Die Wahrheit der Kunst in 13 Filmen
Ich bin kein Kunstkritiker, zugegeben, und es ist für jeden Schuster ein guter Rat, bei seinen Leisten zu bleiben. Wenn ich hier als Literaturkritiker dennoch meiner Begeisterung für Julian Rosefeldts hinreißende Filmkunst-Installation “Manifesto” Luft machen möchte, kann ich als Entschuldigung zumindest anführen: Unter den in den 13 Filmen verlesenen Manifeste sind etliche, die auch in den modernen Literaturgeschichte viel Wind um sich machten. Außerdem: “Manifesto” hat mir so viel Spaß gemacht, so viel sowohl intellektuelle wie sinnliche Freude bereitet, dass mir meine Schuster-Leisten-Bedenken hier einfach Schnurz sind.
Zunächst der Datenteil: “Manifesto” ist noch bis zum 6. November im “Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart” in Berlin zu sehen. Das Museum liegt nur ein paar hundert Meter vom Berliner Hauptbahnhof entfernt. Leichter kann ein Besuch kaum gemacht werden, und es lohnt sich, versprochen.
Die konzeptionelle Seite von Rosefeldts fabelhafter Arbeit ist schnell erklärt. Die Kunst der Moderne hat eine starke Neigung zum Manifest. Seit Ende des 19. Jahrhunderts hat sich alle paar Jahre irgendein Künstler daran gemacht, per manifestöser Grundsatzerklärung zu verkünden, was die wahre Kunst sei und was die falsche, wie Kunst richtig zu verstehen sei, wo die Grenze zwischen alter, überlebter und neuer, zukunftsweisender Kunst verlaufe. Undsoweiterundsofort. Man kennt diesen Ausschließlichkeits- und Alleinvetretungsanspruch, diesen illiberalen Größenwahn, der von der Moderne regelrecht gezüchtet und bejubelt wurde. Darunter eben auch einige in der Literaturgeschichte viel zitierte Manifeste von André Breton, Philippe Soupault, Paul Èluard, Louis Aragon und anderen
Julian Rosefeldt lässt nun in 13 Filmen über 60 solche Manifeste ganz oder in Teilen vorlesen. Die Pointe seiner “Manifesto”-Installation ist, dass diese 13 Filme gleichzeitig auf 13 geschickt im Raum verteilten Leinwände projiziert werden. Die Manifeste fallen sich also gleichsam ins Wort, widersprechen und relativieren sich. Der ironische Gestus von Rosefeldts Arbeit wird sofort klar: Wenn auch 13 Kanälen gleichzeitig verkündet wird, was und wie Kunst in Wahrheit sei, an wird die Anmaßung, die in solchen Manifesten steckt, DIE WAHRHEIT DER KUNST zu kennen, unübersehbar.
Doch dies ist nur die konzeptionelle Dimension von “Manifesto”. Die sinnliche, ästhetische Dimension erst macht diese Arbeit so großartig. Rosefeldt hat – vom ersten Prologfilm abgesehen – seine 12 Filme mit überwältigender Liebe zum Detail ausgestatten und für sie spektakuläre Drehorte gefunden, die er mit viel Witz den jeweiligen Manifesten zugeordnet hat. So ist es ausgerechnet eine Trauerrednerin, die Manifeste des Dadaismus vorträgt, eine Börsenmaklerin, die die Thesen des Futurismus vertritt oder eine Arbeiterin, die ihr tristes Leben zwischen Plattenbau und Industrieanlage verbringt, die die hochfliegenden Utopien der modernen Architektur vorträgt.
Kurz: Das Ganze ist sehr sehr sehr klug und sehr sehr sehr komisch. Ich habe mich dabei erwischt, dass ich immerzu lächelnd vor Rosefeldts Leinwänden saß und staunend diese 12 filmischen Augenweiden abgraste nach den zahlosen geschickt arragierten Anspielungen und Kommentaren zu dem Exklusivitätsirrsinn der jeweils proklamierten Manifeste.
Aber es kommt noch ein eminentes Vergnügen hinzu: In allen 12 Filme spielt Cate Blanchett die Verkünderin der Manifeste. Und zwar in 13 extrem verschiedenen Rollen: Als männlicher Obdachloser, Brokerin, Arbeiterin in einer Müllverbrennungsanlage, Vorstandsvorsitzende, Punkerin, Puppenspielerin, Familientyrannin am Mittagstisch, Lehrerin, Wissenschaftlerin, Trauerrednerin, Choreographin oder Anchorwoman einer Nachrichtensendung, die zu einer Außenreporterin schaltet – die selbstverständlich auch von Cate Blanchett gespielt wird.
Die Virtuosität, ach was: die Genialität der Darstellerin Blanchett ist hinreißend. Nur 12 Drehtage hatte sie für “Manifesto”, ist also buchstäblich an jedem Drehtag in eine andere Haut geschlüpft und hat ihre Figuren mit überwältigender Suggestionskraft auf die Leinwand gebracht. Sie beweist – und das ist vielleicht der klügste Kunstgriff Rosefeldts – damit eine Wandlungsfähigkeit, in der man die unendliche Wandlungsfähigkeit der Kunst selbst wiedererkennen kann, die sich eben nicht von Manifesten definieren, festlegen und verhaften lässt, sondern ihren größten Reiz daraus zieht, niemals festlegbar zu sein.