Christoph Ransmayr: “Cox oder Der Lauf der Zeit”

Kommt Qualität von quälen?

Christoph Ransmayr ist einer der Größten unserer Gegenwartsliteratur und wurde für seine Bücher vielstimmig gepriesen – und war doch lange gefangen in einer katastrophalen Depression. Jetzt hat er sich aus seinem selbst errichteten Kerker herausgeschrieben und präsentiert seinen neuen Meisterroman „Cox oder Der Lauf der Zeit“. Ich habe ihn in Wien besucht.

„Einige Monate“, antwortet Christoph Ransmayr.

Genauer gesagt: Ransmayr lässt diese Antwort auf meine Frage, wie lange er denn gearbeitet habe am ersten Satz seines neuen Romans, nebenbei einfließen irgendwo halb versteckt in seinen amüsanten kleinen Bericht über seine Suche nach dem Anfang, nach dem Tor, das mich ins Innere meines Romans führt“.

Einige Monate. Für einen Satz.

Christoph Ransmayr: "Cox oder Der Lauf der Zeit". Roman. S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main. 22 Euro

Mit so etwas muss man rechnen bei Ransmayr. Er ist ein literarischer Perfektionist. Zeit spielt für ihn bei seiner Arbeit keine Rolle. Er „verschwindet“, sagt er, in seinen Geschichten. Er lebt in ihnen. Sie sind sein Zuhause. Warum also sollte er hetzen beim Schreiben, wenn doch die Geschichten seine eigentliche Heimat sind? Ransmayr ist der Beethoven der deutschen Gegenwartsliteratur, der jede seiner Arbeiten mit unbeirrbarer Kraft in Richtung Vollendung vorantreibt. Vier große Romane hat er so geschrieben in über 30 Jahren. Jetzt ist der fünfte fertig.

Cox heißt der Held der Geschichte, er ist Schöpfer der präzisesten und prächtigsten Uhren des 18. Jahrhunderts und folgt einer Einladung, die ihn aus England an den Hof von Peking führt: „Cox erreichte das chinesische Festland unter schlaffen Segeln am Morgen jenes Oktobertages, an dem Qiánlóng, der mächtigste Mann der Welt und Kaiser von China, siebenundzwanzig Staatsbeamten und Wertpapierhändlern die Nasen abschneiden ließ.“

Ein Auftakt-Akkord, den man so rasch nicht vergisst. Natürlich ist auch Cox ein Perfektionist und natürlich darf man Ransmayrs Roman über ihn getrost lesen als Geschichte über den Stolz, die Not und den Irrsinn eines jeden Künstlers, der seine Arbeit in Richtung Vollendung vorantreibt. Cox baut für den Kaiser eine Uhr, die dem Perpetuum Mobile, also einer physikalischen Unmöglichkeit, so nahe kommt, wie man ihm auf Erden nur nahe kommen kann. Und baut sich dabei zugleich selbst eine Falle, der er lebend zu entkommen nur noch wenig Aussicht hat.

Zeit spielt für Ransmayr bei seiner Arbeit keine Rolle, in seiner Arbeit aber ist die Zeit ein beherrschendes Thema: Wie nur wenige andere vermag er in seinen Romanen das langsame Versiegen der Zeit für den Wartenden zu beschwören, das Rasen der Zeit für den Geängstigten oder auch den Stillstand der Zeit in Sekunden des Glücks. Es muss also niemand überrascht sein, wenn er jetzt einen Uhrmacher zur Hauptfigur macht, der mit seinen hochartifiziellen  Chronographen sogar diesen Spielarten des subjektiven Zeiterlebens gerecht zu werden versucht.

Wir sitzen im Restaurant Schnattl in Wiens 8. Bezirk. Wirtin und Wirt begrüßen Ransmayr ebenso herzlich wie vertraut. Auf der Mittagskarte steht österreichische Küche, zwei Gänge, großartig gekocht, aber doch sehr günstig. Ich erinnere ihn an seinen ersten Roman, in der Polarforscher das allmähliche Einfrieren ihres Zeitgefühls oder an seinen zweiten Roman, in dem Seeleute das atemlose Voranstürmen der Zeit während eines Orkans erleben, und Ransmayr kann die entsprechenden Stellen aus dem Kopf seitenlang zitieren. Er arbeitet derart besessen an seinen Romanen, dass er auch Jahrzehnte später noch ganze Kapitel auswendig beherrscht.

Ein Leidenschaft, die für die Leser herrliche Folgen zeitigt: Ransmayrs Romane sind durchkomponiert wie Symphonien. In jedem Satz, in jedem Absatz spürt man Musikalität und Rhythmus.

Ein Leidenschaft, die für den Autor lange fürchterliche Folgen zeitigte: Er schrieb, feilte, änderte, verbesserte bis er, wie er erzählt, „in einem katastrophalen Ausmaß der Depression verfallen war“. Der jeweils nächste Roman wurde für ihn buchstäblich zur Existenzfrage: „Wenn es mir nicht gelang, diesen Roman in der Form zu schreiben, die ich mir vorgenommen hatte, dann wäre ich kein Schriftsteller. Und könnte ich kein Schriftseller sein, dann wollte ich gar nicht mehr sein, denn ich hatte keine anderen Pläne für mich.“

"Die Erfindung der Welt. Zum Werk von Christoph Ransmayr". Herausgegeben von Uwe Wittstock. Fischer Taschenbuch Verlag. 12,90 Euro

Das Schreiben nahm Züge der Selbstqual, der Selbstzerstörung an. Er schrieb nicht einfach nur den nächsten Absatz, was bei seinen Qualitätsansprüchen schwer genug ist. Nein, er schrieb jeden Absatz in bis zu zwanzig Versionen neu, um alle vorstellbaren Varianten zu erproben, und um sich gegen jede mögliche Kritik unangreifbar zu machen. Bis er begriff, dass der Wunsch unangreifbar zu sein, „keine Haltung ist, mit der man schreiben sollte, jedenfalls nicht, wenn man überleben möchte.“

Was ihm den Ausweg aus der selbstgemauerten Sackgasse gewiesen hat? Ransmayr nennt es: „Strampeln.“ Es gab keinen klar abgezirkelten Weg in die Freiheit, sondern nur verzweifelte Fluchtversuche in alle Richtungen: „Strampeln, eben.“ Heute kann er, wenn erst einmal ein makelloser Absatz auf dem Papier steht, zu sich selbst sagen: „Lass es gut sein“ – und muss nicht mehr zwanghaft dutzende von Varianten entwerfen.

Der Intensität seiner Geschichten, der Schönheit seiner Sprache hat das nicht geschadet. Im Gegenteil, vielleicht ist seine Prosa heute sogar noch etwas überraschender, leuchtender als zuvor. 2012 erschien, wie zum Zeichen, dass er erste tastende Schritte aus dem durch die eigenen Besessenheit errichteten Kerker machte, ein fabelhafter Band mit Reise-Erzählungen von ihm. Wenn er heute, nur vier Jahre später, einen neuen Roman beendet hat, so ist das nach seinen Maßstäben ein geradezu atemberaubendes Produktionstempo.

Cox, sein Romanheld, entpuppte sich dabei als unerwarteter Helfer. Denn, sagt Ransmayr, als wie nach dem Essen noch beim Kaffee sitzen, „es sind nicht nur die Autoren, die ihre Figuren verändern. Auch die Figuren verändern manchmal die Autoren.“ Und Cox, dieser Perfektionist, der selbst den Hinterhalt legt, in den er zu gehen droht, sei vor allem eines gewesen: die perfekte Mahnung.

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Buch&Bar 88: Benjamin von Stuckrad-Barre “Nüchtern am Weltnichtrauchertag”

 Die Macht der Nacht mal sacht bedacht

Heute: Über ristkante Fragen beim Lesen und vor allem beim Trinken

Benjamin von Stuckrad-Barre: "Nüchtern am Weltnichtrauchertag". Kiepenheuer & Witsch. 8 Euro

Das Glück ist ein Rausch, schnurren uns die Life-Coaches ins Ohr. Das mag so sein. Sobald allerdings ein Tresen in Sicht kommt, stellt sich die Frage schnell andersherum: Ist der Rausch ein Glück? Riskantes Thema, die Antwort kann leicht gesundheitsschädlich ausfallen. Sagen wir mal so: Wenn man mit Freunden in einer Bar steht, die ersten Gläser geleert sind und der Abend allmählich Fahrt aufnimmt, dann, ja dann kriegt die Welt manchmal so einen kostbaren kleinen Extraschwung in Richtung Glücksgefühl.

Benjamin von Stuckrad-Barre ist ein intimer Kenner solcher Schwung-Momente und er besingt sie klug und kraftvoll in dem kleinen Buch „Nüchtern am Weltnichtrauchertag“ (Kiepenheuer & Witsch, 8 Euro). Aber er nimmt nicht mehr an ihnen teil. Denn er ist, schreibt er, seit Jahren trocken: „Wenn ich am Alkoholtrinken etwas immer verachtet habe, so ist es das sogenannte maßvolle Trinken. Vernünftig trinken wohl gar noch, Rausch ohne Reue? Amateure!“

Klingt irre heroisch. Und irgendwie so radikal. Boah. Darf sich aber keiner wundern, wenn diese Kamikaze-Haltung ihn pfeilschnell auf modrige Friedhöfe oder ist fade Entzugskliniken führt. Egal. Stuckrad-Barres Büchlein zeigt, dass er auch alkoholfrei jede Menge vorbildlich ausdestillierte Sätze aufs Papier bringt. Schon deshalb hebe ich aus der Ferne mit allem Respekt ein solidarisches Glas Mineralwasser und bringe den Toast aus: „Nüchtern bleiben!“

 

2014 startete BUCH & BAR. Die Kolumne ist schon deshalb absolut unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.


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Buch&Bar 87: Thomas Gsella “Saukopf Natur”

Geht der Sommer, kommt der Kummer

Heute: Über die Gefahren der Natur beim Lesen und Trinken

Thomas Gsella: "Saukopf Natur". gedichte. Kunstmann Verlag. 16 Euro

Das Schlimmste, was regelmäßig über uns Deutsche hereinbricht, ist das Ende des Sommers. Okay, zugegeben, Kai Pflaume ist auch schlimm, kommt viel öfter und macht genauso melancholisch. Aber vom Fernsehen erwartet man nichts Besseres. Vom Wetter schon. Die herrlich hohen Himmel des Sommers! Die dünnen Hemden! Die kurzen Röcke! Die lauen Abende vor der Victoria Bar!

Da ist es wichtig, dass es Dichter gibt, die uns an Schattenseiten des Sommers erinnern. Thomas Gsella ist, wenn’s um komische Gedichte geht, der Stellvertreter Robert Gernhardts auf Erden. Über eine der Sommerplagen schreibt er im neuen Band „Saukopf Natur“ (Kunstmann, 16 Euro):

Am Abend fliegt die Mücke
Zu uns ins warme Licht
Und reißt die Nacht in Stücke,
Denn schlafen lässt sie nicht.
Sie weiß sie zu versauen.
Man kommt sich wehrlos vor.
Wir liegen wach und hauen
Uns fest auf Stirn und Ohr.

Damit hat er natürlich recht und auch mit seinem Zorn auf die Naturvernarrtheit der Deutschen: „Gibt es überhaupt Leiden, gibt es Sorgen und Nöte, für die die Natur nichts kann? Die Antwort lautet: Nö.“ Die Natur nimmt uns den Sommer und gibt uns Kai Pflaume. Anderes Beispiel: Sie gibt uns Wacholderbeeren, bitter, leicht giftig. Erst mit enormem, Natur überwindenden Intelligenz- und Arbeitsaufwand wird ein Gin daraus, den man am Sommerabend vor der Victoria Bar genießen kann. So wie den schottischen Old Raj etwa, blassgolden, mit Safran aus dem Iran, Koriander, Zimt, Nuss. Fabelhaft.

 

2014 startete BUCH & BAR. Die Kolumne ist schon deshalb absolut unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.


 

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Günter de Bruyn zum 90. Geburtstag

Die Familie war eine feste Burg

Günter de Bruyn wird heute 90 Jahre alt. Hier ein Gespräch mit ihm über seine Autobiographie “Zwischenbilanz”, die Vorstellung, das Gute im Übermaß könnte das Schlechte besiegen, Fotos, die unsere Erinnerung verändern und die Schrecken des Krieges, sowie seine Dankbarkeit für Karl May

Uwe Wittstock: Zu Beginn Ihres Buches Zwischenbilanz schildern Sie eine eindrucksvolle Szene: Sie erzählen von dem Film Emil und die Detektive, den sie als Kind gesehen haben. Gegen Ende des Filmes wird, wie es sich gehört, der Bösewicht von der Polizei verhaftet. Emil und seine kleinen Freunde helfen dabei. Sie schreiben über dieses happy end, daß Ihnen „das Bild der Kinderscharen, die sich um den Schuft mit Melone drängen, ihn am Fliehen hindern und damit zu beweisen scheinen, daß geballte Güte stärker sein kann als Gewalt“, dauerhaft im Gedächtnis geblieben ist. Hat diese Vorstellung – das Gute in Übermaß könne das Schlechte besiegen – Sie in Ihrer Jugend beherrscht?

Günter de Bruyn: "Zwischenbilanz". Fischer taschenbuch Verlag, 9,99 Euro

Günter de Bruyn: Ja, das schon. Aber diese Filmszene wird so erzählt, daß die Enttäuschung gleich mitgeliefert wird. Der Leser soll sich nicht die gleichen Illusionen machen wie ich damals. Richtig ist, daß ich der idealistischen Vorstellung lange angehangen habe, das geballte Gute werde schon irgendwie das Schlechte besiegen. Ich habe sie mir erst spät mühevoll abtrainiert. Ich habe die Erinnerung an diesen Kinobesuch auch deshalb ziemlich zu Anfang meiner Zwischenbilanz geschildert, weil das Buch natürlich den Reifeprozeß des jungen Menschen beschreiben soll, der ich einmal gewesen bin. Dieser naive Glaube an den Sieg des Guten wird dann später durch Lebenstatsachen korrigiert. Nebenbei: Die Szene im Kino endet damit, daß ich die Angst schildere, die ich als Kind hatte, aus dem schönen Traum zu erwachen, den mir der Film vermittelte. Offenbar hat auch das Kind, das ich war, zumindest geahnt, daß die Welt nicht so schön und gerecht ist wie dieser Film.
Wittstock: Manche Kapitel Ihres Buches erzählen Sie entlang der Fotos, die Sie noch aus der entsprechenden Epoche besitzen. Sie erklären, wie stark die Erinnerung geprägt ist durch die Fotografien, die wir kennen – auch wenn sich dieser Aspekt in Ihrem Buch nie vordrängt und Sie letztlich doch mehr den persönlichen Erinnerungen vertrauen als den Fotos. Werden unsere Erinnerungen durch unsere Fotos im Nachhinein verändert?
de Bruyn: Das glaube ich schon. An einer Stelle meines Buches erzähle ich, daß ich mir heute nicht mehr sicher bin, ob ich mich an etwas tatsächlich Erlebtes erinnere oder nur an eine Fotografie. Erst nachdem ich die Fotografie nach einiger Zeit wiedergesehen habe, wurde mir klar, daß meine Erinnerung so genau mit dem Foto übereinstimmt, daß ich mich wohl nur an die Fotografie von jenem Ereignis erinnere, nicht an das Ereignis selbst. Da hat sich wohl etwas geändert, seit es die Fotografie gibt: Vor ihrer Erfindung konnte man sich seiner Erinnerungen sicherer sein. Vielleicht ist das aber auch nur für meine Generation so. Möglicherweise gibt es diese Art von Täuschung heute nicht mehr so häufig, weil das Bild inzwischen eine viel alltäglichere Rolle spielt. In meiner Kindheit war die Fotografie noch etwas Neues und etwas Besonderes: In unserer Familie spielten die Familienfotos immer eine große Rolle, sie wurden bei allen Geselligkeiten gezeigt. Wir haben sie oft angeschaut und so haben sie sich stark eingeprägt. Das ist heute, wo fast jeder ein Fernsehgerät im Zimmer hat, wahrscheinlich nicht mehr so. Wenn Bilder in Massen vorhanden sind, ist die Bedeutung des einzelnen Bildes sicher nicht mehr so groß.

Wittstock: Ihre Zwischenbilanz verliert sich nicht in den Erinnerungen, sondern ist geordnet in knappe Kapitel, denen man dramaturgischen Schliff anmerkt. Sie erzählen oft sehr komplexe Geschichten in wenigen, ganz einfachen Sätzen. Wie haben Sie das gemacht?
de Bruyn: Die Schwierigkeit war für mich in erster Linie folgende: Ich wollte mein Leben so einfach wie möglich, daß heißt chronologisch erzählen. Aber im strengen Sinne ist das gar nicht möglich, weil sich oft viele Dinge nebeneinander entwickeln, die nichts mit einander zu tun haben. Das kennt jeder: Was man an einem bestimmten Tag in der Schule erlebt hat, muß nichts zu tun haben mit dem, was am gleichen Tag in der Familie passiert ist. Wenn man also tatsächlich streng chronologisch berichten würde, brächte man für den Leser alles durcheinander. Ich habe dann eine Möglichkeit gefunden, zwar ungefähr in chronologischer Reihenfolge zu erzählen, aber das Erlebte doch zu bestimmten Themenschwerpunkten zusammenzufassen. Das hat mir die Möglichkeit gegeben, viel wegzulassen, was nicht unbedingt erzählenswert ist. Ich konnte so Schwerpunkte setzen und Spannungsbögen schlagen. Außerdem habe ich mich immer bemüht, neben meinem Leben die Zeit mitzuerzählen. Auch dadurch wird die Erinnerung gesiebt: Man achtet darauf, was wirklich bedeutsam ist, was ein Zeitbild geben kann. Damit entsteht natürlich wieder die Gefahr, daß man das Individuelle vergißt, oder daß man sogar die eigenen Erinnerungen verfälscht, damit sie zum Zeitbild passen. Da muß man aufpassen und eng an den Erinnerungen bleiben. Insofern war das immer eine Gratwanderung zwischen der rein persönlichen Erinnerung und dem Erinnern an das damalige Zeitgeschehen.

Günter de Bruyn: "Zwischenbilanz / Vierzig jahre / Das erzählte Ich". Buch im Leineneinband. S.Fischer Verlag. 49 Euro

Wittstock: Wenn man Zwischenbilanz liest, hat man den Eindruck, alle Jugendlichen waren damals in der sogenannten „bündischen Jugend“ organisiert. Das kann man sich heute kaum vorstellen. Uniformen und Aufmärsche sind heute geradezu abschreckend für Jugendliche.
de Bruyn: Die damalige Begeisterung für Jugendorganisationen ist heute schwer nachvollziehbar. Aber den großen Einfluß, den die Hitlerjugend auf die junge Generation hatte, kann man sich wohl nur erklären, wenn man bedenkt, welche Bedeutung die „bündische Jugend“ schon während der Weimarer Republik erreichte. Jede politische Richtung hatte ihre meist uniformierten Jugendbünde. Der Anpassungsdruck, der heute von der Popkultur ausgeübt wird, ging damals in dieser Richtung. Nur wenige konnten sich dem entziehen.
Wittstock: Waren die kirchlichen Jugendorganisationen so etwas wie eine Zuflucht vor den politischen Problemen in dieser Zeit?
de Bruyn: Das waren sie auf jeden Fall mit dem Beginn der Nazizeit. Aber damit ist die Frage nicht beantwortet, warum die „bündische Jugend“ vorher schon so wichtig und beliebt war. Das läßt sich nur historisch erklären. Die Jugendorganisationen entstanden um die Jahrhundertwende, als Ausbruch aus der damaligen Erwachsenenwelt. Die Jungen revoltierten gegen die Alten. Dann machten sich die Parteien diese Organisationen zunutze. Nach 1933 wurden dann vor allem die kirchlichen Organisationen tatsächlich zur Zuflucht für die, die nicht zu den Nazis wollten. Das war eine ähnliche Lage, wie sie später in der DDR wieder auftrat. Da war die Kirche auch in gewisser Weise ein ideologiefreier Raum. Dorthin zog man sich zurück, wenn man von der staatlichen Ideologie nichts wissen wollte.
Wittstock: Sie schreiben, daß Sie die Außenwelt schon vor der Machtübernahme Hitlers als feindlich und angsteinflößend empfanden und die Familie als behütenden Schutzraum. Woher kam das?
de Bruyn: Damals gab es viel mehr intakte Familien im traditionellen Sinn. Die Kinder wuchsen sehr behütet auf. Meine Familie war auch so ein behütendes Nest für die Kinder. Wer so aufwächst, schaut in jungen Jahren die Umwelt leicht etwas ängstlich an. Dann kam bei mir noch hinzu, daß meine Familie in Berlin lebte, aber katholisch war. Wir lebten also in der Diaspora. Ich wuchs mit dem Gefühl auf, daß alles außerhalb der Familie anders war als wir. Die Außenwelt war das Nicht-Katholische und damit Fremde – und also mit Angst verbunden. Hinzu kam selbstverständlich auch noch die Unsicherheit der politischen Zustände am Ende der Weimarer Republik.
Wittstock: Der regelmäßige Weg zur Kirche war also einer, der von den Spiel- und Klassenkameraden wegführte?
de Bruyn: Ja, das war so. Obwohl ich das damals als ganz natürlich empfand. Ich kannte ja nichts anderes. Aber wichtig ist auf jeden Fall, daß früher die Bindung der Kinder an die Familie viel stärker war, als sie das heute üblicherweise ist. Es gab damals für Kinder, bevor sie zur Schule kamen, fast keine Berührung mit der Welt außerhalb der Familie. Es war nicht üblich, die Kinder in Kindergärten zu schicken. Man war kinderreicher als heute, die Mutter war normalerweise zu Hause, und auch die entferntere Verwandtschaft spielte eine größere Rolle. Die Familie war noch so etwas wie eine feste Burg.

"Günter de Bruyn. Leben und Werk". herausgegeben von Uwe Wittstock. Fischer Taschenbuch Verlag

Wittstock: War die Literatur für Sie eine Zuflucht vor  Angstgefühlen? Würden Sie Ihre frühe Leidenschaft für die Literatur als eine Flucht vor der Wirklichkeit bezeichnen?
de Bruyn: Nein, das halte ich für einen Fehlschluß. Die Kämpfe, die bei ihm ausgefochten werden, sind welche zwischen Gut und Böse, bei denen das Gute immer siegt. Sie wecken nicht Kriegsbegeisterung, sondern Sinn für Gerechtigkeit. Ich habe Karl May in einer Zeit gelesen, in der Krieg und Militär die Ideale des deutschen Jungen zu sein hatten, und ich habe ihn immer als ein Gegner dieser Ideale empfunden. Seine Bücher vermitteln ein bestimmtes Gefühl von Freiheit, weil es immer Einzelne sind, die alle entscheidenden Dinge tun. Natürlich sind diese großen Einzelnen, Winnetou oder Old Shatterhand, auch Kämpfer, Krieger, aber das ist nicht das Entscheidende dabei. Es ist ein ausgeprägter Individualismus, der sich in den Karl May-Gestalten zeigt. Ich hab das damals, als ich Karl May las, als direkten Gegensatz zu der Gleichmacherei der Nationalsozialisten empfunden. Karl Mays Helden sind immer Einzelgänger, niemals Teil einer uniformen militärischen Masse, wie sie die Nazis verherrlicht haben.
Wittstock: Ihre Erinnerungen an die Kriegsjahre gehören zu den erschütterndsten Abschnitten Ihrer Zwischenbilanz. Sie lassen Ihr Erschrecken über Ihre Mitmenschen, vor allem über die männlichen Mitmenschen, die Soldaten erkennen. Was hat Sie damals am stärksten berührt?
de Bruyn: Ahnungslos wie ich war, entsetzten mich die seelischen Abgründe, die sich in besonderen Situationen plötzlich offenbarten. Ich sah, daß Leute, die gewöhnlich ein ganz normales Leben führen, sich als Soldaten sehr verändern können und einen Zug zur Grausamkeit entwickeln, der besonders dann aufbricht, wenn sie in Gruppen auftreten, in Männerbünden, wie zum Beispiel beim Militär. Normale vernünftige Leute werden hemmungslos brutal. Das habe ich als Kind erlebt und später als Soldat. Im Lazarett erlebte ich Männer, die sich zunächst als hilfsbereite Menschen zeigten, die mir von Frau und Kindern erzählten, und die dann plötzlich Erschießungen als besondere Höhepunkte ihres Lebens bezeichneten. Das war besonders erschreckend deshalb, weil ich das Gefühl hatte, diese Ausbrüche waren nicht an ideologische Schulung gebunden. Es ging hier vielmehr um seelische Abgründe, die immer wieder hervorgerufen und von politischen Kräften jederzeit ausgenutzt werden können.
Wittstock: Andererseits erzählen sie in Ihrem Buch, daß Sie in Ihrer Jugend dazu neigten, Frauen zu idealisieren. Ist das als Kehrseite Ihres Erschreckens vor den Abgründen der Männerseele zu verstehen?
de Bruyn: Das ist einmal die Kehrseite – aber nicht nur das. Diese Neigung, Frauen zu idealisieren, hat auch damit zu tun, daß ich in meiner Jugend keine Gelegenheit hatte, sie kennenzulernen. Wir sind damals fern von den Mädchen aufgewachsen. Meine Oberschule war und hieß Oberschule für Jungen. Dann sind wir früh kaserniert worden und bekamen Frauen überhaupt nicht zu Gesicht. Kein Wunder also, daß man dazu neigte, sie mit einem Heiligenschein zu versehen.
Wittstock: Die Schrecken des Krieges, die Sie als Soldat erlebten, werden in Ihrem Buch zurückhaltend geschildert. Es gibt einige Passagen, die genau und deutlich zeigen, was passiert ist. Aber Sie haben diese Szenen nie melodramatisch oder reißerisch ausgebaut. Welche Ereignisse oder Erlebnisse haben Sie ausgewählt für Ihr Buch, und nach welchen Kriterien?
de Bruyn: Jede Antwort auf diese Frage muß sich so anhören, als sei das alles bewußt gemacht. Das ist aber natürlich nicht so. Es ist in einem Kapitel des Buches davon die Rede, daß ich zu einer Zeit, in der es mir besonders schlecht ging – nach meiner Verwundung – ein großes Zutrauen ins Wort hatte, und daß ich mir vorstellte, man könne den Krieg genau so schildern, wie man ihn erlebte. Diese Hoffnung habe ich längst aufgegeben. Ich bin in dieser Hinsicht bescheidener geworden. Ich weiß, selbst wenn ich das Ganze ausführlich beschreiben würde, könnte ich trotzdem niemals so ganz den Leser erreichen. Ich bin also sparsam umgegangen mit schockierenden Szenen. Vielleicht ist das sogar wirkungsvoller. Ich übergehe also manche Erlebnisse, weil ich das Gefühl habe, sie nicht adäquat wiedergeben zu können. Aber bis ins Letzte kalkuliert, ist das alles nicht.
Wittstock: In der Erinnerung arbeiten ja unbewußte Auswahlmechanismen. Bestimmte Erinnerungen werden intensiv gespeichert, andere werden weggedrängt. Sind sie bei der Arbeit an Ihrem Buch Ihrem Gedächtnis genauer auf die Spur gekommen?
de Bruyn: Problematisch ist das Verhältnis von Erinnerung und Wirklichkeit immer. Es gibt verdrängte Erinnerungen, die beim Schreiben wieder freigelegt werden, manchmal hatte ich aber auch den Eindruck, daß die Erinnerungsarbeit die Verdrängung noch vollständiger macht. Wonach man krampfhaft sucht, das entzieht sich erst recht. Auch gibt es Erinnerungen, die nebelhaft bleiben, und andere, die sich durch Dokumente aus der Vergangenheit als falsch erweisen. Die Zweifel an den Erinnerungen habe ich auch in meinem Buch anklingen lassen. Erinnerung ist nie ganz korrekt.
Wittstock: Die ersten Wochen nach Kriegsende, die Sie auf abenteuerlichen Rückwegen zu Ihrer Familie verbrachten, beschreiben sie als Tage der Anarchie und des freien Lebens. In dieser ersten Nachkriegszeit bekannten sich viele Menschen in Deutschland zu sozialistischen Ideen. Die bildeten dann einen Teil der Anhängerschaft der sich allmählich bildenden DDR. Sie begeisterten sich dagegen eher für die Idee, künftig ganz ohne Staat auszukommen und für einen betonten Individualismus. Warum das?
de Bruyn: Es ist falsch, wenn Sie von Ideen sprechen, zu dieser Zeit war das für mich eher eine Gefühlssache. Ich hatte nach dem Krieg Gelegenheit, in sozialistische Kreise hineinzukommen und war von der Form der wiederum einsetzenden Organisiertheit abgestoßen. Ich hatte in Zwangsorganisationen gelitten und wollte aus jedem uniformierten Denken heraus. Politisch war das nur in Ansätzen. Vorherrschend war eine Skepsis, die mich vor Vereinnahmung auf der Hut sein ließ.

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Ruth Klüger wird 85

Gedichte aufsagen beim Appell in Auschwitz-Birkenau

Heute feiert die Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger ihren 85. Geburtstag. Als Kind war sie im KZ Theresienstadt, überlebte als Zwölfjährige im KZ Auschwitz-Birkenau. Beschützt und gerettet wurde sie durch Ihre Mutter und manche anonyme Mitgefangene – aber auch durch die Kraft, die sie aus der Literatur zog, aus den Gedichten deutscher Klassiker. Hier eine kleine Skizze einer großen Dichterin – und eine schier unglaubliche Lebensgeschichte:

„Er war ein Dichter und hasste das Ungefähre“, lautet eine der vielzitierten Zeilen von Rainer Maria Rilke. Nicht so oft zitiert wird die Fortsetzung dieses Satzes: „Vielleicht war es ihm nur um die Wahrheit zu tun.“

Ruth Klüger: “unterwegs verloren. Erinnerungen”. Zscholnay Verlag, 19,90 Euro

Ruth Klüger ist eine Dichterin buchstäblich von Kindesbeinen an. Sie war Wienerin und sechs Jahre alt, als die Nationalsozialisten aus Österreich die Ostmark machten. In diesem Augenblick endete die Kindheit Ruth Klügers, denn zur Kindheit gehört doch wohl, dass ein junger Mensch sich behütet und behutsam seine ersten Wege durch die Welt suchen darf.

Doch für Ruth Klüger bestand die Kindheit von nun an nicht aus sacht wachsender Selbstständigkeit, sondern aus rapide wachsenden Einschränkungen und Verlusten. Sie durfte in kein Kino mehr gehen, durfte auf keiner Parkbank mehr sitzen, schließlich keine Schule mehr besuchen. In immer schlechtere, dunklere Wohnungen musste sie umziehen und auf der Straße einen gelben Stern tragen, weshalb selbst Spaziergänge keinen Reiz mehr für sie hatten. Und sie verlor, größter Verlust von allen, ihren Vater. Da war sie neun.

Sentimentalität liegt Ruth Klüger fern. In ihrer Autobiographie schreibt sie nicht, angesichts all dieses Unrechts und dieser Verluste habe sie sich als Kind von der Literatur das Leben verzaubern oder verschönern lassen. Sie schreibt stattdessen: „Man ließ mich lesen, weil ich dann niemanden behelligte.“

Nachdem sie von der Schule ausgesperrt worden war, sah sie monatelang keine Kinder und auch die Familie hatte wenig Zeit. Also vertiefte sie sich in Bücher, las Schiller und andere Klassiker, denn die galten den Erwachsenen als unbedenklich, und da sie ein Talent hatte zum Auswendiglernen, brauchte sie für Schillers Balladen bald kein Buch mehr. Sie sagte sie sogar auf der Straße murmelnd her, was ihre Verwandten für unmanierlich hielten.

Aber als sie dann zwölfjährig im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau bei den Appellen stundenlang in der Sonne stehen musste, hatte sie in diesem lyrischen Gedächtnisvorrat etwas, mit dem sie sich über die Zeit retteten konnte.

Ruth Klüger: “weiter Leben. Ein Jugend”. Mit MP3-CD. Wallstein Verlag. 14,90 Euro

Und beim Auswendighersagen blieb es nicht. Schon im ersten KZ, in das man sie und ihre Mutter deportierte, in Theresienstadt schrieb sie eigene Gedichte, und im KZ Christianstadt dann Verse, mit denen sie das Unfassliche, was sie zwischenzeitlich in Auschwitz erlebt hatte, fassbar zu machen versuchte.

Ruth Klüger ist eine Dichterin und hasst das Ungefähre. An beidem lässt ihre Autobiographie keinen Zweifel. Sie nimmt es genau und sie hat die Fähigkeit zur genauen Beobachtung, zu genauen Gedanken, zur genauen Formulierung. Auch und gerade wenn es um ihre Erfahrungen während des Holocaust geht. Sie will, so schreibt sie, sich nicht mit der „Schreckensrührung“ zufrieden geben, in die viele Menschen verfallen, wenn sie von den KZs hören und denen, so schreibt sie „alle Lager in einem Entsetzensnebel verschwimmen, worin man sowieso keine Einzelheiten erkennen kann“.

Ihre Genauigkeit auch in den Einzelheiten ermöglicht Ruth Klüger unerwartete Einsichten. Da sind zum Beispiel die Minuten, in denen sich ihre Rettung aus Auschwitz entschied. Frauen von 15 bis 45 wurden selektiert für einen Arbeitstransport, der Auschwitz verlassen durfte. Ihre Mutter hatte es geschafft, sie war dem Transport zugeteilt worden. Aber Ruth Klüger hatte dem SS-Mann, der die Auswahl traf, die Wahrheit gesagt, sie sei erst zwölf und der verurteilte sie daraufhin mit einem Kopfschütteln zum Tode.

Doch die Mutter überredete die Tochter, sich ein zweites Mal bei einem anderen SS-Mann anzustellen. Und dessen Schreiberin, eine Gefangene wie alle andern, bestärkte Ruth Klüger nicht nur flüsternd darin, ihr Alter diesmal mit 15 anzugeben, sondern überzeugte noch dazu den SS-Mann, diese wenig glaubwürdige Angabe zu akzeptieren.

An einer solchen Szene zeigt sich die Genauigkeit des Nachdenkens und Erzählens von Ruth Klüger. Sie schildert die Szene nicht nur, sie erforscht sie. Es gab für diese Schreiberin nicht den geringsten Grund, sich für sie einzusetzen. Ruth Klüger hatte diese junge Frau noch nie zuvor gesehen und ist ihr auch danach nicht mehr begegnet. Dennoch hat diese Mitgefangene ohne den geringsten Vorteil für sich erwarten zu können, etwas ganz und gar Unerwartbares getan und viel riskiert für eine fremde Zwölfjährige. „Sie sah mich“, schreibt Ruth Klüger, „in der Reihe stehen, ein zum Tod verurteiltes Kind, sie kam auf mich zu, sie gab mir die richtigen Worte ein, und sie hat mich verteidigt und durchgeschleust. Die Gelegenheit zu einer freien, spontanen Tat war nirgends und nie so gegeben wie dort und damals.“

Ein Absatz weiter spitzt Ruth Klüger diese Einsicht noch einmal zu. Die junge Frau hatte nichts zu gewinnen und konnte allzu leicht alles verlieren. Wenn sie sich dennoch gegen jeden Eigennutz für eine Unbekannte einsetze, dann war das eine tatsächlich altruistische, eine tatsächlich freie Entscheidung: „Es kann“, folgert Ruth Klüger, „die äußerste Annäherung an die Freiheit nur in der ödesten Gefangenschaft in der Todesnähe stattfinden, also dort, wo die Entscheidungsmöglichkeit auf fast Null reduziert ist. In dem winzigen Spielraum, der dann noch bleibt, dort, kurz vor Null, ist die Freiheit.“

Ruth Klüger: “Zerreißproben. Kommentierte Gedichte”. Zscholnay Verlag. 14,90 Euro

Solche Sätze haben es in sich. Sie setzen einer anonymen Schreiberin ein Denkmal, die unter unsäglichen Bedingungen menschlich handelte, und sorgen mit ihrer Unerbittlichkeit beim Leser für einen Schock, der in Erinnerung bleibt.

Ruth Klügers Bücher sind voller solcher Sätze. Zum Beispiel, wenn sie nachdenkt über all die literaturkritischen Verbotstafeln, die in den ersten Nachkriegsjahren aufgerichtet wurden, und wenn sie sich dann die hochfahrenden Verbotstafel-Aufsteller wie Adorno zum Beispiel vorknöpft: „Ich meine“, schreibt sie, „die Experten in Sachen Ethik, Literatur und Wirklichkeit, die fordern, man möge über, von und nach Auschwitz keine Gedichte schreiben. Die Forderung muss von solchen stammen, die die gebundene Sprache entbehren konnten, weil sie diese nie gebraucht, verwendet haben, um sich seelisch über Wasser zu halten. Statt zu dichten möge man sich nur informieren, heißt es, also Dokumente lesen und ansehen – und dass gefassten, aber auch betroffenen Mutes. Und was sollen sich Leser und Betrachter solcher Dokumente dabei denken? Gedichte sind eine bestimmte Art von Kritik am Leben und könnten ihnen beim Verstehen helfen. Warum soll man das nicht dürfen? Und“, spitzt Ruth Klüger ihren Widerspruch erneut zu, „was ist das überhaupt für ein Dürfen und Sollen? Ein moralisches, ein religiöses? Welchen Interessen dient es? Wer mischt sich hier ein?“

Ich glaube, es wäre ein Klischee, wollte man Ruth Klüger solcher Sätze wegen eine streitbare Frau nennen. Das klänge ein wenig so, als würde sie Kontroversen suchen, damit unser öffentlicher Debattenbetrieb kräftig brummt und weiterlaufen kann. Nein, treffender ist es wohl, Ruth Klüger eben eine Dichterin zu nennen, die auf Genauigkeit besteht, weil es ihr um die Wahrheit zu tun ist – und die dafür keinem Streit aus dem Weg geht.

Nicht nur, wenn es um ihre Erfahrungen in deutschen KZs geht oder um allzu selbstgewisse Literaturtheorie. Schonungslos ist sie auch sich selbst gegenüber. Wie sie in ihren autobiographischen Büchern die, wie es wörtlich heißt, „blühende gegenseitige Mutter-Tochter-Neurose“ entfaltet, wie sie über die zehn Jahre ihrer frostige Ehe oder über das komplexe Verhältnis zu ihren beiden Söhnen schreibt, ist nie exhibitionistisch oder indiskret, aber doch von einer solchen Schärfe und Klarheit, wie man sie selten findet. Auch das, was die Feministin Ruth Klüger über das Verhältnis zwischen Männern und Frauen schreibt und mit Alltagsbeobachtungen untermauert, ist von solcher Treffsicherheit, dass man es gerade als Mann nicht leichten Herzens liest.

Oder was sie vom akademischen Betrieb zu erzählen hat: Sechs Jahre lang war sie Ordinaria in Princeton, einer den nobelsten Eliteuniversitäten der amerikanischen Ostküste. Doch was sie mit den ausschließlich männlichen Professoren im German Department dort erlebte, war alles andere als nobel: Die ließen fast keine Gelegenheit aus, ihr das Gefühl zu vermitteln, sie sei dort nur als Quotenfrau geduldet, die an das wissenschaftliche Niveau ihrer männlichen Kollegen nicht heranreiche. Die intensive Beschäftigung mit Kultur, die Ruth Klüger bei diesen Professoren-Kollegen doch wohl voraussetzen durfte, hatte deren Verhalten offenbar nur an der Oberfläche zu kultivieren vermocht. Was darunter zum Vorschein kam, ließ manches von der Behauptung Schillers, die Literatur trage bei zu einer ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts, in einem eher fahlen Licht erscheinen.

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Iwan Maiski: “Tagebücher”

Diplomat in Stalins Diensten

Der Historiker Gabriel Gorodetsky fand Jahrzehnte nach Kriegsende die Tagebücher der sowjetischen Botschafters in London Iwan Maiski. Maiski war nicht nur einer der wichtigsten Diplomaten, die während des Zweiten Weltkriegs an der Anti-Hitler-Allianz zwischen Großbritannien und der Sowjetunion bauten, sondern überdies ein hervorragender Schriftsteller. Seine Aufzeichnungen sind nicht nur von enormer historischer Bedeutung, sondern auch ein Lesegenuss.

Der Sensationsfund war reiner Zufall. Der Historiker Gabriel Gorodetsky durchforschte das Archiv des russischen Außenministeriums in Moskau, weil er mehr erfahren wollte über die Rolle der Sowjetunion bei der Gründung Israels im Jahr 1947. Einer der Archiv-Mitarbeiter wiegte sein Haupt, verschwand in einer Abteilung mit jahrzehntelang gesperrten Geheimsachen und als er zurückkam, brachte er ein riesiges Akten-Konvolut.

"Die Maiski-Tagebücher". Ein Diplomat im Kampf gegen Hitler 1932-1943 Übersetzung: Karl-Heinz Siber. Herausgegeben von Gabriel Gorodetsky. Verlag C.H.Beck. 34,95 Euro

Gorodetsky blätterte darin, eingeschüchtert von dem Umfang des Materials, las zunächst nur kleine Passagen, las dann immer weiter, las sich fest. Er war, begriff er, im unerforschlichen Papier-Bergwerk dieses Archivs auf eine Goldader gestoßen, auf ein historisches Dokument ersten Ranges, in dem einige der wichtigsten Politiker des 20. Jahrhunderts, Churchill, Stalin, Roosevelt, Chamberlain, wie auf einer Bühne sich in Szene setzten und ein hochdramatischen Theaterstück aufführten: den Zweiten Weltkrieg.

Es hat noch Jahre gedauert, bis Gorodetsky die russischen Rechteinhaber zur Veröffentlichung des Materials bewegen konnte. Doch er blieb hartnäckig und deshalb liegt nun weltweit öffentlich vor, was während des Kalten Kriegs in der Sowjetunion als so brisant galt, dass absurderweise nicht einmal der Autor selbst es lesen durfte: Die Tagebücher des Iwan Michailowitsch Maiski, der von 1932 bis 1943 als Botschafter Stalins in London arbeitete.

Maiski war ein genialer Diplomat. Sein Vater, ein polnischer Jude, ließ sich im Russland des Zaren nieder. Sohn Iwan kämpfte als Sozialist gegen das Zaren-Regime, wurde nach Sibirien verbannt, floh ins Exil unter anderem nach München und London, und kehrte kurz nach der Revolution 1917 nach Moskau zurück.

Hochintelligent, sprachbegabt, reise- und unternehmungslustig machte er im neuen sowjetischen Außenministerium rasant Karriere und wurde schließlich nach Großbritannien auf den damals wichtigsten Botschafterposten entsandt. Dort schlug ihm, dem „ungewaschenen Bolschewiken“, zunächst enormes Misstrauen entgegen. Dennoch gelang es ihm mit Charme und Witz schnell ein dichtes Netz persönlicher Kontakte und Freundschaften nicht nur zu Politikern, sondern auch zu Unternehmern, Bankern, Journalisten, Künstlern zu knüpfen.

Władysław Sikorski, Anthony Eden, Winston Churchill und Iwan Maiski bei der Unterzeichung des sowjetisch-polnischen Abkimmens 1941

Nach der Machtübernahme Hitlers 1933 ging es Maiski dann zehn Jahre lang nur noch darum, dieses Netz zum Schutz seines Landes vor den Nazis einzusetzen. Als Leser seiner Tagebücher erlebt man mit, wie lange manche britischen Politiker, Chamberlain vor allem, lavierten, zögerten und mit den Deutschen liebäugelten. Hitler wurde für seine Tatkraft und wirtschaftlichen Erfolge unverhohlen bewundert. Seinen innenpolitischen Verbrechen zum Trotz wollte man es sich nicht mit ihm verderben und hoffte insgeheim seine Aggression nach Osten und gegen das Sowjet-Regime ablenken zu können.

Für Maiski war genau das der Albtraum. Unermüdlich warb er bei Staatssekretären, Ministern, Oppositionspolitikern um Vertrauen zu seinem Land, fütterte Verleger und Leitartikler mit Informationen, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen oder versuchte die – damals weit links stehenden – Gewerkschaften vor seinen Karren zu spannen. Maiski war nicht allein der Botschafter, er entwickelte sich zum rasenden Propagandachef seines Landes.

Maiski und die sowjetische Militärmission 1941: (von rechts nach links) Admiral Charlamow, General Golikow, Maiski und links hinter Maiski der berufsbedingt argwöhnische und allgegenwärtige Maiski-Überwacher Nowikow

Was Maiski in seinen Notizen nur andeuten konnte, macht der Herausgeber Gorodetsky in seinen klugen Begleittexten klar: Parallel zu all dem kämpfte Maiski buchstäblich um sein Überleben: Bei paranoiden „Säuberungen“ ließ Stalin in jenen Jahren mindestens 62 Prozent seiner ranghohen Diplomaten und Beamten ermorden. Nur 16 Prozent blieben auf ihren Posten. Zu den täglichen Meisterleistungen des Meisterdiplomaten Maiski gehörte es, nicht liquidiert zu werden.

Durch die britische Unentschlossenheit fühlte sich die Sowjetunion förmlich in den Hitler-Stalin-Pakt hineingedrängt, der zum Startsignal des Weltkrieges wurde. In Kriegspremier Winston Churchill fand Maiski auf der Londoner Politik-Bühne endlich einen Partner und Widerpart nach seinem Geschmack. Im Tagebuch als Zuschauer mitzuverfolgen wie diese beiden Männer einander umwarben und belauerten, zu beeinflussen und zu manipulieren versuchten, ist ein Drama eigener Güte.

Ebenso wie Churchill, der 1953 den Nobelpreis für Literatur erhielt, war auch Maiski neben seinen politischen Leidenschaften ein begnadeter Schriftsteller. Schon in seiner Jugend schwärmte er für Heinrich Heine und leitete später eine Literaturzeitschrift. Mit welcher erzählerischen Kraft er Charaktere und Schauplätze, Geist und Atmosphäre seiner Zeit einfängt, ist hinreißend. Das macht die Tagebücher neben ihrem historischen Informationswert zugleich zu einem besonderen Lesevergnügen.

Aber Stalin fühlte sich später auch von Churchill hingehalten und verlor die Geduld. 1943 berief er Maiski nach Moskau zurück und ließ ihm zehn Jahre lang demütigende oder schlicht sinnlose Tätigkeiten zuteilen. Im 19. Februar 1953 wurde Maiski bei erneuten „Säuberungen“ wegen angeblichem Hochverrat verhaftet und wäre nicht zu retten gewesen, wenn Stalin nicht zwei Wochen später, am 5. März, gestorben wäre.

Dennoch wurde Maiski erst im Juli 1955 aus dem Gefängnis entlassen. Er zog sich zurück, widmete sich fast nur seiner literarischen Arbeit, schrieb einen Roman, den er in seiner Gefängniszeit im Kopf konzipiert hatte, und seine Memoiren. Als ihn ein Freund kurz vor seinem Tod 1975 besuchte und fragte, wie er diese mörderische Epoche überlebt hatte, schaute ihm der neunzigjährige Maiski in die Augen „schmunzelte und sagte: ‚Ich habe immer einen kühlen Kopf behalten’.

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Buch&Bar 86: Dirk Liesemer “Das Lexikon der Phantominseln”

Der wahre Sinn des Wortes: Trauminsel

Heute: Über die enormen Vorteile des Vorhandenseins beim Lesen und beim Trinken

Dirk Liesemer: "Das Lexikon der Phantominseln". Mareverlag. 24 Euro

Es gibt Inseln, die gibt es gar nicht. Sie existieren nur auf den Seekarten und in der Phantasie ihrer Entdecker. 30 davon haben es jetzt in Dirk Liesemers „Lexikon der Phantominseln“ geschafft (mare Verlag, 24 Euro). Ihr mangelndes Vorhandensein hat sie nicht daran gehindert, Geschichte zu schreiben: So wurde eigens für die fiktiven Inseln Byers und Morrell die weltweite Datumsgrenze verschoben, zwei andere waren offizielle Orientierungspunkte für die Grenze zwischen Kanada und USA, bis sich herausstellte, dass es sie gar nicht gab.

Unverständlich bleibt, warum Liesemer den offenkundigsten Insel-Fake aller Zeiten nicht in sein Buch aufnimmt: Sylt. Dass diese Insel nur eine Ausgeburt überhitzter Phantasien ist, sieht man schon an den abstrusen Sylter Hotelpreisen, die ja gar kein Mensch bezahlen könnte. Und den angeblichen Sylt-Besuchern, die sonst nur in völlig frei erfundenen Filmen gesichtet werden. Am lächerlichsten ist die Behauptung, Sansibar läge auf Sylt, obwohl jedes Kind weiß, dass es zu Afrika gehört.

Ein Indiz für die Nicht-Existenz Sylts liefern auch dortige Trinkgewohnheiten. In den vermeintlichen Expeditions-Berichten ist übereinstimmend von derartigen Alkohol-Mengen die Rede, dass wir uns Sylt komplett beschickert vorstellen müssten. Was ja nicht sein kann. Also hebe ich mein Glas auf das fiktive Sylt mit einem Fantasy Island Cocktail: 6 ml Kokosrum, 3 ml Melonenlikör, 3 ml Ananassaft, Ananasstücken und einer Maraschinokirsche.

 

2014 startete BUCH & BAR. Die Kolumne ist schon deshalb absolut unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.


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Buch&Bar 85: Jan Küveler “Theater hassen. Eine dramatische Beziehung”

Das wahre Theater der Grausamkeit

Heute: Über liebenswerten Hass beim Lesen und Trost beim Trinken

Jan Küveler: "Theater hassen. Eine dramatische Beziehung". Tropen Verlag. 12 Euro.

Ab und zu komme ich in irgendeiner Stadt an irgendeinem Theater vorbei und denke, ach stimmt ja, die gibt’s auch noch, da musst du mal wieder hin. Und dann gehe ich mal wieder hin und denke, super, die machen immer noch das Gleiche, da musst du so bald nicht nochmal hin, klasse, Zeit gespart.

Jan Küveler hat mehr Zeit, ist nicht so genusssüchtig wie ich und geht viel häufiger hin. Aber seine Erfahrungen sind ähnlich, schreibt er jetzt in seinem Buch mit dem schönen Titel „Theater hassen“ (Tropen Verlag, 12 Euro). In seinen Augen sind zwei bis drei Inszenierungen von zehn erträglich. Die anderen zum weglaufen. Küveler spricht vom Masochismus der Theaterzuschauer und vor allem der -kritiker, die sich mit dieser Quote zufriedengeben. Er nennt das Theater ein „Geisterhaus toter Avantgarden“, verlogen, langweilig, selbstgefällig und feige. Ich küsse seine Füße, denn er hat Recht und tut, was ein mutiger Kritiker tun muss: Er spricht die bittere Wahrheit aus.

Heimlich hasst Küveler das Theater natürlich nicht, sondern ist unglücklich ins Theater verliebt. Kein leichtes Schicksal. Wenn ich Trost brauche, suche ich ihn gelegentlich ein einem Glas Southern Comfort. Der Alkohol, zugegeben, hilft schon mal über einiges hinweg, und dann erinnern mich die Aromen von Whiskey, Pfirsich, Vanille, Zimt, Orangen und Schokolade erinnern daran, wie köstlich das Leben sein kann. Ein echter Trost des Südens. Beim nächsten Theaterbesuch nehme ich einen Flachmann davon mit.

 

2014 startete BUCH & BAR. Die Kolumne ist schon deshalb absolut unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.

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Buch&Bar 84: Eugen Ruge “Follower”

Was hat Faust denn so als Baby gemacht?

Heute: Über unfassbar ganzheitliches Lesen und Trinken

Eugen Ruge: "Follower". Rowohlt Verlag. 22,95 Euro

Im Grunde ist jede Story Stückwerk. Jede. Egal, wo und wann sie beginnt, immer kann man fragen: Was geschah vor diesem Beginn? Und: Gehört diese Vorgeschichte nicht auch zu der Geschichte? Faust zum Beispiel schließt einen Pakt mit dem Teufel, okay, aber vielleicht macht er das nur, weil er eine schwere Kindheit hatte? Möglicherweise haben ihn seine Eltern als Baby teuflisch lange schreien lassen? Wäre gut, das zu wissen. Und die Eltern der Eltern, hatten die Schulprobleme? Und die Urgroßeltern? ADS? Und die Ururur…?

Mit diesem Fundamentalproblem aller Geschichten hat Eugen Ruge jetzt in seinem Roman „Follower“ (Rowohlt, 22,95 Euro) Schluss gemacht: In der Zukunftssatire bricht ein Handelsvertreter 2055 in einer komplett durchdigitalisierten Welt zu einem Geschäftstermin auf. Auf seinem Weg werden ihm so viele Informationen um die Ohren gehauen, dass er schließlich Überblick und Nerven verliert, ein Zweirad klaut und in den Sonnenuntergang verschwindet. Doch Ruge lässt seine Geschichte nicht 2055 beginnen, sondern buchstäblich mit dem Urknall. Genauer: 5,391 mal 10 hoch -44 Sekunden nach dem Urknall. Denn von der Zeit davor weiß man nichts, weil es da noch keine Zeit gab. Aber von der ganzen Zeit danach erzählt Ruge verdammt unterhaltsam.

Freunde von mir nennen Pilsner Urquell stur Pilsner Urknall, weil es für sie so was ist wie der Urmeter aller Biere. Es wird zwar erst seit 1842 gebraut, aber, wie meine Großmutter immer sagte: Gut Ding will Weile haben. Wenn so ein Bier dabei rauskommt, dann war die Zeit zwischen 5,391 mal 10 hoch -44 Sekunden nach dem Urknall bis zum Jahr 1842 nicht ganz verschwendet.

 

2014 startete BUCH & BAR. Die Kolumne ist schon deshalb absolut unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.

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Julian Rosefeldt: “Manifesto” mit Cate Blanchett

Die Wahrheit der Kunst in 13 Filmen

Ich bin kein Kunstkritiker, zugegeben, und es ist für jeden Schuster ein guter Rat, bei seinen Leisten zu bleiben. Wenn ich hier als Literaturkritiker dennoch meiner Begeisterung für Julian Rosefeldts hinreißende Filmkunst-Installation “Manifesto” Luft machen möchte, kann ich als Entschuldigung zumindest anführen: Unter den in den 13 Filmen verlesenen Manifeste sind etliche, die auch in den modernen Literaturgeschichte viel Wind um sich machten. Außerdem: “Manifesto” hat mir so viel Spaß gemacht, so viel sowohl intellektuelle wie sinnliche Freude bereitet, dass mir meine Schuster-Leisten-Bedenken hier einfach Schnurz sind.

Cate Blanchett in "Manifesto" von Julian Rosefeld als Obdachloser

Zunächst der Datenteil: “Manifesto” ist noch bis zum 6. November im “Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart” in Berlin zu sehen. Das Museum liegt nur ein paar hundert Meter vom Berliner Hauptbahnhof entfernt. Leichter kann ein Besuch kaum gemacht werden, und es lohnt sich, versprochen.

Die konzeptionelle Seite von Rosefeldts fabelhafter Arbeit ist schnell erklärt. Die Kunst der Moderne hat eine starke Neigung zum Manifest. Seit Ende des 19. Jahrhunderts hat sich alle paar Jahre irgendein Künstler daran gemacht, per manifestöser Grundsatzerklärung zu verkünden, was die wahre Kunst sei und was die falsche, wie Kunst richtig zu verstehen sei, wo die Grenze zwischen alter, überlebter und neuer, zukunftsweisender Kunst verlaufe. Undsoweiterundsofort. Man kennt diesen Ausschließlichkeits- und Alleinvetretungsanspruch, diesen illiberalen Größenwahn, der von der Moderne regelrecht gezüchtet und bejubelt wurde. Darunter eben auch einige in der Literaturgeschichte viel zitierte Manifeste von André Breton, Philippe Soupault, Paul Èluard, Louis Aragon und anderen

Cate Blanchett in "Manifesto" von Julian Rosefeld als Lehrerin

Julian Rosefeldt lässt nun in 13 Filmen über 60 solche Manifeste ganz oder in Teilen vorlesen. Die Pointe seiner “Manifesto”-Installation ist, dass diese 13 Filme gleichzeitig auf 13 geschickt im Raum verteilten Leinwände projiziert werden. Die Manifeste fallen sich also gleichsam ins Wort, widersprechen und relativieren sich. Der ironische Gestus von Rosefeldts Arbeit wird sofort klar: Wenn auch 13 Kanälen gleichzeitig verkündet wird, was und wie Kunst in Wahrheit sei, an wird die Anmaßung, die in solchen Manifesten steckt, DIE WAHRHEIT DER KUNST zu kennen, unübersehbar.

Doch dies ist nur die konzeptionelle Dimension von “Manifesto”. Die sinnliche, ästhetische Dimension erst macht diese Arbeit so großartig. Rosefeldt hat – vom ersten Prologfilm abgesehen – seine 12 Filme mit überwältigender Liebe zum Detail ausgestatten und für sie spektakuläre Drehorte gefunden, die er mit viel Witz den jeweiligen Manifesten zugeordnet hat. So ist es ausgerechnet eine Trauerrednerin, die Manifeste des Dadaismus vorträgt, eine Börsenmaklerin, die die Thesen des Futurismus vertritt oder eine Arbeiterin, die ihr tristes Leben zwischen Plattenbau und Industrieanlage verbringt, die die hochfliegenden Utopien der modernen Architektur vorträgt.

Cate Blanchett in "Manifesto" von Julian Rosefeld als Nachrichtensprecherin

Kurz: Das Ganze ist sehr sehr sehr klug und sehr sehr sehr komisch. Ich habe mich dabei erwischt, dass ich immerzu lächelnd vor Rosefeldts Leinwänden saß und staunend diese 12 filmischen Augenweiden abgraste nach den zahlosen geschickt arragierten Anspielungen und Kommentaren zu dem Exklusivitätsirrsinn der jeweils proklamierten Manifeste.

Aber es kommt noch ein eminentes Vergnügen hinzu: In allen 12 Filme spielt Cate Blanchett die Verkünderin der Manifeste. Und zwar in 13 extrem verschiedenen Rollen: Als männlicher Obdachloser, Brokerin, Arbeiterin in einer Müllverbrennungsanlage, Vorstandsvorsitzende, Punkerin, Puppenspielerin, Familientyrannin am Mittagstisch, Lehrerin, Wissenschaftlerin, Trauerrednerin, Choreographin  oder Anchorwoman einer Nachrichtensendung, die zu einer Außenreporterin schaltet – die selbstverständlich auch von Cate Blanchett gespielt wird.

Die Virtuosität, ach was: die Genialität der Darstellerin Blanchett ist hinreißend. Nur 12 Drehtage hatte sie für “Manifesto”, ist also buchstäblich an jedem Drehtag in eine andere Haut geschlüpft und hat ihre Figuren mit überwältigender Suggestionskraft auf die Leinwand gebracht. Sie beweist – und das ist vielleicht der klügste Kunstgriff Rosefeldts – damit eine Wandlungsfähigkeit, in der man die unendliche Wandlungsfähigkeit der Kunst selbst wiedererkennen kann, die sich eben nicht von Manifesten definieren, festlegen und verhaften lässt, sondern ihren größten Reiz daraus zieht, niemals festlegbar zu sein.

Cate Blanchett in "Manifesto" von Julian Rosefeld als Punkerin

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