In Sarrazins Gästesessel an Schiller denken
Die Literaturzeitschrift “Volltext” schickte mir ihren Fragebogen zu zum “Geschäft der Literaturkritik heute”. Ich habe ihn ausgefüllt, “Volltext” hat ihn gedruckt, hier ist er nun online.
Was sehen Sie als die primäre Aufgabe der Literaturkritik heute?
Lassen Sie mich mit einer Geschichte antworten: Kürzlich veröffentlichte Thilo Sarrazin ein neues Buch, und ich bekam Gelegenheit ihn zu besuchen, um ein Porträt über ihn zu schreiben. (http://blog.uwe-wittstock.de/?p=1760)
Auch wenn man Sarrazin nicht mag, muss man zugeben dass er ein belesener Mann ist. Überall im Haus wachsen Bücherregale die Wände hoch voller Literatur: Klassiker, Romane, Erzählungen. Wir sprachen über einige Autoren, wir waren nicht immer einer Meinung, aber seine literarischen Ansichten waren durchdacht und kompetent.
Dann sprachen wir über sein Buch, darüber, dass er nicht die geringste Verpflichtung dazu sieht, Flüchtlingen aus anderen Ländern in Deutschland Zuflucht zu gewähren, und mehr noch: dass er es offenkundig noch nicht einmal bedauert, Notleidende abzuweisen.
Aber wofür, fragte ich mich in Sarrazins Gästesessel, wofür all diese endlosen Bücherwände, all dieser literarische Bildungseifer, wenn dabei nichts anderes herauskommt als rhetorisch glänzend verpackte Mitleidlosigkeit? In gewisser Hinsicht erinnert Sarrazin an Alexander Gauland, den Vizechef der AfD: Auch der ein hochkultivierter, hochbelesener Konservativer mit dem moralischen Verantwortungsgefühl eines Kleiderbügels.
Einer der deutschen Klassiker, auf die sich Sarrazin und Gauland so gern berufen, hieß Friedrich Schiller. Er glaubte fest an die „ästhetische Erziehung des Menschen“, also daran, dass Kunst und Bildung die Leute nicht nur zu klugen, sondern auch zu guten, zu mitfühlenden, Anteil nehmenden Zeitgenossen machen.
Ende der Geschichte.
Was betrachte ich als die primäre Aufgabe der Literaturkritik? Schön wäre es, wenn Literaturkritik dazu beiträgt, dass Literatur diese besondere Fähigkeit entfalten kann, die Schiller an ihr zu entdecken glaubte. Tatsächlich hat die Literatur die ungewöhnliche Fähigkeit, Menschen zur Einfühlung in andere Menschen zu verführen, sie an den seelischen Vorgängen Fremder teilhaben zu lassen. Ob das ausreicht, sie zu mitfühlenden, Anteil nehmenden Zeitgenossen zu machen, wie Schiller hoffte? Ich weiß es nicht, der Besuch bei Sarrazin war ein ernüchterndes Erlebnis.
Was sind die größten Herausforderungen/Probleme für die Kritik heute?
Literatur spielte mal als gesellschaftliches Leitmedium eine große Rolle. Heute bietet es kaum noch gesellschaftliche Vorteile, Literatur zu lesen. Unter diesen Bedingungen die Aufmerksamkeit für Literatur zu erhalten, Kommunikation über Literatur herzustellen, Leser für sie zu gewinnen, zählt für mich zu den großen Herausforderungen heute. Zu den Problemen zählen sicher die schlechten Arbeitsbedingungen: Wenig Platz in Zeitungen oder Sendeanstalten, geringe Honorare für Kritiker.
Spielen literaturwissenschaftliche Theorien eine Rolle für Ihre Tätigkeit als Kritiker?
Ja, klar. Im Idealfall verfügt der Kritiker über jede literaturwissenschaftliche oder sonstige theoretische Kompetenz, die dabei hilft, das jeweilige Buch möglichst angemessen zu beurteilen und dem Leser vorzustellen. Allerdings: Es gibt nur Annäherungen an den Idealfall, erreicht wird er nie.
Welche LiteraturkritikerInnen schätzen Sie am meisten? Für welche Qualitäten?
Marcel Reich-Ranicki. Er war (und ist) der temperamentvollste und wirkmächtigste deutsche Kritiker. Hans Magnus Enzensberger ist wahrscheinlich einer der klügsten. Ulrich Weinzierl ist ein Freund, den ich für seine schier endlosen Kenntnisse und seinen eleganten Witz schätze. Volker Weidermann für seine rhetorische Verve. Christine Westermann für ihre Menschlichkeit. Volker Hage und Ulrich Greiner für ihre Genauigkeit und Kompetenz.
Wie viele Bücher muss ein Kritiker gelesen haben, um kompetent urteilen zu können? Wie viele haben Sie gelesen?
Ich habe keinen blassen Schimmer. Der Erwerb literaturkritischer Fähigkeiten steht, gebe ich zu bedenken, vermutlich nicht in direkter Relation zu Lektürequantitäten.
Wie viele Neuerscheinungen lesen Sie pro Jahr?
Im Durchschnitt eine pro Woche. In letzter Zeit mehr, da ich eine wöchentliche Kolumne füttern muss. Viele andere Bücher fange ich nur zu lesen an und höre auf, sobald ich merke, dass sie mich nicht interessieren.
Welche AutorInnen haben Ihnen mit 15 gefallen, welche schätzen Sie heute?
Reich-Ranicki hat es geliebt, solche Listen zusammenzustellen. Ich mag es nicht.
Was lesen Sie, das nichts mit dem Beruf zu tun hat?
Sobald die Zeit es zulässt, greife ich auf Klassiker zurück. Das hilft, die literaturkritischen Maßstäbe zurechtzurücken. Es ist immer wieder ein Vergnügen zu sehen, was echte Meister auf dem Papier zustande gebracht haben.
Haben Sie in Ihrer Laufbahn als Kritiker je ein Urteil grundlegend revidieren müssen?
Sobald ich in die Verlegenheit komme, alte Kritiken von mir zu lesen, werde ich skeptisch. Waren die Bücher wirklich so gut/so schlecht, wie ich damals geschrieben habe? Ich denke, Skepsis ist immer eine gute Haltung beim Lesen von Kritiken, auch der eigenen. Aber „grundlegend revidieren“ musste ich bislang keine – vielleicht deshalb, weil die Anlässe, die dazu zwingen, eine Kritik nach Jahren noch einmal eingehend zu überprüfen, selten sind.
Uwe Wittstock, geboren 1955 in Leipzig, war Literaturkritiker bei der FAZ und der Welt und ist gegenwärtig Literatur-Redakteur des Nachrichtenmagazins Focus.
Quelle: VOLLTEXT 2/2016
Online seit: 8. September 2016