Buch&Bar 82: Christopher Ryan & Caclida Jethá

Von den scharfen Vätern lernen

Heute: Über die Fesseln der Liebe beim Lesen und Trinken

Christopher Ryan & Cacilda Jethá: "Sex. Die wahre Geschichte". Übersetzung: Birgit Herden. Mitarbeit: Ulrich Clement. Verlag Klett-Cotta. 24,95 Euro

Wer hat Mist gebaut? Die Menschen der Jungsteinzeit haben Mist gebaut! Und zwar sowas von. Anfangs waren sie noch Nomaden, hatten Mammuts gejagt, Beeren gesammelt, alles geteilt und jede Menge Spaß. Aber dann, vor 10.000 Jahren, wurden sie sesshaft, bebauten Felder, züchteten Vieh und gründeten Städte. Das war, zugegeben, der Anfang jeder Zivilisation, okay, aber es hat den Sex voll versaut.

Das schreiben Christopher Ryan und Cacilda Jethá in „Sex. Die wahre Geschichte“ (Klett-Cotta, 19,99 Euro). Denn wer sesshaft ist, will behalten, was er aus seinen Feldern herausgeschunden hat und nennt es sein Eigentum. Nichts wird mehr geteilt, schon gar nicht beim Sex. Jeder will eine eigene Frau, einen eigenen Mann. Und schon wird es im Bett langweilig, lustlos, lahm. Liebe ist kein Spaß mehr, sondern eine Arrestzelle, das spanische Wort „esposas“, so Ryan und Jethá, bedeutet sowohl „Ehefrauen“ als auch „Handschellen“.

Nun müssen, möchte ich einwenden, Handschellen beim Sex nicht zwangsläufig langweilig sein. Allerdings soll es tatsächlich schon zu Überschneidungen zwischen Monogamie und Monotonie gekommen sein. Ein guter Drink kann da der Fantasie auf die Sprünge helfen. Der Cocktail Golden Handcuffs zum Beispiel: 2 cl Wodka, 2 cl Dry Vermouth, 1 cl Dry curaçao, 1 cl Rothman & Winter Orchard Peach Liqueur und ein Spritzer Regan’s No. 6 Orange Bitters. Eine köstliche Form, an die Kette gelegt zu werden.

 

2014 startete BUCH & BAR. Die Kolumne ist schon deshalb absolut unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.

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Erinnerung an Siegfried Lenz

“Gelassenheit, Deutlichkeit”

Vor zwei Jahren, am 7. Oktober starb Siegfried Lenz. Er war einer der großen Erzähler der alten Bundesrepublik. Ich traf ihn ein letztes Mal im März 2011 in Hamburg in seiner Wohnung mit direktem Blick auf die Elbe. Es war kurz vor seinem 85. Geburtstag. Damals schrieb ich  dieses Porträt über ihn.

Das Erste, was an Siegfried Lenz auffällt, ist die Elbe. Als mächtiges graues Band schiebt sie sich hinter seinem Profil der Nordsee entgegen. Wir treffen uns tief im Westen Hamburgs, direkt am Elbufer, dort, wo der Strom das Labyrinth des Hafens hinter sich gelassen hat, nach getaner Arbeit durchzuatmen scheint und sich zu ganzer Größe streckt.

Siegfried Lenz war zeitlebens zurückhaltend mit biographischen Auskünften. Bis heute gibt es auf dem Buchmarkt nur eine Biografie des Schriftstellers. Erich Maletzke: "Siegfried Lenz. Eine biographische Annäherung". zu Klampen Verlag. eBook. 8,99 Euro

Einladend winkt mich Lenz von Weitem schon an seinen kleinen Tisch. Er steht direkt vor dem Panoramafenster, das den Strom in seiner machtvollen Schönheit zeigt. Es ist, als betrete man ein Kino, in dem nur noch ein zweiter Zuschauer sitzt: der Schattenriss eines schmächtigen Mannes mit großem Kopf und Pfeife vor dem überwältigenden Breitwandpanorama des Flusses.

Ein Auftritt, wie ihn der Erzähler Siegfried Lenz effektvoll und sinnfällig für die Hauptfigur eines Romans erfunden haben könnte. Gleich das erste Bild enthält viel von dem, was den Helden charakterisiert: die Haltung des Beobachters, die Ruhe des Pfeifenrauchers und sein Blick auf den unaufhaltsam vorandrängenden Strom der Ereignisse.

Lenz ist heute, 2011, der dienstälteste Großautor des Landes. Seine erste Geschichte schrieb er 1949, im Gründungsjahr der Bundesrepublik. Es folgten 14 Romane, rund 170 Erzählungen und dazu Essays, Reden, Theaterstücke. In 35 Sprachen wurden seine Bücher übersetzt, 30 Millionen Mal verkauft. Der bescheidene Mann am Elbufer, der fragt, ob er weiterrauchen darf oder ob das stört, ist ein Weltautor, ist Schöpfer und Herr eines literarischen Universums namens Lenz.

Worüber spricht man mit einem Weltautor? Übers Angeln. „Ich bin“, bekennt Lenz, „hoffnungslos in die Fischerei verliebt.“ Wohin auch immer er eingeladen wurde, bat er, sobald die Gastgeber nach seinen Wünschen fragten, um eine Angelrute. In Schottland, in Japan, in Neuseeland konnte er so sein Fischerglück versuchen. „Mein größter Fang? Ein Dorsch in Norwegen. 18 Pfund.“ Nachprüfbare 18 Pfund, sagt Lenz und hebt den Finger. Da ist kein Anglerlatein im Spiel: Die Beute wurde fotografiert, das Bild in einer Zeitung gedruckt.

Sein Lieblingsthema bringt den Erzähler in Schwung: Mit Ulla, seiner zweiten Frau, war er vor nicht allzu langer Zeit zum ersten Mal beim Fischen. „Sie ist Dänin und immer dem Wasser nahe gewesen, stammt aber aus einer Försterfamilie und hat nie geangelt.“ Als sie ihren ersten Fisch fing, einen Plötz, haben sie ihn gemeinsam vorsichtig an Land geholt und vom Haken gelöst. „Aber dann hat Ulla ihn nicht nur ins Wasser zurückgesetzt, nein, sie hat ihn vorher noch gestreichelt.“

Mit seiner ersten Frau Liselotte war Lenz 57 Jahre verheiratet. Sie starb 2006. „Danach glaubte ich, es geht nicht mehr weiter. Ich hatte jede Arbeitskraft, jede Imaginationskraft verloren.“ Die Furcht, nie mehr schreiben zu können, war sehr konkret. Er wäre heute, sagt er, ohne seine neue Frau nicht mehr am Leben. „Ulla hat mir enorm geholfen. Sie hat mir insbesondere geholfen, mein Buch zu Ende zu bringen, die ’Schweigeminute’.“

Der Erzähler als Verwandlungskünstler

Siegfried Lenz: "Schweigeminute". Novelle. dtv. 7,90 Euro

Mit der Novelle „Schweigeminute“ kehrte Lenz 2008 auf die Bestsellerlisten zurück. Das Buch ist kein blasses Alterswerk, sondern der Triumph eines reifen Schriftstellers, es zeigt Lenz im Vollbesitz seines Könnens.

Er gehörte nie zu den Autoren, die über sich selbst oder das eigene Seelenleben schreiben. Er war immer ein Geschichtenerfinder, der spannende, dramatisch zugespitzte Stoffe liebt. Aber wenn Lenz in „Schweigeminute“ von der Liebe eines gerade Achtzehnjährigen zu seiner Englischlehrerin erzählt, die bei einem Bootsunfall stirbt, dann schimmert doch etwas durch von der Liebe zu seiner ersten Frau, die acht Jahre älter war als er.

Wie jeder große Erzähler ist Lenz letztlich so etwas wie ein Verwandlungskünstler. Was immer ihm begegnet, was immer ihn beschäftigt: Er verwandelt es in eine Geschichte. Und seine Geschichten fangen die spezielle Atmosphäre, das besondere Aroma ihrer Zeit, so präzise ein, dass man beim Lesen glaubt, Kapitel für Kapitel der Vergangenheit der Bundesrepublik wiederzubegegnen.

Er hat eine ungeheure Zärtlichkeit, wenn er Bilder oder Gesten beschreibt, die für dieses Land wichtig sind. Er war gemeinsam mit Günter Grass dabei, als Willy Brandt 1970 auf die Knie fiel vor dem Denkmal für das Warschauer Ghetto. „Der Ort hat Brandt einfach übermannt“, sagt Lenz, „das gibt es: Selbst ein Staatsmann wie Brandt kann übermannt werden.“ Oder er spricht von dem Händedruck, mit dem Helmut Kohl und François Mitterrand 1984 auf dem Soldatenfriedhof von Douaumont die Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland bekräftigten.

So sinnlich die Kraft seiner Worte ist, so wenig Wind macht er um seine Person. Seine Wohnung wirkt schlicht, fast ein wenig karg: weiße Wände, wenige Bilder, Möbel, die ihn sicher schon seit Jahrzehnten begleiten. Da ist nichts, was den Welterfolg seiner Bücher verrät – außer dem grandiosen Blick auf die Elbe.

Hanjo Kesting: "Begegnungen mit Siegfried Lenz". Essays, Gespräche, Erinnerungen. Wallstein Verlag. 17,99 Euro

„Schauen Sie, dieses Container-Gebirge!“ Mit der Pfeife in der Hand deutet er auf einen Riesenfrachter, hochbepackt mit Containern, den die Elbe bedächtig an uns vorüberträgt. Lenz war immer ein Schriftsteller des Nordens und der Nautik. Das Wasser zog ihn an, seit er in der kleinen ostpreußischen Stadt Lyck an einem See aufwuchs. „Er bot mir alle Freuden, die ein See bieten kann: schwimmen, tauchen, im Winter Eishockey, angeln.

»Das Alter bringt Gelassenheit, Deutlichkeit«

Er bot ihm aber auch die Schrecken, die im Wasser auf einen warten können. Als Schüler brach Lenz an einem Wintertag durchs Eis. Mit viel Glück nur konnte er gerettet werden. Danach war das Leben wie einen Schritt von ihm zurückgetreten: „Ich hatte streng genommen keine Daseinsberechtigung, ich war überflüssig, entbehrlich, ein fahrlässiger Luxus.“

Vermutlich liegt hier eine Wurzel für die eigentümliche Fähigkeit des Schriftstellers Lenz, von sich selbst abzusehen. „Ich stelle mir vor“ lautet sein Arbeitsprinzip, nicht „Ich habe erlebt“. Auf dem Papier breitet er nicht seine persönlichen Befindlichkeiten aus, sondern erprobt nie gelebte Lebensmodelle. Ihm fehlt die Selbstverliebtheit, jene große Schwäche vieler anderer Autoren. Er ist ein Erzähler, der sich freimachen kann von der eigenen Person und der vielleicht deshalb seinen Lesern oft so nahe kommt.

Die geplanten Feiern zu seinem 85. Geburtstag entlocken ihm nur ein geduldiges Lächeln. Prüfungen nennt er sie, die es zu bestehen gilt. Wichtig ist anderes. Er schreibt an einem neuen Buch, es soll bald fertig werden, wieder eine Novelle. Das Alter bringt, sagt Lenz zwischen zwei Zügen aus der Pfeife, neben vielen Verlusten und „körperlichen Miseren“ auch Gewinne mit sich: „Gelassenheit, Deutlichkeit.“ Und mit aller Deutlichkeit weiß er, dass ihm die Arbeit am meisten bedeutet, nicht das Gefeiertwerden.

Als wolle sie das unterstreichen, trägt die Elbe in aller Ruhe noch ein zweites, diesmal viel kleineres Containerschiff an uns vorüber. Lenz folgt ihm mit den Augen, zuckt die Schultern und meint: „Das macht uns jetzt keinen Eindruck mehr.“

»Herr Lenz, was würden Sie einem jungen Schriftsteller raten, der heute zu schreiben beginnt?«

»Da leihe ich mir einen Ratschlag, den mir der englische Captain Gains kurz nach dem Krieg gab: Wann immer du glaubst, es ist Zeit zu zweifeln, dann sprich es aus«

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Buch&Bar 81: Etgar Keret “Das Sparschwein”

+++ Breaking News: Bewaffneter Überfall auf Sparschwein +++

Heute: Über die herrlichsten pädagogischen Misserfolge beim Lesen und Trinken

Etgar Keret: "Das Sparschwein". Übersetzung: Barbara Linner. Illustration: David Polonsky. Artrium Verlag. 14,99 Euro

Klar, auch ich habe unsern Kindern Gute-Nacht-Geschichten vorgelesen. Besonders beliebt, wenn auch ein klein wenig zu kurz, war Luis Murschetz’ Buch „Maulwurf Grabowski“. Während Grabowski am Ende der Geschichte in „tiefen, wonnigen Schlaf“ fällt, waren unsere Jungs oft noch ein bisschen wach. Also habe ich immer weiter- und mit ruhiger Stimme das Impressum vorgelesen: „Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1972. Diogenes Verlag AG Zürich. ISBN 978 3 257 01201 9“. Da wurden die Kinderäuglein klein und leer und schlossen sich, und ich deckte die Burschen zu.

Jetzt habe ich wieder eine perfekte Gute-Nacht-Geschichte gefunden: „Das Sparschwein“ von Etgar Keret (Atrium, 15 Euro). Allerdings sollten nicht die Eltern den Kindern, sondern die Kinder ihren Eltern das Buch abends zum Einschlafen vorlesen. Denn sie zeigt, wie oft die Kinder aus den präzise kalkulierten erzieherischen Maßnahmen der Eltern etwas ganz anderes lernen, als die Eltern beabsichtigt hatten: Ein kleiner Junge wünscht sich sehnlichst eine Bart-Simpson-Figur, der Vater schenkt ihm aber nicht die Figur, sondern ein Sparschwein, damit er sparen und sich seinen Bart-Simpson-Traum irgendwann selbst erfüllen kann. Große Pädagogik. Tatsächlich stopft der Junge Tag für Tag jede Münze, die er kriegt, ins Schwein, bis es irgendwann voll ist – und tut dan etwas, womit der Vater niemals gerechnet hätte. Und am Schluss der Geschichte schläft dann der Vater ein, und der Junge deckt ihn zu.

Da der kleine Kerl so leider nie an seiner Bart-Simpson-Figur kommt, habe ich ersatzweise einen Bart-Simpson-Cocktail auf ihn getrunken: 4 cl Wodka, 4 cl Galliano, 1 cl Vanillesirup, dazu Eis, Maracuja- und Orangensaft. Bart ist der Rebell, der Anarchist der Familie Simpson. Der Drink jedoch hat nichts Rebellisches, sondern ist so fröhlich und unbeschwert, wie Jungs es seien sollten, wenn sie ihre Väter gerade einmal nicht erziehen müssen.

 

2014 startete BUCH & BAR. Die Kolumne ist schon deshalb absolut unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.

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Buch&Bar 80: Susanne Mayer “Die Kunst, stilvoll älter zu werden”

Man ist so alt, wie man sich trinkt

Heute: Über sensationelle Abgänge beim Lesen und Trinken

Susanne Mayer: "Die Kunst, stilvoll älter zu werden. Erfahrungen aus der Vintage-Zone". Berlin Verlag, 20 Euro

Das zunehmende Alter macht den Körper nicht schöner, aber interessanter. Es wird super, super spannend, wenn man morgens nach dem Aufwachen checkt, wo es heute wehtut. Der eigene Körper als Abenteuerspielplatz: Man glaubt gar nicht, über wie viele Systeme er verfügt, die plötzlich versagen können und die man vorher gar nicht kannte. So bietet er ideale Weiterbildungschancen. „Lebenslanges lernen“ bekommt ganz neue Bedeutungsnuancen.

Als Mann hat man es mit dem Alter natürlich leichter als Frauen. Solange man nicht mit Trainingshose, Bierflasche und Feinrippunterhemd auf der Parkbank sitzt, gilt man als gut angezogen. Susanne Mayer beschreibt in „Die Kunst, stilvoll älter zu werden“ (Berlin, 20 Euro) wie viel schwieriger das für Frauen ist. All die Kleider, Cremes und Ayurveda-Kuren um die Formen zu wahren. Bewundernswert. Noch besser aber ist, was sie von der Fotografin Lisl Steiner erzählt, die schrill und grell und sehr laut keine Form wahrt, sondern mit 88 Jahren raustrompetet: „Ich werde jeden Tag primitiver.“

Fabelhaft. Ein Ziel, aufs innigste zu wünschen, wie der jung verstorbene Hamlet sagt. Und Alkohol ist, umfangreich eingesetzt, ein großartiges Mittel, beides nachdrücklich voranzutreiben, sowohl das Altern wie das Primitiverwerden. In Schottland trank ich jetzt einen zehn Jahre jungen Talisker Whisky. Ein kräftiger, rauchiger Single Malt mit gewaltigem, würzigen Abgang. Passt perfekt.

 

2014 startete BUCH & BAR. Die Kolumne ist schon deshalb absolut unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.

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Buch&Bar 79: Nele Pollatschek “Das Unglück anderer Leute”

Die liebe Familie – und wie man sie loswird

Heute: Über das zutiefst Böse beim Lesen und Trinken

Das Beste an der Literatur ist, dass man sich als Schriftsteller jeden Wunsch erfüllen kann. Zwar nicht unbedingt in finanzieller Hinsicht, da sieht’s mau aus, dafür aber in der Fantasie. Umberto Eco sagte mal, in einer bestimmten Phase seines Lebens habe er unbedingt einen Mönch umbringen wollen. Also schrieb er „Der Name der Rose“, in dem Mönche reihenweise sterben, und konnte sich danach sogar finanziell jeden Wunsch erfüllen.

Nele Pollatschek: "Das Unglück anderer Leute". Roman. Galiani Verlag. 18,99 Euro

Die junge Autorin Nele Pollatschek überträgt das Prinzip auf das Genre des Familienromans in „Das Unglück anderer Leute“ (Galiani, 18,99 Euro). Ihre ebenfalls junge Heldin Thele fühlt sich vor allem von ihrer Mutter terrorisiert. Aber genau genommen geht ihr fast die gesamte Sippschaft auf die Nerven. Also wird einer nach dem anderen blutig abgeräumt. Schließlich sogar die Heldin selbst, was für den Leser sehr befriedigend ist, denn Thele ist eine selbstgerechte Schnepfe vor dem Herrn.

Naturgemäß promoviert die Autorin Pollatschek über das Problem des Bösen in der Literatur. Ich denke, es dürfte also ganz in ihrem Sinne sein, wenn ich mich nach ihrem Buch dem Cocktail „The Evil Sour one“ gewidmet habe. Er ist kinderleicht zu mixen: Halb Applejack (amerikanischer Apfelbranntwein), halb Martini rosso. Allerdings ist Applejack derart scharf, bissig und zutiefst böse zum Gaumen, dass ich ihn lieber durch einen guten französischen Calvados ersetze, den fruchtigen, fünf Jahre alten Lecompte zum Beispiel.

 

2014 startete BUCH & BAR. Die Kolumne ist schon deshalb absolut unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.

 

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Axel Hacke “Die Tage, die ich mit Gott verbrachte”

Gespräche mit Gott am Glasmüll-Container

Vielleicht ist Axel Hacke einer der wenigen echten Volksschriftsteller, die unsere Literatur zurzeit hat. Seine Bücher werden nicht nur gelesen, sondern heftig geliebt. Heute erscheint sein neues Buch “Die Tage, die ich mit Gott verbrachte”: Eine überraschende Mixtur zwischen einer amüsante Großstadt-Abenteuerreise und einem philosophischen Spaziergang zu den zeitlosen Fragen nach Sinn und Ordnung des Daseins. Das Buch entwirft ein winziges mythologisches Welttheater. Ich traf Axel Hacke in München, um mit ihm über das Buch zu sprechen.

Mal eine ungewöhnliche Frage: Wie stellen Sie sich eine Begegnung mit Gott vor? Wolken, die sich auftun? Posaunenklang, im Hintergrund Himmels-Chöre, dann Auftritt: weiser Vater mit weißem Bart?

Axel Hacke: "Die Tage, die ich mit Gott verbrachte". Mit Bildern von Michael Sowa. Verlag Antje Kunstmann. 18 Euro

In Axel Hackes neuem Buch „Die Tage, die ich mit Gott verbrachte“ läuft das so: Ein Mann sitzt arglos auf einer Friedhofsbank. Plötzlich steht ein älterer Herr im grauen Mantel vor ihm und schubst ihn unsanft von der Bank ins Gras. Verblüfft schaut der Mann vom Boden hoch und sieht, wie genau in diesem Augenblick ein großer Globus auf den Platz kracht, auf dem er Sekunden zuvor noch saß. Um ein Haar hätte ihn das Gewicht der Welt erschlagen. Eine leichtfertige Frau hatte den Globus beim Ehestreit aus dem Fenster ihrer Wohnung geworfen – und der ältere Herr im grauen Mantel verschwindet grußlos.

Der Friedhof, von dem sich Hacke zu dieser Szene inspirieren ließ, liegt im Münchner Glockenbachviertel. Es ist ein märchenhaft stiller, romantisch versunkener Ort. Die Bank gibt es nicht, die hat Hacke sich ausgedacht, aber als wir neben dem Haus stehen bleiben, aus dem im Buch der Globus fällt, tut sich im Erdgeschoss ein Fenster auf, und ein junger Mann schaut fragend: „Sind Sie nicht Axel Hacke?“ Und als Hacke nickt, sagt er: „Sehr schöne Kolumne diese Woche, wieder sehr schön.“

Zugegeben, eine Begegnung mit Gott ist das nicht, aber immerhin eine Begegnung mit gelebtem literarischem Ruhm.

Südlicher Friedhof bei Münchens Glückenbachviertel

Es gibt nicht viele Autoren wie Axel Hacke im deutschen Literaturbetrieb. Er ist ein großer Meister der kleinen Geschichten. Seine Kolumnen im „Magazin“ der „Süddeutschen Zeitung“ werden seit Jahrzehnten nicht nur gelesen, sondern geliebt, seine Bücher zu Hunderttausenden gekauft, Gesamtauflage vier Millionen, und seine Lesungsauftritte gelten als legendär, er geht regelmäßig auf Tournee und füllt große Säle. Man kann ihn einen veritablen Volksschriftsteller nennen – was vielleicht auch deshalb ein passender Titel für ihn ist, weil ihm bislang die meisten Kritiker, Akademien oder Literaturpreis-Jurys erstaunlich zugeknöpft begegnen.

Hacke wird gern in die Schublade der komischen Autoren gesteckt. Aber genau betrachtet ist diese Einteilung zu grob. „Ich bin kein Comedian“, darauf besteht Hacke, „ich will auch keiner sein. Ich freue mich, wenn die Leute in den Lesungen lachen, Komik hat etwas Befreiendes, das ist wichtig. Aber ich lese bei meinen Auftritten immer auch Geschichten, nach denen es sehr still wird im Saal.“

Anfangs war es die Politik, die ihn zum Schreiben brachte. Sein Vater, von dem im neuen Buch oft die Rede ist, war ein verschlossener Mensch, der kaum je Gefühle zeigte. Nur sonntags früh, wenn im Fernsehenbeim „Internationalen Frühschoppen“ mit Werner Höfer über politische Fragen und Skandale gestritten wurde, brachen Emotionen aus ihm heraus. „Plötzlich war Leben in seinem Gesicht“, erzählt Hacke. „Vielleicht habe ich unbewusst nur deshalb Politik studiert und Journalist werden wollen, um irgendwann beim ,Frühschoppen’ mitzudiskutieren und meinen Vater so lebendig zu machen, wie ich ihn gern gehabt hätte.“

Doch in Höfers Runde kam er nie. Er begann im Sportressort, wurde zu einer Skiweltmeisterschaft geschickt, bei der lauter Wettkämpfe wegen Schneemangels abgesagt werden mussten, und schrieb lange, sehr komische Reportagen über ausgefallene Rennen, verzweifelte Athleten, haareraufende Funktionäre.

Hacke entdeckte damit ein Talent, von dem er gar nicht wusste, dass er es besaß. Aber dieses Talent ist eben nicht allein komischer Natur. Seine Geschichten sind ebenso witzig wie fantastisch. Sie wurzeln in der Wirklichkeit, aber sie drängen blitzschnell über die Grenzen der Wirklichkeit hinaus. Und das ist gut so. Denn unser Bewusstsein wird nicht nur von Gedanken oder Gefühlen beherrscht, sondern kaum verborgen auch von uralten Mythen und magischen Bildern – und die versteht Hacke auf moderne Weise neu zu erzählen.

So tritt bei ihm ein sprechender Kühlschrank auf, ein babysittender Saurierund ein fingergroßer König, der immer weiter schrumpft. Oder es kommt – im neuen Buch – ein 25 Zentimeter kleiner Büro-Elefant vor, dazu gigantische Wespen und Schmetterlinge oder eine ganze Welt-gesellschaft, die nur aus 23jährigen Sekretärinnen besteht, die den ganzen Tag „Guten Tag, hier ist Firma Schnabelwelt, Sie sprechen mit Cordula Müller, was kann ich für Sie tun?“ sagen. Und außerdem eben auch: Gott persönlich.

Axel Hacke als Fotoobjekt auf dem Südlichen Friedhof, München

Das klingt skurril, entwickelt aber eine eigentümliche literarische Atmosphäre und Stimmigkeit. „Die Tage, die ich mit Gott verbrachte“ ist ein doppelbödiges Buch: Man kann es sowohl als amüsante Abenteuerreise durch eine Großstadt lesen mit lauter Ausflügen ins Fantastische. Andererseits aber auch als philosophischen Spaziergang betrachten zu den zeitlosen Fragen nach Sinn und Ordnung des Daseins.Der alte, distinguierte Herr im grauen Mantel in Hackes Buch ist nicht der Gott der Christen oder anderer Religionen, sondern eher ein unglücklicher Künstler, der den Urknall angestoßen und damit unser Universum erschaffen hat, nun aber einsehen muss, wie viel ihm dabei – zumal auf Erden – missraten ist.

Der Held des Buches, der dem Autor Axel Hacke zum Verwechseln ähnlich sieht, begegnet Gott immer wieder im Glockenbachviertel. Mal steht Gott zum Beispiel am Glasmüll-Container und wirft eine leere Champagnerflasche nach der anderen hinein. Die beiden kommen ins Gespräch, wandern durch die Stadt, sprechen darüber, wie das Schlechte in die Welt kommt oder mit welcher Hartnäckigkeit die Menschen dem Sinnlosen einen Sinn zu geben versuchen, oder sie besuchen in einem alten Eisenbahn-Depot „Das Große Egal“, das Zentrum der Welt. Definitiv keine Comedy.

„In letzter Zeit“, sagt Hacke, „geschehen Dinge, die man nie für möglich gehalten hätte: Die EU ist in Gefahr auseinanderzubrechen, Nationalisten sind in fast allen Ländern Europas im Aufwind, ein Mann wie Donald Trumpist Präsidentschaftskandidat.“ Er sei nicht in der Stimmung gewesen für ein rundum heiteres Buch. Eher dafür, ein ganz grundsätzliches Thema aus sehr persönlicher Sicht anzugehen. Das konnte keine kurze, sondern musste eine für seine Verhältnisse ziemlich lange Geschichte werden, ein Langstrecken-Hacke. Denn wenn man endlich mal den trifft, der für alles, einfach alles verantwortlich ist, dann gibt es viel zu sagen.

Ein wenig erinnert das Buch an Antoine de Saint-Exupérys „Der kleine Prinz“. Es werden Traumwelten aufgeblättert und zugleich mit scheinbarer Naivität von den letzten und wichtigsten Dingen des Lebens gesprochen. Mehr als in diesem Buch hat Axel Hacke literarisch noch nie riskiert.

Als künstlerischen Begleiter auf dieser philosophischen Wanderschaft hat er sich wieder einmal den MalerMichael Sowa ausgesucht, mit dem er schon viele Bücher gemacht hat. Der Berliner Sowa ist einer der großen komischen Künstler Deutschlands. Von ihm stammen einige klassische Gemälde dieses Genres, die längst wie Sketche von Loriot zur Grundausstattung des deutschen Alltagsbewusstseins gehören: das daumengroße glückliche Schwein, das sich in einem Teller Suppe wälzt, das Schwein beim rasanten Kopfsprung in einen nächtlichen Waldsee oder der riesige, dämonische Osterhase, der österlichen Eiersammlern auflauert.

Doch auch für Sowa war dieses Buch offenbar etwas Besonderes. Auch er entwirft Bilder von seltsamer, träumerischer Magie, die über reine Illustrationen weit hinausgehen. Er platziert sie exakt auf die Grenze zwischen Komik und Ernst, Fantastik und Realismus.

Der Witz ist Axel Hacke bei dem kammerspielartigen Welttheater, das er hier ersonnen hat, nicht ausgegangen. Es gibt ein paar saustarke Pointen in dieser Geschichte. Aber alles in allem ist es eine Art moderne Mythologie. Wenn Hacke bei künftigen Auftritten daraus vorliest, wird es wieder mal still werden im Saal. Und genau so hat er es immer gewollt.

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“Volltext”-Fragebogen zu Literaturkritik

In Sarrazins Gästesessel an Schiller denken

Die Literaturzeitschrift “Volltext” schickte mir ihren Fragebogen zu zum “Geschäft der Literaturkritik heute”. Ich habe ihn ausgefüllt, “Volltext” hat ihn gedruckt, hier ist er nun online.

Was sehen Sie als die primäre Aufgabe der Literaturkritik heute?
Lassen Sie mich mit einer Geschichte antworten: Kürzlich veröffentlichte Thilo Sarrazin ein neues Buch, und ich bekam Gelegenheit ihn zu besuchen, um ein Porträt über ihn zu schreiben. (http://blog.uwe-wittstock.de/?p=1760)

Volltext Heft 2/2016

Auch wenn man Sarrazin nicht mag, muss man zugeben dass er ein belesener Mann ist. Überall im Haus wachsen Bücherregale die Wände hoch voller Literatur: Klassiker, Romane, Erzählungen. Wir sprachen über einige Autoren, wir waren nicht immer einer Meinung, aber seine literarischen Ansichten waren durchdacht und kompetent.
Dann sprachen wir über sein Buch, darüber, dass er nicht die geringste Verpflichtung dazu sieht, Flüchtlingen aus anderen Ländern in Deutschland Zuflucht zu gewähren, und mehr noch: dass er es offenkundig noch nicht einmal bedauert, Notleidende abzuweisen.
Aber wofür, fragte ich mich in Sarrazins Gästesessel, wofür all diese endlosen Bücherwände, all dieser literarische Bildungseifer, wenn dabei nichts anderes herauskommt als rhetorisch glänzend verpackte Mitleidlosigkeit? In gewisser Hinsicht erinnert Sarrazin an Alexander Gauland, den Vizechef der AfD: Auch der ein hochkultivierter, hochbelesener Konservativer mit dem moralischen Verantwortungsgefühl eines Kleiderbügels.
Einer der deutschen Klassiker, auf die sich Sarrazin und Gauland so gern berufen, hieß Friedrich Schiller. Er glaubte fest an die „ästhetische Erziehung des Menschen“, also daran, dass Kunst und Bildung die Leute nicht nur zu klugen, sondern auch zu guten, zu mitfühlenden, Anteil nehmenden Zeitgenossen machen.
Ende der Geschichte.
Was betrachte ich als die primäre Aufgabe der Literaturkritik? Schön wäre es, wenn Literaturkritik dazu beiträgt, dass Literatur diese besondere Fähigkeit entfalten kann, die Schiller an ihr zu entdecken glaubte. Tatsächlich hat die Literatur die ungewöhnliche Fähigkeit, Menschen zur Einfühlung in andere Menschen zu verführen, sie an den seelischen Vorgängen Fremder teilhaben zu lassen. Ob das ausreicht, sie zu mitfühlenden, Anteil nehmenden Zeitgenossen zu machen, wie Schiller hoffte? Ich weiß es nicht, der Besuch bei Sarrazin war ein ernüchterndes Erlebnis.

Was sind die größten Herausforderungen/Probleme für die Kritik heute?
Literatur spielte mal als gesellschaftliches Leitmedium eine große Rolle. Heute bietet es kaum noch gesellschaftliche Vorteile, Literatur zu lesen. Unter diesen Bedingungen die Aufmerksamkeit für Literatur zu erhalten, Kommunikation über Literatur herzustellen, Leser für sie zu gewinnen, zählt für mich zu den großen Herausforderungen heute. Zu den Problemen zählen sicher die schlechten Arbeitsbedingungen: Wenig Platz in Zeitungen oder Sendeanstalten, geringe Honorare für Kritiker.

Spielen literaturwissenschaftliche Theorien eine Rolle für Ihre Tätigkeit als Kritiker?
Ja, klar. Im Idealfall verfügt der Kritiker über jede literaturwissenschaftliche oder sonstige theoretische Kompetenz, die dabei hilft, das jeweilige Buch möglichst angemessen zu beurteilen und dem Leser vorzustellen. Allerdings: Es gibt nur Annäherungen an den Idealfall, erreicht wird er nie.

Welche LiteraturkritikerInnen schätzen Sie am meisten? Für welche Qualitäten?
Marcel Reich-Ranicki. Er war (und ist) der temperamentvollste und wirkmächtigste deutsche Kritiker. Hans Magnus Enzensberger ist wahrscheinlich einer der klügsten. Ulrich Weinzierl ist ein Freund, den ich für seine schier endlosen Kenntnisse und seinen eleganten Witz schätze. Volker Weidermann für seine rhetorische Verve. Christine Westermann für ihre Menschlichkeit. Volker Hage und Ulrich Greiner für ihre Genauigkeit und Kompetenz.

Wie viele Bücher muss ein Kritiker gelesen haben, um kompetent urteilen zu können? Wie viele haben Sie gelesen?
Ich habe keinen blassen Schimmer. Der Erwerb literaturkritischer Fähigkeiten steht, gebe ich zu bedenken, vermutlich nicht in direkter Relation zu Lektürequantitäten.

Wie viele Neuerscheinungen lesen Sie pro Jahr?
Im Durchschnitt eine pro Woche. In letzter Zeit mehr, da ich eine wöchentliche Kolumne füttern muss. Viele andere Bücher fange ich nur zu lesen an und höre auf, sobald ich merke, dass sie mich nicht interessieren.

Welche AutorInnen haben Ihnen mit 15 gefallen, welche schätzen Sie heute?
Reich-Ranicki hat es geliebt, solche Listen zusammenzustellen. Ich mag es nicht.

Was lesen Sie, das nichts mit dem Beruf zu tun hat?
Sobald die Zeit es zulässt, greife ich auf Klassiker zurück. Das hilft, die literaturkritischen Maßstäbe zurechtzurücken. Es ist immer wieder ein Vergnügen zu sehen, was echte Meister auf dem Papier zustande gebracht haben.

Haben Sie in Ihrer Laufbahn als Kritiker je ein Urteil grundlegend revidieren müssen?
Sobald ich in die Verlegenheit komme, alte Kritiken von mir zu lesen, werde ich skeptisch. Waren die Bücher wirklich so gut/so schlecht, wie ich damals geschrieben habe? Ich denke, Skepsis ist immer eine gute Haltung beim Lesen von Kritiken, auch der eigenen. Aber „grundlegend revidieren“ musste ich bislang keine – vielleicht deshalb, weil die Anlässe, die dazu zwingen, eine Kritik nach Jahren noch einmal eingehend zu überprüfen, selten sind.

Uwe Wittstock, geboren 1955 in Leipzig, war Literaturkritiker bei der FAZ und der Welt und ist gegenwärtig Literatur-Redakteur des Nachrichtenmagazins Focus.

Quelle: VOLLTEXT 2/2016

Online seit: 8. September 2016

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Buch&Bar 78: Greg Palast “Gern geschehen, Mr. President”

Die hohe Kunst, die Wähler einfach abzuschaffen

Heute: Über tiefe Ernüchterung beim Lesen und Trinken

Greg Palast: "Gern geschehen, Mr. President! Wie man die US-Wahl manipuliert in 10 einfachen Schritten". Illustration: Ted Rall. Übersetzung: Andreas Simon dos Santos. Verlag Haffmans & Tolkemitt. 14,95 Euro

Zu den plattesten Plattitüden gehört der Satz, Politik sei ein schmutziges Geschäft. Und falsch ist er außerdem: Politik ist nämlich vielmehr ein sauschmutziges Geschäft.

Passend zum Wahlkampf in Amerika, legt der Reporter Greg Palast jetzt seine Beweise für die Manipulation von US-Wahlen vor: „Gern geschehen, Mr. President!“ (Haffmans & Tolkemitt, 14,95 Euro). Mit allerlei Tricks werden Millionen Wähler aus den Wahlverzeichnissen gestrichen oder ihre Stimmen für ungültig erklärt, weil sie  als Latinos, Schwarze oder Immigranten traditionell mehrheitlich Kandidaten der Demokraten wählen. Bei der Wahl, die George W. Bush im Jahr 2000 nach endlosen Querelen gegen Al Gore für sich entschied, sollen auf diese Weise über vier Millionen Stimmen für ungültig erklärt worden sein, schreibt Palast. Donald Trump hat im gegenwärtigen Wahlkampf mit dem Satz „Es gibt Leute, die wählen viele, viele Male!“ bereits das Argument vorgegeben, mit dem angebliche Mehrfachwähler heimlich um ihre Stimme gebracht werden sollen.

Aber weshalb geht die Demokratische Partei gegen diesen Bertrug nicht vor? Weil sie, zeigt Palast, bei Wählerschichten, die den Republikanern zugerechnet werden, das Gleiche betreibt, wenn auch in geringerem Umfang. Ein zutiefst ernüchterndes Buch.

Apropos nüchtern. Im Rahmen der Buch-&-Bar-Kolumne wären hier natürlich Ratschläge fällig, um diesem Zustand abzuhelfen. Mir scheint das aber in diesem Fall fehl am Platz. Die Demokratie gerät auch in Old Europe mehr und mehr in Gefahr. Um sie zu bewahren, werden wir alle einen klaren Kopf brauchen. Der empfohlene Drink deshalb: kühles, reines Mineralwasser.

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Paul Murray: “Der gute Banker”

Die böse, bissige, burleske Euro-Komödie

Die europäische Finanzkrise hat Stoff für Tausende von Tragödien geliefert. Der irische Schriftsteller Paul Murray hat sie einen ebenso klugen wie komischen Roman verwandelt: “Der gute Banker”. Ich traf Murray in Dublin in einem der berühmtesten Pubs der Stadt und sprach mit ihm über seinen Roman.

John Mulligan's, Dublin

Sie haben Irland verkauft“, sagt Paul Murray, „das ganze Land. Gleich zweimal.“ Wir stehen im „Mulligan’s“, einem der berühmten Pubs von Dublin. Aber Murray ist stocknüchtern, er hat weder Guinness noch Whiskey getrunken, nur Kaffee. Er schreit, flucht oder schimpft nicht, sondern redet ruhig und sachlich, und vieles spricht dafür, dass Murray Recht hat: „Sie haben Irland verkauft.“

„Mulligan’s“ liegt nicht in Dublins Touristenviertel Temple Bar, sondern in einer schäbigen, DDRgrauen Nebenstraße, die tatsächlich so aussieht, als wäre das Land zum Dumpingpreis zu haben. „Mulligan’s“ ist älter als die Französische Revolution. Generationen irischer Schriftsteller und Journalisten haben hier getrunken, geraucht und schwadroniert. Die Redaktionen lagen gleich um die Ecke. James Joyce soll hier Notizen für „Ulysses“ gemacht haben, Nobelpreisträger Seamus Heaney für seine Gedichte.

Mulligan's at 8 Poolbeg Street, Dublin

Doch die Geschichte, die Murray in seinem Roman „Der gute Banker“ erzählt, klingt noch fantastischer, noch extremer als die seiner Vorgänger. Dabei hat Murray sie nicht frei herbeifabuliert, sondern nach dem realen Vorbild der Bankenkrise in Irland entworfen, deren Ausmaß in Europa einmalig ist: „Es gab allerdings ein Problem. Manche Leute, die damals am Ruder waren, benahmen sich so bizarr, so übel, dass sie selbst als Romanfiguren unglaubwürdig wirken. Ich musste sie harmloser schildern, als sie wirklich waren, damit die Leser sie mir abnehmen.“

Aber das Buch ist nicht nur in vielen seiner Eckdaten wahr, es ist zugleich auch voller Witz. Murray hat das erstaunliche Kunststück vollbracht, aus der Krise eine Komödie zu machen.

Sein Held ist Claude, ein schüchterner Franzose, der in Dublin für eine fiktive Investmentbank arbeitet. Er lernt den irischen Schriftsteller Paul kennen, der sich bei ihm einschmeichelt und vorgibt, über ihn als Jedermann der globalisierten Finanzwelt einen Roman schreiben zu wollen. Bald stellt sich aber heraus, dass Paul als Autor längst gescheitert ist und in Wahrheit den Safe von Claudes Bank ausräumen will. Bis Claude ihm klarmacht, dass es in einer Investmentbank gar keinen Safe gibt.

Paul Murray: "Der gute Banker". Roman. Übersetzung: Wolfgang Müller. Kunstmann Verlag, 25 Euro

Woraufhin Paul sich nach anderen Erwerbsquellen umschaut, vom Geschäft mit hanebüchenen Websites bis zum Kunstraub – und Claude jedes Mal in seine Wahnsinnsprojekte verstrickt. Bis es Claude endlich gelingt, ihn wieder an den Schreibtisch zurückzubugsieren, eine neue Romanidee vor Augen.

Parallel zu diesen kleinkriminellen Abenteuern erlebt Claude einen großkriminellen Banken-Thriller von historischem Ausmaß. Im Spätsommer 2008 geriet die Anglo Irish Bank – in Murrays Roman heißt sie Royal Irish – ins Trudeln, nachdem sie jahrelang völlig verantwortungslos Immobilienkredite unters Volk gebracht hatte.

Manager der Bank spiegelten der irischen Regierung durch haarsträubende Manipulationen vor, ihr Haus sei systemrelevant und mit einer Finanzspritze von sieben Milliarden Euro zu retten. Am Ende kostete es die irischen Steuerzahler jedoch über 30 Milliarden, rund ein Siebtel des gesamten Bruttoinlandsprodukts, was das kleine Land fast im Alleingang in den Ruin trieb.

Trotzdem wurden die Verantwortlichen Jahre später nur zu lächerlich geringen Haft- oder Bewährungsstrafen zwischen zwei und dreieinhalb Jahren verurteilt, wenn nicht gar freigesprochen. Denn die Richter stellten fest, die Kontrollen der irischen Bankenaufsicht seien in jenen Jahren so miserabel und unfähig gewesen, dass es nicht möglich sei, den Managern die Schuld für die Bankenpleite allein zuzurechnen.

„Sie müssen das verstehen“, sagt Murray, „Irland war immer arm: wenig Bodenschätze, keine Industrie, schlechtes Farmland. Als der Bankenboom in den 90er-Jahren begann, sah Irland seine Chance gekommen und wollte einen Teil vom Kuchen abhaben.“ Das Land liberalisierte das Finanzgeschäft radikal, bis es nahezu keine Kontrollen mehr gab. Heute gilt Irland als Offshore-Steuerparadies, in dem sich aus guten Gründen die Hälfte der 50 Top-Banken und die Hälfte der 20 Top-Versicherungen der Welt niedergelassen haben.

Mulligan's Pub

„Damit wurde“, so Murray, „das Land symbolisch zum ersten Mal verkauft. An die Hedgefonds, an die Investmentbanken, die hier tun können, was sie wollen. Und sie tun es, glauben Sie mir.“ Im Jahr 2015 zum Beispiel explodierte das Bruttoinlandsprodukt Irlands plötzlich um astronomische 26,3 Prozent. Deutschland verzeichnete im gleichen Jahr 1,7 Prozent. Wegen der niedrigen Unternehmenssteuer verlegen multinationale Unternehmen ihren Sitz rechtlich nach Irland, „auch wenn sie nur ein Firmenschild an die Tür eines leeren Büros kleben“.

Für die Iren springt dabei nahezu nichts heraus. „Im Gegenteil, sie werden oft noch ärmer“, sagt Murray. „Jetzt wird das Land zum zweiten Mal verkauft, und diesmal buchstäblich. Hausbesitzer, die ihre Kreditenicht bezahlen können, fliegen raus, und ihre Grundstücke gehen an ausländische Investoren.“

Das ist der Stoff für Tausende von Tragödien. Doch nach bewährter irischer Tradition hat Paul Murray ihn in eine böse, bissige, burleske Komödie verwandelt. Ein Buch voller überraschender Wendungen, Spott und lebenskluger Ironie. Die Iren waren, sagt er, über Jahrhunderte ein kolonisiertes Volk, erst 1922 konnten sie ihre Freiheit von den Briten erkämpfen. Vielleicht sind die Banken Irlands neue Kolonialherren. Und die in Grund und Boden zu lachen gehört zu den ältesten irischen Überlebensstrategien.

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Martin Mosebach: “Mogador”

In der Stadt der Dämonen

Martin Mosebach erlebt für seine Romane ebenso hohe Anerkennung wie rabiate Anfeindungen. Er ist notorisch umstritten, schon weil er sich selbst gern einen Reaktionär nennen. Daran wird sich auch mit seinem neuen Roman “Mogador” nichts ändern: Es geht darin um einen Bankmanager auf der Flucht, eine Bordellmutter mit besten Kontakten zum Jenseits und die alte Frage nach dem Glück. Ich traf Mosebach in München und habe mich mit über sowohl über das Glück, als auch über „Mogador“ unterhalten

“Das Glück?“

Martin Mosebach sitzt am Café-Tisch in der Sonne, die sich in diesem Sommer nur so selten zeigt. Der Himmel über Münchens Englischem Garten ist bayerisch blau mit zart hingetupften Schäfchenwolken, Vögel zwitschern, Kinder lachen. Ein guter Augenblick, um mit Mosebach über Glück zu reden.

Martin Mosebach: "Mogador" Roman. Rowohlt Verlag. 22,95 Euro

„Die Vorstellung, ein Recht auf Glück zu haben“, sagt er, „die Vorstellung, das Recht zu haben, nach Glück zu streben, Pursuit of Happiness, ist für die westliche Welt seit der Amerikanischen Revolution entscheidend geworden.“

Mosebach hat eine charakteristische Diktion, eine Sprachmelodie, wenn er so etwas sagt, der Großteil des Satzes kommt sehr schnell, zack, zack, zack, stakkatoartig, aber dann, meist gegen Ende, zieht und dehnt er ein oder zwei Worte: „enteiiidend geworden“. Man spürt, wie genussvoll Mosebach mit Worten spielt, wenn er manche auf diese Weise zu streicheln scheint.

„Doch dieses Streben ist oft ein wahnhaftes Unternehmen, denn wir wissen nicht, worin unser Glück besteht.“ Wir lassen uns vielmehr, so Mosebach, kopfscheu machen von der permanenten Fahndung nach dem Glück, wir werden zu gehetzten Glückssuchern und verfehlen so erst recht das Ziel, Glück zu empfinden.

„Glück als Leistung“, sagt Mosebach, „das ist die Vorstellung, von der wir uns viel zu sehr beherrschen lassen. Wir glauben, versagt zu haben, wenn sich das Gefühl von Glück nicht einstellt.“

Dann setzt Mosebach eine kleine Pause, eine Sekunde der Stille, bevor er ein wenig leiser fortfährt: „Glück ist keine Leistung. Glück ist etwas, das uns hinzugegeben wird, manchmal. Wir können es nicht anstreben, nicht arrangieren. Wir bekommen es, oder wir bekommen es nicht.“

„Als Geschenk?“, gebe ich das Stichwort. „Ja“, nickt Mosebach, „das ist es wohl.“

Der Gedanke, Glück nicht erzwingen, sondern nur mit Demut erhoffen zu können, hat es in sich. Er verrät viel über den Schriftsteller Mosebach und viel darüber, weshalb seine Bücher neben faszinierten Lesern auch unversöhnliche Gegner kennen. Denn sie unterstellen ihm, dem gläubigen Katholiken, dass er Glück ohne metaphysische, göttliche Hilfe nicht für möglich hält.

Auf den ersten Blick spielt die Suche nach Glück in Mosebachs ebenso schönem wie geheimnisvollem Roman „Mogador“ keine große Rolle. Es geht um einen jungen Bankmanager namens Patrick, der sich halb aus Leichtfertigkeit, halb aus Willenlosigkeit von einem Mitarbeiter in kriminelle Unterschlagungen verstricken lässt. Als ihn die Polizei zu einem Gespräch vorlädt, gerät er in Panik, springt in das erste beste Flugzeug nach Marokko und taucht unter in der abgelegenen Hafenstadt Essaouira, die einst Mogador hieß.

Mosebach nennt sich selbst gern und mit Freude an der Provokation einen „Reaktionär“, und von literarischen Gegnern wird er als „Anti-Modernist“ bekämpft. Doch genau betrachtet ist er heute einer der modernsten, geistesgegenwärtigsten Romanciers der deutschen Literatur: Wie kaum ein anderer versteht er es, ein Porträt unserer globalisierten Welt zu zeichnen, in der die Industriekultur des Westens fast ungebremst auf die feudalen Strukturen zum Beispiel eines Landes wie Marokko prallt.

Virtuos entfaltet Mosebach dieses spannungsvolle Miteinander von Smartphone und Eselkarren, von Jeans und Dschellaba, von Coca-Cola und Kochen auf gestampftem Lehmboden. Seine Romane schärfen den Blick dafür, wie sehr die angeblich exotischen Kulturen anderer Kontinente aus ihren Traditionen heraus in eine hochkomplizierte Zukunft gerissen wurden. Und weshalb Religion – und eben auch religiöser Fanatismus – für manche Menschen dort eine stabilisierende Lebensstütze ist inmitten des rasenden Umbruchs.

Auf Patrick, den halbkriminellen Bankmanager, strömt all das ein bei seiner Flucht. Vor allem seine marokkanische Wirtin Khadija beeindruckt ihn, die ihm Unterschlupf gewährt, ohne Fragen zu stellen oder Papiere zu verlangen. Sie ist, im Gegensatz zu Patrick, ein wahres Monster an Willenskraft: Obwohl in brutaler Armut aufgewachsen, zweifach verwitwet und Mutter eines behinderten Kindes, hat sie sich dennoch zur Hausbesitzerin hochgearbeitet, zur Bordellchefin und zur Wahrsagerin mit besten Verbindungen zu übernatürlichen Kräften.

„In Essaouira, dem alte Mogador“, erzählt Mosebach, „ist der Dämonenglaube stärker verbreitet, als man es in der islamischen, der sunnitischen Welt erwarten sollte.“ Er stammt wohl von den schwarzen Sklaven, die früher aus Mali oder dem Senegal nach Mogador verkauft wurden.

Von einem solchen Dämon fühlt Khadija sich seit Kindheit an begleitet. Alle wichtigen Entscheidungen ihres Lebens, die Glück oder Unglück für sie bedeuten können, trifft sie mit dessen jenseitiger Beratung. Was ihr eine viel größere Entschlossenheit und Ruhe verleiht als dem wankelmütigen Patrick – der seine Flucht am Ende nur per Zufall mit heiler Haut übersteht.

Stimmt Mosebach in seinem neuen Roman also allen Ernstes ein Loblied an auf den Geisterglauben statt auf das rationale Streben nach Glück, wie es ihm Gegner vorwerfen? Empfiehlt er, der selbst ernannte Reaktionär, literarisch die Rückkehr in eine vormoderne Welt der Heilslehren? „Mein Buch“, sagt Mosebach, „ist ein Roman und keine Handlungsanweisung. ‚Mogador’ erzählt von zwei Menschen, die sehr unterschiedlichen Lebenshaltungen folgen. Mehr nicht.“

Als vorbildlich stellt Mosebach weder die eine noch die andere hin – aber in der Gegenüberstellung, im Kontrast werden beide deutlicher und erkennbarer. Kann man von einer guten Geschichte mehr erwarten?

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