheint ganz woanders zu sein, vielleicht noch halb auf der Party von gestern Nacht, er macht Witze, die so mittelgut sind …

Eidinger: (lacht)

Von Schirach:  … und dann drehte er sich um, spricht zwei Sätze aus dem Text und innerhalb einer Zehntelsekunde ist er der Anwalt aus dem Film. Er spielt keinen Anwalt, er ist es. Ich habe so etwas noch nie erlebt, es sieht ganz einfach aus, aber genau das ist das Schwerste. Lars Kraume, der Regisseur des Films, hat viel von den Schauspielern verlangt. Er ließ alles Überflüssige weg, verzichtete auf Effekte, es gibt keine Videos und keine anderen Ablenkungen. Und genau durch dieses Reduzieren, durch das Ruhige und das Konzentrierte, entsteht Intensität. Als ich den Film das erste Mal gesehen habe, war das ein unvergleichliches Glücksgefühl. Stellen Sie sich vor, Sie schreiben nachts an Ihrem Schreibtisch ein Stück und dann spielen es irgendwann die größten Schauspieler. Martina Gedeck, Lars Eidinger, Burkhart Klaußner, Florian David Fitz – ich neige nicht gerade zu Begeisterungsausbrüchen, aber als Schriftsteller kann man von so einem Ensemble nur träumen. Mich bewegt das noch immer sehr.

Eidinger: Dieser Text macht etwas mir Dir, wenn Du ihn als Schauspieler sprichst: Ich habe gemerkt, die Stärke des Stoffs ist, dass man immer auf der Seite dessen ist, der gerade redet.

Von Schirach:  (lacht)

 

Lars Eidinger, Martina Gedeck, Florian David Fitz, Burkhard Klaußner in "Terror - Ihr Urteil". Bildquelle: ARD

Eidinger: Und das ist toll. Es fängt damit an, dass der Fall in allen Details beschrieben wird. Währenddessen denke ich, ja, sonnenklar, das Flugzeug muss natürlich abgeschossen werden. Aber spätestens wenn die Nebenklägerin redet und erzählt, wie sie den Schuh ihres mit dem Flugzeug abgeschossenen Mannes unter den Überresten gefunden hat, die in den Trümmern waren, denke ich, wie konntet der Pilot das tun, ein Flugzeug abschießen, in dem 164 Menschen saßen? Wahnsinnig wichtig ist dann der Moment, in dem die Staatsanwältin sagt: Die Verfassung ist klüger als wir. Sie schützt uns vor uns selbst. Ihr erster Paragraph lautet. „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Es ist also schlicht verfassungswidrig, dieses Flugzeug abzuschießen.

Wittstock: Der Anwalt hat in seinem Plädoyer auch so einen politisch ganz wichtigen Satz …

Eidinger: “Wir sind im Krieg.”

Wittstock: Genau.

Eidinger: Der Satz ist sehr wichtig, aber es ist auch wichtig, ihn richtig zu verstehen. Der französische Präsident Hollande sagte nach den Terroranschlägen von Paris: „Wir sind im Krieg“. Und wollte damit wohl ausdrücken, wir werden uns gegen den Terror militärisch wappnen und zurückschlagen. Ich verstehe den Satz so, mir selbst klarzumachen: Wir dürfen uns nicht vormachen, dass wir in friedlichen Zeiten leben. Unser Frieden hier beruht auf Kriegen, die an anderen Grenzen geführt werden. Wir werden auch militärisch geschützt. Das geht für mich so weit zu sagen, dass mein Wohlstand auf der Armut und der Ausbeutung Anderer fußt. Und deswegen muss ich mir natürlich auch bei so einem Thema die Frage stellen: Woher kommt denn der Terror? Da macht man es sich zu einfach, wenn man sagt, es sind irgendwelche fanatischen Islamisten, die unsere Kultur zerstören wollen. Warum? Was haben die denn gegen uns? Was wollen die denn? Das ist vielleicht nicht das Thema des Stückes, aber das Nachdenken über das Stück führt auch zu diesem Thema.

Wittstock: Es führt zu politischen und juristischen Grundsatzfragen.

Von Schirach: Ja, aber ich kann diese Fragen nicht beantworten, ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich die Gründe für den Terror überhaupt verstehe. Diese Menschen scheinen des Mordens nicht satt zu werden, sie wollen unsere Gesellschaft zerstören, sie stellen ihre Ideologie und Religion über den Menschen. Aber trotzdem bin ich davon überzeugt, dass die aufgeklärte Demokratie auch den Terroristen ausschließlich mit den Mitteln des Rechts begegnen darf. Es geht nicht anders. Wenn wir daran zweifeln, ob das Recht für alle Menschen gleich gelten soll, werden wir scheitern und alles verlieren. Dann hat der Terror gesiegt.

Wittstock: Einerseits wird in dem Stück über Rechtsphilosophie und Politik diskutiert. Andererseits bleibt diese Diskussion ein Gespräch unter Menschen: Florian David Fitz, der den Piloten spielt, ist ein unglaublich sympathischer Mensch. Jenseits aller juristischen Argumente wird es den Zuschauern schwer fallen, für seine Verurteilung zu stimmen.

Von Schirach: Das stimmt. Aber sehen Sie, genau so ist es auch vor einem richtigen Gericht. Ein gutaussehender, kluger, sympathischer Angeklagter ist immer schwerer zu verurteilen. Es sind ja Menschen, die urteilen, keine Maschinen.

Eidinger: Man wünschte sich, Mörder würden immer aussehen wie Monster.

Von Schirach: Sie sehen aus, wie andere Menschen auch. Sie sehen so aus, weil sie sich kaum von uns unterscheiden.

Eidinger: Auf der anderen Seite, wenn man wissen will, wie viel Neid und Wut eine vordergründige Attraktivität auf sich ziehen kann, da muss man nur mal die Kommentarleisten auf den Websites und Profilen irgendwelcher Prominenten runterscrollen. Es kann auch ins Gegenteil  umschlagen, und dann heißt es, diesen Schönling will ich im Gefängnis sehen.

Von Schirach: Sie sollten solche Kommentare nicht lesen.

Wittstock: Wurde während der Dreharbeiten auch über Verurteilung oder nicht gestritten?

 

Lars Eidinger in "Terror - Ihr Urteil" als Anwalt: "Wir müssen begreifen, dass wir im Krieg sind."

Eidinger: Ja doch. Ich hatte mich am Anfang absolut mit meiner Rolle identifiziert. Das ist immer so. Selbst wenn ich einen Serienmörder spiele, denke ich ja im ersten Augenblick, hoffentlich komme ich irgendwie davon. Beim Lesen dieses Drehbuchs war es genauso: Noch bei den ersten Proben war ich total auf der Seite des Verteidigers, gar keine Frage. Erst im Laufe der Dreharbeiten habe ich meine Meinung geändert und war dann am Ende eindeutig auf der Seite der Staatsanwaltschaft und fand es völlig klar, der Pilot muss verurteilt werden. Was mich an ihm so irritiert, ist, dass er den Abschuss der Passagiermaschine verteidigt, aber dafür nicht ins Gefängnis gehen will. Natürlich weiß ich nicht, ob ich selbst die Größe hätte, aber eigentlich wäre das der Moment, in dem man sagen müsste: Ja, ich habe die Maschine abgeschossen, weil ich es für richtig halte, weil ich die Menschen im Fußballstadion retten wollte, und ich würde auch wieder so handeln. Aber der Tod der 164 Passagiere ist dennoch ein schweres Verbrechen und ich möchte nach den Maßstäben unserer Gesetzeslage, unserer Gesellschaft dafür verurteilt werden.

Von Schirach:  Das ist interessant. Helden enden tragisch, sie können keine glückliche Menschen sein. Sie scheitern im Großen, wie wir im Kleinen, das bringt sie uns nahe. Der Held entscheidet sich nicht zwischen Gut und Böse. Das wäre kitschig und vor allem langweilig. Nein, der Held der Tragödie muss zwischen Gut und Gut wählen, zwischen zwei fast gleichwertig hohen Pflichten. Er steht zwischen ihnen, es gibt keinen Ausweg. Beide Entscheidungen kann er moralisch rechtfertigen, aber ganz gleich, was er tut, er wird schuldig. Das ist seine Tragödie. Der Pilot im Stück denkt anders. Er entscheidet sich zwar, aber verneint seine Schuld, er ist kein tragischer Held. Dadurch treten die Zuschauer an seine Stelle. Sie richten über ihn und werden so selbst zum Teil der Tragödie.

Wittstock: Schon die Inszenierungen von „Terror“ an 54 Theatern haben gezeigt, wie schnell das Stück jedes Schauspielhaus zur politischen Bühnen machen kann, in der Zuschauer heftig debattieren. Warum, Herr Eidinger, passiert das sonst so selten im Theater?

Eidinger: Da würde ich widersprechen.

Wittstock: Gut.

Eidinger: Stücke, die einen vordergründigen politischen Bezug herstellen, missfallen mir. Aber sobald man am Theater ein wirklich großes Stück macht, ein Stück von Shakespeare zum Beispiel, ist man auf der sicheren Seite, denn Shakespeares Stoffe haben immer höchste politische Brisanz und aktuelle Relevanz, da sie sich immer grundlegenden und essentiellen Konflikten des gesellschaftlichen Zusammenlebens widmen. Bei „Hamlet“ etwa geht’s um ein korruptes System, gegen das sich die Hauptfigur auflehnt. Dabei handelt es sich um die Familie, also die kleinste gesellschaftliche Zelle neben der Zweierbeziehung. Die Auseinandersetzung mit dieser kleinsten Einheit und den Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens lässt sich auf jedes beliebige System übertragen und hochrechnen. Das ist immer auch im höchsten Maße politisch.

Von Schirach:  In gewisser Hinsicht gebe ich Herrn Wittstock schon recht. Politisches wird zwar in unseren Theatern verhandelt, so wie Sie es, Herr   Eidinger, beschrieben haben. Aber vieles hat sich geändert. Im Athen des Sokrates ging die gesamte Bevölkerung ins Theater, zu Beginn des letzten Jahrhundert war es hier noch das ganze Bürgertum einer Stadt. Wenn heute Lars Eidinger den Hamlet an der Schaubühne in Berlin gibt, ist das Haus zwar jeden Abend ausverkauft, aber das Publikum ist trotzdem nur ein kleiner, recht exklusiver Teil der Gesellschaft. Eine politische Diskussion über die Grundlagen der Gesellschaft kann dort stattfinden, ihre Wirkung ist allerdings begrenzt. Deshalb habe ich mich auch so über den Mut der ARD, der Degeto und von Oliver Berben gefreut. Es scheint heute ja zum guten Ton zu gehören, über das Fernsehen zu schimpfen. Aber mich hat es beeindruckt – ganz von aussen – mitzubekommen, wieviel Arbeit alleine dahinter steht, fünf Länder zu koordinieren, von denen jeder ein eigenes Programmschema hat. So ein Projekt wäre ohne enormes Engagement überhaupt nicht denkbar. Die Verantwortlichen riskieren einiges, wenn sie ein Programm, das ja doch nicht ganz einfach ist, zur Primetime senden.

Eidinger: Das stimmt. Das bewundere ich auch total. Denn es ist natürlich ein Projekt, das sperrig ist und sich der Gefahr aussetzt, zu scheitern.

Wittstock: Was ist sperrig an „Terror“?

Eidinger: Das Stück ist letztlich ein Kammerspiel. Der einzige Schauplatz ist der Gerichtssaal. Man muss konzentriert zuhören. Der Regisseur Lars Kraume setzt wenig Schnitte und verzichtet fast ganz auf Musik. Das widerspricht allen gängigen Gewohnheiten. Auch meinen eigenen. Wenn das Verhör am Anfang länger als zehn, 15 Minuten dauert, kann mancher Zuschauer unruhig werden. Aber dieses Verhör ist wichtig, es klärt die Grundlage des ganzen Falles.

Von Schirach: Wir haben es zweimal gekürzt. Im Theater kann man sich mehr Zeit lassen, denn wenn die Zuschauer erst einmal sitzen, können sie so schnell nicht wieder raus. Beim Fernsehen schalten die Zuschauer einfach um, sobald sie sich langweilen.

Eidinger: Das Publikum ist extrem gefordert. Schön, dass die ARD das den Zuschauern zutraut und das Risiko eingeht, das manche vielleicht aus- oder wegschalten.

Wittstock: Nach dem Ende des Films kommt in allen Ländern eine Diskussionssendung. In Deutschland von Frank Plasberg geleitet. Wie wichtig ist das für dieses Fernsehereignis?

Von Schirach: Nach den Theaterinszenierungen habe ich es oft erlebt, dass die Zuschauer noch im Foyer standen und sich weiterunterhielten. Manchmal sind die Theaterleute darüber nicht ganz so glücklich, denn die wollen ja auch mal zumachen und nach Hause gehen. Dieses Bedürfnis, über den Fall zu reden, müssen die Sendeanstalten nach dem Film auffangen. Dafür ist, glaube ich, eine Gesprächssendung gut. Auch im Internet werden dafür verschiedene Foren angeboten.

Eidinger: Das war bei den Proben und Dreharbeiten genauso. Wir Schauspieler hatten viele Fragen und eben das Privileg, Ferdinand von Schirach dabei zu haben, der uns zu allem Auskunft gegeben hat. Wir haben ungeheuer viel gelernt. Auch die Zuschauer werden ja ähnliche Fragen haben. Und ganz unterschiedliche Meinungen. Eigentlich müsste sich jeder dazu äußern. Das ist dann Demokratie. Deswegen finde ich es eine völlig falsche Forderung zu sagen, zeigt nur den Film, aber diese Abstimmung könnt ihr euch sparen. Haben ja zwei Politiker vor ein paar Wochen verlangt.

Von Schirach: Wir vergessen das leicht, aber Demokratie ist Diskurs. Durch die lange präsidiale Kanzlerschaft und die Große Koalition, wie wir sie in den letzten Jahren hatten, scheint uns dieser Diskurs allmählich abhanden zu kommen. Das ist nicht ungefährlich. Wir müssen uns wieder klar darüber werden, dass es unser eigener Staat ist. Wir selbst sind die Gesellschaft, es gibt kein «die da oben» oder andere Ausreden. Es ist unsere Verantwortung und nur wir selbst sollten über unser Leben entscheiden. Damit meine ich nicht, dass es auf Bundesebene Volksentscheide geben sollte. Im Gegenteil, das hielte ich für eine Katastrophe. Wir sehen gerade in der Schweiz oder bei der Brexit-Entscheidung, wie schnell das schiefgehen kann. Natürlich dürfen wir es auch niemals zulassen, dass wir Volksentscheide über Gerichtsverfahren bekommen – das wäre völliger Wahnsinn. Die Zuschauer stimmen bei dem Film nicht darüber ab, ob jemand tatsächlich ins Gefängnis geht. Sie stimmen auch nicht über die Verfassung, über die Würde des Menschen oder über das Luftsicherheitsgesetz ab. Genau genommen ist das Ergebnis der Abstimmung gar nicht so wichtig – die Diskussion selbst ist das Entscheidende. Der Film stellt Fragen, die Antworten müssen wir alle finden. Nur so nehmen wir Einfluß.

 

Link zu Videos zum Film

Eidinger: Ich glaube, es ist ein großes Problem unserer Gesellschaft, dass der Einzelne seinen Einfluss unterschätzt. Das war irgendwann eine ganz wichtige Erkenntnis für mich, dass ich gemerkt habe, ich kann die Welt vielleicht doch verändern. Ich dachte immer, ich kann’s nicht, ich bin ja nur einer. Aber dann habe ich irgendwann begriffen, wenn ich mein Leben so lebe, wie ich’s für richtig halte, wenn ich meinem Ideal treu bleibe, dann verändert das schon viel. Die größte Stärke in der Demokratie ist die Eigenverantwortung jedes Einzelnen. Dass der sagt: Ich beteilige mich.

Von Schirach:  Darum geht’s, genau.

Wittstock: Der Titel des Stücks lautet „Terror“. Terror heißt lateinisch Schrecken. Was macht den speziellen Schrecken dieses Stückes aus?

Von Schirach:  Es ist das Erschrecken über uns selbst. Das Erschrecken darüber, wie schnell unsere Moralvorstellungen schwanken, wie unsicher sie sind, wie wenig sie aushalten. Wir glauben im Alltag immer zu wissen, was richtig ist und was falsch. Aber was ist, wenn wir in eine Situation geraten, in der es scheinbar keine richtige Entscheidung mehr gibt? Woran halten wir uns dann?

Eidinger: Unser Land wirkt so friedlich. Dass ein Panzer den Ku’damm langfährt, ist für mich unvorstellbar. Vor einigen Jahren war ich in Sarajevo und die Leute dort haben mir das gleich erzählt: Sie konnten sich nicht vorstellen, dass Panzer ihre Straßen runterrollen. Noch einen Tag bevor der Krieg ausbrach, konnten sie es sich nicht vorstellen. Niemals, dachten sie wird in unserer Stadt Krieg ausbrechen. Niemals. Und dann passiert’s. Auch um diesen Schrecken geht es in „Terror“: Dass wir begreifen, auch uns kann es treffen. Meine Frau könnte in dem Flugzeug sitzen, meine Frau könnte in dem Stadion sitzen. Und wie soll dann entschieden werden? Abschießen oder nicht abschießen? Wir machen uns etwas vor, wenn wir denken, wir können diese Entscheidung nicht fällen und uns der Verantwortung entziehen. Wir treffen diese Entscheidung jeden Tag, dadurch dass wir in diesem System leben und es schützen. Wir müssen uns dessen nur bewusst werden und uns der Verantwortung stellen. Das ist Demokratie.

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Buch&Bar 82: Christopher Ryan & Caclida Jethá

Von den scharfen Vätern lernen

Heute: Über die Fesseln der Liebe beim Lesen und Trinken

Christopher Ryan & Cacilda Jethá: "Sex. Die wahre Geschichte". Übersetzung: Birgit Herden. Mitarbeit: Ulrich Clement. Verlag Klett-Cotta. 24,95 Euro

Wer hat Mist gebaut? Die Menschen der Jungsteinzeit haben Mist gebaut! Und zwar sowas von. Anfangs waren sie noch Nomaden, hatten Mammuts gejagt, Beeren gesammelt, alles geteilt und jede Menge Spaß. Aber dann, vor 10.000 Jahren, wurden sie sesshaft, bebauten Felder, züchteten Vieh und gründeten Städte. Das war, zugegeben, der Anfang jeder Zivilisation, okay, aber es hat den Sex voll versaut.

Das schreiben Christopher Ryan und Cacilda Jethá in „Sex. Die wahre Geschichte“ (Klett-Cotta, 19,99 Euro). Denn wer sesshaft ist, will behalten, was er aus seinen Feldern herausgeschunden hat und nennt es sein Eigentum. Nichts wird mehr geteilt, schon gar nicht beim Sex. Jeder will eine eigene Frau, einen eigenen Mann. Und schon wird es im Bett langweilig, lustlos, lahm. Liebe ist kein Spaß mehr, sondern eine Arrestzelle, das spanische Wort „esposas“, so Ryan und Jethá, bedeutet sowohl „Ehefrauen“ als auch „Handschellen“.

Nun müssen, möchte ich einwenden, Handschellen beim Sex nicht zwangsläufig langweilig sein. Allerdings soll es tatsächlich schon zu Überschneidungen zwischen Monogamie und Monotonie gekommen sein. Ein guter Drink kann da der Fantasie auf die Sprünge helfen. Der Cocktail Golden Handcuffs zum Beispiel: 2 cl Wodka, 2 cl Dry Vermouth, 1 cl Dry curaçao, 1 cl Rothman & Winter Orchard Peach Liqueur und ein Spritzer Regan’s No. 6 Orange Bitters. Eine köstliche Form, an die Kette gelegt zu werden.

 

2014 startete BUCH & BAR. Die Kolumne ist schon deshalb absolut unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.

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Erinnerung an Siegfried Lenz

“Gelassenheit, Deutlichkeit”

Vor zwei Jahren, am 7. Oktober starb Siegfried Lenz. Er war einer der großen Erzähler der alten Bundesrepublik. Ich traf ihn ein letztes Mal im März 2011 in Hamburg in seiner Wohnung mit direktem Blick auf die Elbe. Es war kurz vor seinem 85. Geburtstag. Damals schrieb ich  dieses Porträt über ihn.

Das Erste, was an Siegfried Lenz auffällt, ist die Elbe. Als mächtiges graues Band schiebt sie sich hinter seinem Profil der Nordsee entgegen. Wir treffen uns tief im Westen Hamburgs, direkt am Elbufer, dort, wo der Strom das Labyrinth des Hafens hinter sich gelassen hat, nach getaner Arbeit durchzuatmen scheint und sich zu ganzer Größe streckt.

Siegfried Lenz war zeitlebens zurückhaltend mit biographischen Auskünften. Bis heute gibt es auf dem Buchmarkt nur eine Biografie des Schriftstellers. Erich Maletzke: "Siegfried Lenz. Eine biographische Annäherung". zu Klampen Verlag. eBook. 8,99 Euro

Einladend winkt mich Lenz von Weitem schon an seinen kleinen Tisch. Er steht direkt vor dem Panoramafenster, das den Strom in seiner machtvollen Schönheit zeigt. Es ist, als betrete man ein Kino, in dem nur noch ein zweiter Zuschauer sitzt: der Schattenriss eines schmächtigen Mannes mit großem Kopf und Pfeife vor dem überwältigenden Breitwandpanorama des Flusses.

Ein Auftritt, wie ihn der Erzähler Siegfried Lenz effektvoll und sinnfällig für die Hauptfigur eines Romans erfunden haben könnte. Gleich das erste Bild enthält viel von dem, was den Helden charakterisiert: die Haltung des Beobachters, die Ruhe des Pfeifenrauchers und sein Blick auf den unaufhaltsam vorandrängenden Strom der Ereignisse.

Lenz ist heute, 2011, der dienstälteste Großautor des Landes. Seine erste Geschichte schrieb er 1949, im Gründungsjahr der Bundesrepublik. Es folgten 14 Romane, rund 170 Erzählungen und dazu Essays, Reden, Theaterstücke. In 35 Sprachen wurden seine Bücher übersetzt, 30 Millionen Mal verkauft. Der bescheidene Mann am Elbufer, der fragt, ob er weiterrauchen darf oder ob das stört, ist ein Weltautor, ist Schöpfer und Herr eines literarischen Universums namens Lenz.

Worüber spricht man mit einem Weltautor? Übers Angeln. „Ich bin“, bekennt Lenz, „hoffnungslos in die Fischerei verliebt.“ Wohin auch immer er eingeladen wurde, bat er, sobald die Gastgeber nach seinen Wünschen fragten, um eine Angelrute. In Schottland, in Japan, in Neuseeland konnte er so sein Fischerglück versuchen. „Mein größter Fang? Ein Dorsch in Norwegen. 18 Pfund.“ Nachprüfbare 18 Pfund, sagt Lenz und hebt den Finger. Da ist kein Anglerlatein im Spiel: Die Beute wurde fotografiert, das Bild in einer Zeitung gedruckt.

Sein Lieblingsthema bringt den Erzähler in Schwung: Mit Ulla, seiner zweiten Frau, war er vor nicht allzu langer Zeit zum ersten Mal beim Fischen. „Sie ist Dänin und immer dem Wasser nahe gewesen, stammt aber aus einer Försterfamilie und hat nie geangelt.“ Als sie ihren ersten Fisch fing, einen Plötz, haben sie ihn gemeinsam vorsichtig an Land geholt und vom Haken gelöst. „Aber dann hat Ulla ihn nicht nur ins Wasser zurückgesetzt, nein, sie hat ihn vorher noch gestreichelt.“

Mit seiner ersten Frau Liselotte war Lenz 57 Jahre verheiratet. Sie starb 2006. „Danach glaubte ich, es geht nicht mehr weiter. Ich hatte jede Arbeitskraft, jede Imaginationskraft verloren.“ Die Furcht, nie mehr schreiben zu können, war sehr konkret. Er wäre heute, sagt er, ohne seine neue Frau nicht mehr am Leben. „Ulla hat mir enorm geholfen. Sie hat mir insbesondere geholfen, mein Buch zu Ende zu bringen, die ’Schweigeminute’.“

Der Erzähler als Verwandlungskünstler

Siegfried Lenz: "Schweigeminute". Novelle. dtv. 7,90 Euro

Mit der Novelle „Schweigeminute“ kehrte Lenz 2008 auf die Bestsellerlisten zurück. Das Buch ist kein blasses Alterswerk, sondern der Triumph eines reifen Schriftstellers, es zeigt Lenz im Vollbesitz seines Könnens.

Er gehörte nie zu den Autoren, die über sich selbst oder das eigene Seelenleben schreiben. Er war immer ein Geschichtenerfinder, der spannende, dramatisch zugespitzte Stoffe liebt. Aber wenn Lenz in „Schweigeminute“ von der Liebe eines gerade Achtzehnjährigen zu seiner Englischlehrerin erzählt, die bei einem Bootsunfall stirbt, dann schimmert doch etwas durch von der Liebe zu seiner ersten Frau, die acht Jahre älter war als er.

Wie jeder große Erzähler ist Lenz letztlich so etwas wie ein Verwandlungskünstler. Was immer ihm begegnet, was immer ihn beschäftigt: Er verwandelt es in eine Geschichte. Und seine Geschichten fangen die spezielle Atmosphäre, das besondere Aroma ihrer Zeit, so präzise ein, dass man beim Lesen glaubt, Kapitel für Kapitel der Vergangenheit der Bundesrepublik wiederzubegegnen.

Er hat eine ungeheure Zärtlichkeit, wenn er Bilder oder Gesten beschreibt, die für dieses Land wichtig sind. Er war gemeinsam mit Günter Grass dabei, als Willy Brandt 1970 auf die Knie fiel vor dem Denkmal für das Warschauer Ghetto. „Der Ort hat Brandt einfach übermannt“, sagt Lenz, „das gibt es: Selbst ein Staatsmann wie Brandt kann übermannt werden.“ Oder er spricht von dem Händedruck, mit dem Helmut Kohl und François Mitterrand 1984 auf dem Soldatenfriedhof von Douaumont die Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland bekräftigten.

So sinnlich die Kraft seiner Worte ist, so wenig Wind macht er um seine Person. Seine Wohnung wirkt schlicht, fast ein wenig karg: weiße Wände, wenige Bilder, Möbel, die ihn sicher schon seit Jahrzehnten begleiten. Da ist nichts, was den Welterfolg seiner Bücher verrät – außer dem grandiosen Blick auf die Elbe.

Hanjo Kesting: "Begegnungen mit Siegfried Lenz". Essays, Gespräche, Erinnerungen. Wallstein Verlag. 17,99 Euro

„Schauen Sie, dieses Container-Gebirge!“ Mit der Pfeife in der Hand deutet er auf einen Riesenfrachter, hochbepackt mit Containern, den die Elbe bedächtig an uns vorüberträgt. Lenz war immer ein Schriftsteller des Nordens und der Nautik. Das Wasser zog ihn an, seit er in der kleinen ostpreußischen Stadt Lyck an einem See aufwuchs. „Er bot mir alle Freuden, die ein See bieten kann: schwimmen, tauchen, im Winter Eishockey, angeln.

»Das Alter bringt Gelassenheit, Deutlichkeit«

Er bot ihm aber auch die Schrecken, die im Wasser auf einen warten können. Als Schüler brach Lenz an einem Wintertag durchs Eis. Mit viel Glück nur konnte er gerettet werden. Danach war das Leben wie einen Schritt von ihm zurückgetreten: „Ich hatte streng genommen keine Daseinsberechtigung, ich war überflüssig, entbehrlich, ein fahrlässiger Luxus.“

Vermutlich liegt hier eine Wurzel für die eigentümliche Fähigkeit des Schriftstellers Lenz, von sich selbst abzusehen. „Ich stelle mir vor“ lautet sein Arbeitsprinzip, nicht „Ich habe erlebt“. Auf dem Papier breitet er nicht seine persönlichen Befindlichkeiten aus, sondern erprobt nie gelebte Lebensmodelle. Ihm fehlt die Selbstverliebtheit, jene große Schwäche vieler anderer Autoren. Er ist ein Erzähler, der sich freimachen kann von der eigenen Person und der vielleicht deshalb seinen Lesern oft so nahe kommt.

Die geplanten Feiern zu seinem 85. Geburtstag entlocken ihm nur ein geduldiges Lächeln. Prüfungen nennt er sie, die es zu bestehen gilt. Wichtig ist anderes. Er schreibt an einem neuen Buch, es soll bald fertig werden, wieder eine Novelle. Das Alter bringt, sagt Lenz zwischen zwei Zügen aus der Pfeife, neben vielen Verlusten und „körperlichen Miseren“ auch Gewinne mit sich: „Gelassenheit, Deutlichkeit.“ Und mit aller Deutlichkeit weiß er, dass ihm die Arbeit am meisten bedeutet, nicht das Gefeiertwerden.

Als wolle sie das unterstreichen, trägt die Elbe in aller Ruhe noch ein zweites, diesmal viel kleineres Containerschiff an uns vorüber. Lenz folgt ihm mit den Augen, zuckt die Schultern und meint: „Das macht uns jetzt keinen Eindruck mehr.“

»Herr Lenz, was würden Sie einem jungen Schriftsteller raten, der heute zu schreiben beginnt?«

»Da leihe ich mir einen Ratschlag, den mir der englische Captain Gains kurz nach dem Krieg gab: Wann immer du glaubst, es ist Zeit zu zweifeln, dann sprich es aus«

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Buch&Bar 81: Etgar Keret “Das Sparschwein”

+++ Breaking News: Bewaffneter Überfall auf Sparschwein +++

Heute: Über die herrlichsten pädagogischen Misserfolge beim Lesen und Trinken

Etgar Keret: "Das Sparschwein". Übersetzung: Barbara Linner. Illustration: David Polonsky. Artrium Verlag. 14,99 Euro

Klar, auch ich habe unsern Kindern Gute-Nacht-Geschichten vorgelesen. Besonders beliebt, wenn auch ein klein wenig zu kurz, war Luis Murschetz’ Buch „Maulwurf Grabowski“. Während Grabowski am Ende der Geschichte in „tiefen, wonnigen Schlaf“ fällt, waren unsere Jungs oft noch ein bisschen wach. Also habe ich immer weiter- und mit ruhiger Stimme das Impressum vorgelesen: „Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1972. Diogenes Verlag AG Zürich. ISBN 978 3 257 01201 9“. Da wurden die Kinderäuglein klein und leer und schlossen sich, und ich deckte die Burschen zu.

Jetzt habe ich wieder eine perfekte Gute-Nacht-Geschichte gefunden: „Das Sparschwein“ von Etgar Keret (Atrium, 15 Euro). Allerdings sollten nicht die Eltern den Kindern, sondern die Kinder ihren Eltern das Buch abends zum Einschlafen vorlesen. Denn sie zeigt, wie oft die Kinder aus den präzise kalkulierten erzieherischen Maßnahmen der Eltern etwas ganz anderes lernen, als die Eltern beabsichtigt hatten: Ein kleiner Junge wünscht sich sehnlichst eine Bart-Simpson-Figur, der Vater schenkt ihm aber nicht die Figur, sondern ein Sparschwein, damit er sparen und sich seinen Bart-Simpson-Traum irgendwann selbst erfüllen kann. Große Pädagogik. Tatsächlich stopft der Junge Tag für Tag jede Münze, die er kriegt, ins Schwein, bis es irgendwann voll ist – und tut dan etwas, womit der Vater niemals gerechnet hätte. Und am Schluss der Geschichte schläft dann der Vater ein, und der Junge deckt ihn zu.

Da der kleine Kerl so leider nie an seiner Bart-Simpson-Figur kommt, habe ich ersatzweise einen Bart-Simpson-Cocktail auf ihn getrunken: 4 cl Wodka, 4 cl Galliano, 1 cl Vanillesirup, dazu Eis, Maracuja- und Orangensaft. Bart ist der Rebell, der Anarchist der Familie Simpson. Der Drink jedoch hat nichts Rebellisches, sondern ist so fröhlich und unbeschwert, wie Jungs es seien sollten, wenn sie ihre Väter gerade einmal nicht erziehen müssen.

 

2014 startete BUCH & BAR. Die Kolumne ist schon deshalb absolut unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.

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Buch&Bar 80: Susanne Mayer “Die Kunst, stilvoll älter zu werden”

Man ist so alt, wie man sich trinkt

Heute: Über sensationelle Abgänge beim Lesen und Trinken

Susanne Mayer: "Die Kunst, stilvoll älter zu werden. Erfahrungen aus der Vintage-Zone". Berlin Verlag, 20 Euro

Das zunehmende Alter macht den Körper nicht schöner, aber interessanter. Es wird super, super spannend, wenn man morgens nach dem Aufwachen checkt, wo es heute wehtut. Der eigene Körper als Abenteuerspielplatz: Man glaubt gar nicht, über wie viele Systeme er verfügt, die plötzlich versagen können und die man vorher gar nicht kannte. So bietet er ideale Weiterbildungschancen. „Lebenslanges lernen“ bekommt ganz neue Bedeutungsnuancen.

Als Mann hat man es mit dem Alter natürlich leichter als Frauen. Solange man nicht mit Trainingshose, Bierflasche und Feinrippunterhemd auf der Parkbank sitzt, gilt man als gut angezogen. Susanne Mayer beschreibt in „Die Kunst, stilvoll älter zu werden“ (Berlin, 20 Euro) wie viel schwieriger das für Frauen ist. All die Kleider, Cremes und Ayurveda-Kuren um die Formen zu wahren. Bewundernswert. Noch besser aber ist, was sie von der Fotografin Lisl Steiner erzählt, die schrill und grell und sehr laut keine Form wahrt, sondern mit 88 Jahren raustrompetet: „Ich werde jeden Tag primitiver.“

Fabelhaft. Ein Ziel, aufs innigste zu wünschen, wie der jung verstorbene Hamlet sagt. Und Alkohol ist, umfangreich eingesetzt, ein großartiges Mittel, beides nachdrücklich voranzutreiben, sowohl das Altern wie das Primitiverwerden. In Schottland trank ich jetzt einen zehn Jahre jungen Talisker Whisky. Ein kräftiger, rauchiger Single Malt mit gewaltigem, würzigen Abgang. Passt perfekt.

 

2014 startete BUCH & BAR. Die Kolumne ist schon deshalb absolut unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.

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Buch&Bar 79: Nele Pollatschek “Das Unglück anderer Leute”

Die liebe Familie – und wie man sie loswird

Heute: Über das zutiefst Böse beim Lesen und Trinken

Das Beste an der Literatur ist, dass man sich als Schriftsteller jeden Wunsch erfüllen kann. Zwar nicht unbedingt in finanzieller Hinsicht, da sieht’s mau aus, dafür aber in der Fantasie. Umberto Eco sagte mal, in einer bestimmten Phase seines Lebens habe er unbedingt einen Mönch umbringen wollen. Also schrieb er „Der Name der Rose“, in dem Mönche reihenweise sterben, und konnte sich danach sogar finanziell jeden Wunsch erfüllen.

Nele Pollatschek: "Das Unglück anderer Leute". Roman. Galiani Verlag. 18,99 Euro

Die junge Autorin Nele Pollatschek überträgt das Prinzip auf das Genre des Familienromans in „Das Unglück anderer Leute“ (Galiani, 18,99 Euro). Ihre ebenfalls junge Heldin Thele fühlt sich vor allem von ihrer Mutter terrorisiert. Aber genau genommen geht ihr fast die gesamte Sippschaft auf die Nerven. Also wird einer nach dem anderen blutig abgeräumt. Schließlich sogar die Heldin selbst, was für den Leser sehr befriedigend ist, denn Thele ist eine selbstgerechte Schnepfe vor dem Herrn.

Naturgemäß promoviert die Autorin Pollatschek über das Problem des Bösen in der Literatur. Ich denke, es dürfte also ganz in ihrem Sinne sein, wenn ich mich nach ihrem Buch dem Cocktail „The Evil Sour one“ gewidmet habe. Er ist kinderleicht zu mixen: Halb Applejack (amerikanischer Apfelbranntwein), halb Martini rosso. Allerdings ist Applejack derart scharf, bissig und zutiefst böse zum Gaumen, dass ich ihn lieber durch einen guten französischen Calvados ersetze, den fruchtigen, fünf Jahre alten Lecompte zum Beispiel.

 

2014 startete BUCH & BAR. Die Kolumne ist schon deshalb absolut unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.

 

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Axel Hacke “Die Tage, die ich mit Gott verbrachte”

Gespräche mit Gott am Glasmüll-Container

Vielleicht ist Axel Hacke einer der wenigen echten Volksschriftsteller, die unsere Literatur zurzeit hat. Seine Bücher werden nicht nur gelesen, sondern heftig geliebt. Heute erscheint sein neues Buch “Die Tage, die ich mit Gott verbrachte”: Eine überraschende Mixtur zwischen einer amüsante Großstadt-Abenteuerreise und einem philosophischen Spaziergang zu den zeitlosen Fragen nach Sinn und Ordnung des Daseins. Das Buch entwirft ein winziges mythologisches Welttheater. Ich traf Axel Hacke in München, um mit ihm über das Buch zu sprechen.

Mal eine ungewöhnliche Frage: Wie stellen Sie sich eine Begegnung mit Gott vor? Wolken, die sich auftun? Posaunenklang, im Hintergrund Himmels-Chöre, dann Auftritt: weiser Vater mit weißem Bart?

Axel Hacke: "Die Tage, die ich mit Gott verbrachte". Mit Bildern von Michael Sowa. Verlag Antje Kunstmann. 18 Euro

In Axel Hackes neuem Buch „Die Tage, die ich mit Gott verbrachte“ läuft das so: Ein Mann sitzt arglos auf einer Friedhofsbank. Plötzlich steht ein älterer Herr im grauen Mantel vor ihm und schubst ihn unsanft von der Bank ins Gras. Verblüfft schaut der Mann vom Boden hoch und sieht, wie genau in diesem Augenblick ein großer Globus auf den Platz kracht, auf dem er Sekunden zuvor noch saß. Um ein Haar hätte ihn das Gewicht der Welt erschlagen. Eine leichtfertige Frau hatte den Globus beim Ehestreit aus dem Fenster ihrer Wohnung geworfen – und der ältere Herr im grauen Mantel verschwindet grußlos.

Der Friedhof, von dem sich Hacke zu dieser Szene inspirieren ließ, liegt im Münchner Glockenbachviertel. Es ist ein märchenhaft stiller, romantisch versunkener Ort. Die Bank gibt es nicht, die hat Hacke sich ausgedacht, aber als wir neben dem Haus stehen bleiben, aus dem im Buch der Globus fällt, tut sich im Erdgeschoss ein Fenster auf, und ein junger Mann schaut fragend: „Sind Sie nicht Axel Hacke?“ Und als Hacke nickt, sagt er: „Sehr schöne Kolumne diese Woche, wieder sehr schön.“

Zugegeben, eine Begegnung mit Gott ist das nicht, aber immerhin eine Begegnung mit gelebtem literarischem Ruhm.

Südlicher Friedhof bei Münchens Glückenbachviertel

Es gibt nicht viele Autoren wie Axel Hacke im deutschen Literaturbetrieb. Er ist ein großer Meister der kleinen Geschichten. Seine Kolumnen im „Magazin“ der „Süddeutschen Zeitung“ werden seit Jahrzehnten nicht nur gelesen, sondern geliebt, seine Bücher zu Hunderttausenden gekauft, Gesamtauflage vier Millionen, und seine Lesungsauftritte gelten als legendär, er geht regelmäßig auf Tournee und füllt große Säle. Man kann ihn einen veritablen Volksschriftsteller nennen – was vielleicht auch deshalb ein passender Titel für ihn ist, weil ihm bislang die meisten Kritiker, Akademien oder Literaturpreis-Jurys erstaunlich zugeknöpft begegnen.

Hacke wird gern in die Schublade der komischen Autoren gesteckt. Aber genau betrachtet ist diese Einteilung zu grob. „Ich bin kein Comedian“, darauf besteht Hacke, „ich will auch keiner sein. Ich freue mich, wenn die Leute in den Lesungen lachen, Komik hat etwas Befreiendes, das ist wichtig. Aber ich lese bei meinen Auftritten immer auch Geschichten, nach denen es sehr still wird im Saal.“

Anfangs war es die Politik, die ihn zum Schreiben brachte. Sein Vater, von dem im neuen Buch oft die Rede ist, war ein verschlossener Mensch, der kaum je Gefühle zeigte. Nur sonntags früh, wenn im Fernsehenbeim „Internationalen Frühschoppen“ mit Werner Höfer über politische Fragen und Skandale gestritten wurde, brachen Emotionen aus ihm heraus. „Plötzlich war Leben in seinem Gesicht“, erzählt Hacke. „Vielleicht habe ich unbewusst nur deshalb Politik studiert und Journalist werden wollen, um irgendwann beim ,Frühschoppen’ mitzudiskutieren und meinen Vater so lebendig zu machen, wie ich ihn gern gehabt hätte.“

Doch in Höfers Runde kam er nie. Er begann im Sportressort, wurde zu einer Skiweltmeisterschaft geschickt, bei der lauter Wettkämpfe wegen Schneemangels abgesagt werden mussten, und schrieb lange, sehr komische Reportagen über ausgefallene Rennen, verzweifelte Athleten, haareraufende Funktionäre.

Hacke entdeckte damit ein Talent, von dem er gar nicht wusste, dass er es besaß. Aber dieses Talent ist eben nicht allein komischer Natur. Seine Geschichten sind ebenso witzig wie fantastisch. Sie wurzeln in der Wirklichkeit, aber sie drängen blitzschnell über die Grenzen der Wirklichkeit hinaus. Und das ist gut so. Denn unser Bewusstsein wird nicht nur von Gedanken oder Gefühlen beherrscht, sondern kaum verborgen auch von uralten Mythen und magischen Bildern – und die versteht Hacke auf moderne Weise neu zu erzählen.

So tritt bei ihm ein sprechender Kühlschrank auf, ein babysittender Saurierund ein fingergroßer König, der immer weiter schrumpft. Oder es kommt – im neuen Buch – ein 25 Zentimeter kleiner Büro-Elefant vor, dazu gigantische Wespen und Schmetterlinge oder eine ganze Welt-gesellschaft, die nur aus 23jährigen Sekretärinnen besteht, die den ganzen Tag „Guten Tag, hier ist Firma Schnabelwelt, Sie sprechen mit Cordula Müller, was kann ich für Sie tun?“ sagen. Und außerdem eben auch: Gott persönlich.

Axel Hacke als Fotoobjekt auf dem Südlichen Friedhof, München

Das klingt skurril, entwickelt aber eine eigentümliche literarische Atmosphäre und Stimmigkeit. „Die Tage, die ich mit Gott verbrachte“ ist ein doppelbödiges Buch: Man kann es sowohl als amüsante Abenteuerreise durch eine Großstadt lesen mit lauter Ausflügen ins Fantastische. Andererseits aber auch als philosophischen Spaziergang betrachten zu den zeitlosen Fragen nach Sinn und Ordnung des Daseins.Der alte, distinguierte Herr im grauen Mantel in Hackes Buch ist nicht der Gott der Christen oder anderer Religionen, sondern eher ein unglücklicher Künstler, der den Urknall angestoßen und damit unser Universum erschaffen hat, nun aber einsehen muss, wie viel ihm dabei – zumal auf Erden – missraten ist.

Der Held des Buches, der dem Autor Axel Hacke zum Verwechseln ähnlich sieht, begegnet Gott immer wieder im Glockenbachviertel. Mal steht Gott zum Beispiel am Glasmüll-Container und wirft eine leere Champagnerflasche nach der anderen hinein. Die beiden kommen ins Gespräch, wandern durch die Stadt, sprechen darüber, wie das Schlechte in die Welt kommt oder mit welcher Hartnäckigkeit die Menschen dem Sinnlosen einen Sinn zu geben versuchen, oder sie besuchen in einem alten Eisenbahn-Depot „Das Große Egal“, das Zentrum der Welt. Definitiv keine Comedy.

„In letzter Zeit“, sagt Hacke, „geschehen Dinge, die man nie für möglich gehalten hätte: Die EU ist in Gefahr auseinanderzubrechen, Nationalisten sind in fast allen Ländern Europas im Aufwind, ein Mann wie Donald Trumpist Präsidentschaftskandidat.“ Er sei nicht in der Stimmung gewesen für ein rundum heiteres Buch. Eher dafür, ein ganz grundsätzliches Thema aus sehr persönlicher Sicht anzugehen. Das konnte keine kurze, sondern musste eine für seine Verhältnisse ziemlich lange Geschichte werden, ein Langstrecken-Hacke. Denn wenn man endlich mal den trifft, der für alles, einfach alles verantwortlich ist, dann gibt es viel zu sagen.

Ein wenig erinnert das Buch an Antoine de Saint-Exupérys „Der kleine Prinz“. Es werden Traumwelten aufgeblättert und zugleich mit scheinbarer Naivität von den letzten und wichtigsten Dingen des Lebens gesprochen. Mehr als in diesem Buch hat Axel Hacke literarisch noch nie riskiert.

Als künstlerischen Begleiter auf dieser philosophischen Wanderschaft hat er sich wieder einmal den MalerMichael Sowa ausgesucht, mit dem er schon viele Bücher gemacht hat. Der Berliner Sowa ist einer der großen komischen Künstler Deutschlands. Von ihm stammen einige klassische Gemälde dieses Genres, die längst wie Sketche von Loriot zur Grundausstattung des deutschen Alltagsbewusstseins gehören: das daumengroße glückliche Schwein, das sich in einem Teller Suppe wälzt, das Schwein beim rasanten Kopfsprung in einen nächtlichen Waldsee oder der riesige, dämonische Osterhase, der österlichen Eiersammlern auflauert.

Doch auch für Sowa war dieses Buch offenbar etwas Besonderes. Auch er entwirft Bilder von seltsamer, träumerischer Magie, die über reine Illustrationen weit hinausgehen. Er platziert sie exakt auf die Grenze zwischen Komik und Ernst, Fantastik und Realismus.

Der Witz ist Axel Hacke bei dem kammerspielartigen Welttheater, das er hier ersonnen hat, nicht ausgegangen. Es gibt ein paar saustarke Pointen in dieser Geschichte. Aber alles in allem ist es eine Art moderne Mythologie. Wenn Hacke bei künftigen Auftritten daraus vorliest, wird es wieder mal still werden im Saal. Und genau so hat er es immer gewollt.

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“Volltext”-Fragebogen zu Literaturkritik

In Sarrazins Gästesessel an Schiller denken

Die Literaturzeitschrift “Volltext” schickte mir ihren Fragebogen zu zum “Geschäft der Literaturkritik heute”. Ich habe ihn ausgefüllt, “Volltext” hat ihn gedruckt, hier ist er nun online.

Was sehen Sie als die primäre Aufgabe der Literaturkritik heute?
Lassen Sie mich mit einer Geschichte antworten: Kürzlich veröffentlichte Thilo Sarrazin ein neues Buch, und ich bekam Gelegenheit ihn zu besuchen, um ein Porträt über ihn zu schreiben. (http://blog.uwe-wittstock.de/?p=1760)

Volltext Heft 2/2016

Auch wenn man Sarrazin nicht mag, muss man zugeben dass er ein belesener Mann ist. Überall im Haus wachsen Bücherregale die Wände hoch voller Literatur: Klassiker, Romane, Erzählungen. Wir sprachen über einige Autoren, wir waren nicht immer einer Meinung, aber seine literarischen Ansichten waren durchdacht und kompetent.
Dann sprachen wir über sein Buch, darüber, dass er nicht die geringste Verpflichtung dazu sieht, Flüchtlingen aus anderen Ländern in Deutschland Zuflucht zu gewähren, und mehr noch: dass er es offenkundig noch nicht einmal bedauert, Notleidende abzuweisen.
Aber wofür, fragte ich mich in Sarrazins Gästesessel, wofür all diese endlosen Bücherwände, all dieser literarische Bildungseifer, wenn dabei nichts anderes herauskommt als rhetorisch glänzend verpackte Mitleidlosigkeit? In gewisser Hinsicht erinnert Sarrazin an Alexander Gauland, den Vizechef der AfD: Auch der ein hochkultivierter, hochbelesener Konservativer mit dem moralischen Verantwortungsgefühl eines Kleiderbügels.
Einer der deutschen Klassiker, auf die sich Sarrazin und Gauland so gern berufen, hieß Friedrich Schiller. Er glaubte fest an die „ästhetische Erziehung des Menschen“, also daran, dass Kunst und Bildung die Leute nicht nur zu klugen, sondern auch zu guten, zu mitfühlenden, Anteil nehmenden Zeitgenossen machen.
Ende der Geschichte.
Was betrachte ich als die primäre Aufgabe der Literaturkritik? Schön wäre es, wenn Literaturkritik dazu beiträgt, dass Literatur diese besondere Fähigkeit entfalten kann, die Schiller an ihr zu entdecken glaubte. Tatsächlich hat die Literatur die ungewöhnliche Fähigkeit, Menschen zur Einfühlung in andere Menschen zu verführen, sie an den seelischen Vorgängen Fremder teilhaben zu lassen. Ob das ausreicht, sie zu mitfühlenden, Anteil nehmenden Zeitgenossen zu machen, wie Schiller hoffte? Ich weiß es nicht, der Besuch bei Sarrazin war ein ernüchterndes Erlebnis.

Was sind die größten Herausforderungen/Probleme für die Kritik heute?
Literatur spielte mal als gesellschaftliches Leitmedium eine große Rolle. Heute bietet es kaum noch gesellschaftliche Vorteile, Literatur zu lesen. Unter diesen Bedingungen die Aufmerksamkeit für Literatur zu erhalten, Kommunikation über Literatur herzustellen, Leser für sie zu gewinnen, zählt für mich zu den großen Herausforderungen heute. Zu den Problemen zählen sicher die schlechten Arbeitsbedingungen: Wenig Platz in Zeitungen oder Sendeanstalten, geringe Honorare für Kritiker.

Spielen literaturwissenschaftliche Theorien eine Rolle für Ihre Tätigkeit als Kritiker?
Ja, klar. Im Idealfall verfügt der Kritiker über jede literaturwissenschaftliche oder sonstige theoretische Kompetenz, die dabei hilft, das jeweilige Buch möglichst angemessen zu beurteilen und dem Leser vorzustellen. Allerdings: Es gibt nur Annäherungen an den Idealfall, erreicht wird er nie.

Welche LiteraturkritikerInnen schätzen Sie am meisten? Für welche Qualitäten?
Marcel Reich-Ranicki. Er war (und ist) der temperamentvollste und wirkmächtigste deutsche Kritiker. Hans Magnus Enzensberger ist wahrscheinlich einer der klügsten. Ulrich Weinzierl ist ein Freund, den ich für seine schier endlosen Kenntnisse und seinen eleganten Witz schätze. Volker Weidermann für seine rhetorische Verve. Christine Westermann für ihre Menschlichkeit. Volker Hage und Ulrich Greiner für ihre Genauigkeit und Kompetenz.

Wie viele Bücher muss ein Kritiker gelesen haben, um kompetent urteilen zu können? Wie viele haben Sie gelesen?
Ich habe keinen blassen Schimmer. Der Erwerb literaturkritischer Fähigkeiten steht, gebe ich zu bedenken, vermutlich nicht in direkter Relation zu Lektürequantitäten.

Wie viele Neuerscheinungen lesen Sie pro Jahr?
Im Durchschnitt eine pro Woche. In letzter Zeit mehr, da ich eine wöchentliche Kolumne füttern muss. Viele andere Bücher fange ich nur zu lesen an und höre auf, sobald ich merke, dass sie mich nicht interessieren.

Welche AutorInnen haben Ihnen mit 15 gefallen, welche schätzen Sie heute?
Reich-Ranicki hat es geliebt, solche Listen zusammenzustellen. Ich mag es nicht.

Was lesen Sie, das nichts mit dem Beruf zu tun hat?
Sobald die Zeit es zulässt, greife ich auf Klassiker zurück. Das hilft, die literaturkritischen Maßstäbe zurechtzurücken. Es ist immer wieder ein Vergnügen zu sehen, was echte Meister auf dem Papier zustande gebracht haben.

Haben Sie in Ihrer Laufbahn als Kritiker je ein Urteil grundlegend revidieren müssen?
Sobald ich in die Verlegenheit komme, alte Kritiken von mir zu lesen, werde ich skeptisch. Waren die Bücher wirklich so gut/so schlecht, wie ich damals geschrieben habe? Ich denke, Skepsis ist immer eine gute Haltung beim Lesen von Kritiken, auch der eigenen. Aber „grundlegend revidieren“ musste ich bislang keine – vielleicht deshalb, weil die Anlässe, die dazu zwingen, eine Kritik nach Jahren noch einmal eingehend zu überprüfen, selten sind.

Uwe Wittstock, geboren 1955 in Leipzig, war Literaturkritiker bei der FAZ und der Welt und ist gegenwärtig Literatur-Redakteur des Nachrichtenmagazins Focus.

Quelle: VOLLTEXT 2/2016

Online seit: 8. September 2016

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Buch&Bar 78: Greg Palast “Gern geschehen, Mr. President”

Die hohe Kunst, die Wähler einfach abzuschaffen

Heute: Über tiefe Ernüchterung beim Lesen und Trinken

Greg Palast: "Gern geschehen, Mr. President! Wie man die US-Wahl manipuliert in 10 einfachen Schritten". Illustration: Ted Rall. Übersetzung: Andreas Simon dos Santos. Verlag Haffmans & Tolkemitt. 14,95 Euro

Zu den plattesten Plattitüden gehört der Satz, Politik sei ein schmutziges Geschäft. Und falsch ist er außerdem: Politik ist nämlich vielmehr ein sauschmutziges Geschäft.

Passend zum Wahlkampf in Amerika, legt der Reporter Greg Palast jetzt seine Beweise für die Manipulation von US-Wahlen vor: „Gern geschehen, Mr. President!“ (Haffmans & Tolkemitt, 14,95 Euro). Mit allerlei Tricks werden Millionen Wähler aus den Wahlverzeichnissen gestrichen oder ihre Stimmen für ungültig erklärt, weil sie  als Latinos, Schwarze oder Immigranten traditionell mehrheitlich Kandidaten der Demokraten wählen. Bei der Wahl, die George W. Bush im Jahr 2000 nach endlosen Querelen gegen Al Gore für sich entschied, sollen auf diese Weise über vier Millionen Stimmen für ungültig erklärt worden sein, schreibt Palast. Donald Trump hat im gegenwärtigen Wahlkampf mit dem Satz „Es gibt Leute, die wählen viele, viele Male!“ bereits das Argument vorgegeben, mit dem angebliche Mehrfachwähler heimlich um ihre Stimme gebracht werden sollen.

Aber weshalb geht die Demokratische Partei gegen diesen Bertrug nicht vor? Weil sie, zeigt Palast, bei Wählerschichten, die den Republikanern zugerechnet werden, das Gleiche betreibt, wenn auch in geringerem Umfang. Ein zutiefst ernüchterndes Buch.

Apropos nüchtern. Im Rahmen der Buch-&-Bar-Kolumne wären hier natürlich Ratschläge fällig, um diesem Zustand abzuhelfen. Mir scheint das aber in diesem Fall fehl am Platz. Die Demokratie gerät auch in Old Europe mehr und mehr in Gefahr. Um sie zu bewahren, werden wir alle einen klaren Kopf brauchen. Der empfohlene Drink deshalb: kühles, reines Mineralwasser.

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