Lutz Seiler: “Kruso”

Die Insel mit direktem Blick aufs Jenseits

Sehnsucht nach der alten deutschen Innerlichkeit: Für seinen ersten Roman Kruso wurde Lutz Seiler mit dem Deutschen Buchpreis 2014 ausgezeichnet und hat sowohl dem Suhrkamp Verlag als auch dem Buchpreis selbst zu einem dringend benötigten Publikums-Erfolg verholfen.

Sobald die Fernsehleute und Fotografen aufstehen und die Schriftsteller durch die Sucher ihrer Kameras anvisieren wie Schützen über Kimme und Korn, wird es ernst bei der Buchpreis-Verleihung. Zuvor sind eine Stunde lang Reden zu hören, kurze Filme über die Autoren zu sehen, ein Juroren-Interview auf offener Bühne zu bestaunen. Die Anspannung steigt, und dann ist es so weit: Der Chef des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Heinrich Riethmüller, tritt hinter die Mikrofone, öffnet die ihm überreichte Urkunde und verkündet: „Den Deutschen Buchpreis erhält in diesem Jahr . . .“

„Jaaaah!!“ Im ehrwürdigen Kaisersaal des Frankfurter Rathauses wird nur selten geschrien. Es geht dort auch nicht oft ein derartiges Blitzlichtgewitter nieder wie im Oktober über den in der Sekunde zuvor gekürten Buchpreisträger des Jahres 2014 Lutz Seiler. Ein „großer Bahnhof“ sei das für ihn, sagte Seiler in seiner Dankesrede, doch die Lok, die ihn und seinen Roman bis dorthin zog, habe 128 Heizer – und ehrte so die 128 Mitarbeiter des Suhrkamp Verlags, die trotz endloser juristischer Kämpfe seit Jahren fabelhafte Arbeit leisten und nichts dringender brauchen als echte Verkaufserfolge.

Lutz Seiler: "Kruso". Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 22,95 Euro

Und einen Erfolg brauchte inzwischen auch der Deutsche Buchpreis selbst, dessen Ausstrahlungskraft auf das Publikum in den letzten Jahren spürbar nachgelassen hatte. Doch die Chancen dafür waren gut: Unter den Preisträgern der vergangenen Jahre gelang es gerade den Romanen Der Turm von Uwe Tellkamp und In Zeiten des abnehmenden Lichts von Eugen Ruge, nicht nur die Herzen der Preisjuroren, sondern auch die des Publikums zu gewinnen – und beide berichteten von Leben und Familienverhältnissen in der untergegangenen DDR. Von der DDR, genauer: vom letzten Sommer dieses Landes 1989, erzählt auch Lutz Seiler in Kruso. Sein Held heißt Edgar Bendler, wird Ed genannt, ist ein 24 Jahre alter Student der Literatur und hat seine Freundin G. verloren. Als ihm auch noch die Katze Matthew davonläuft, macht er sich auf an den äußersten Rand des damals noch zugemauerten Landes: zur Ostsee-Insel Hiddensee. Und tatsächlich hat dann auch Seilers Roman für den Suhrkamp Verlag und für das leicht angekratzte Image des Buchpreises einen schönen Publikums-Erfolg eingefahren.

Da Ed kein Geld für Urlaub hat, heuert er als Tellerwäscher und Zwiebelschäler bei der Gaststätte „Zum Klausner“ im Norden der Insel an. Während der Ferienwochen arbeiten dort fast nur Ungelernte, die im DDR-Jargon „Saisonkräfte“, abgekürzt „Esskaas“, genannt werden. Fast alle sind – wie Ed – literarisch gebildete Sonderlinge, die sich in der realsozialistischen Gesellschaft ihres Landes weder zu Hause fühlen noch sie verlassen wollen, sondern nach einem Lebensversteck suchen: „Ich möchte“, meint Ed, „einen Platz auf der Welt, der mich aus allem heraushält.“

Der Anführer dieser Esskaas ist Alexander Dimitrijewitsch Krusowitsch, genannt Kruso, mit offenkundig russischen Wurzeln und perfekten Deutschkenntnissen. Auch er ist wie Ed der Poesie verfallen, und bald schon pflegen sie nicht nur eine in Lyrik vernarrte, sondern auch eine unverkennbar homoerotische Freundschaft.

Das Buch steckt voller literarischer Anspielungen: Der Name des „Inselkönigs“ Kruso verweist natürlich auf den berühmtesten aller einsamen Inselbewohner, Robinson Crusoe, refrainartig zitiert Lutz Seiler Gedichte Georg Trakls (1887–1914), und seinen Helden hat er vielleicht deshalb Ed getauft, weil der bekannteste aller Sozialaussteiger der DDR-Literatur in Ulrich Plenzdorfs Bestseller „Die neuen Leiden des jungen W.“ Edgar Wibeau hieß.

Vor allem aber gibt Seiler seinem Roman eine mythologische Dimension: Hiddensee ist in seinem Roman nicht einfach eine Ostsee-Insel am Rande der DDR, sondern zugleich ein letzter Vorposten am Rande des Lebens. Von hier aus, so predigt Kruso seinem Bewunderer Ed während eines Strandspaziergangs, „schaut man weit hinaus, bei guter Sicht bis ins Jenseits“. Und als Kruso gegen Ende des Romans mehr tot als lebendig von einem sowjetischen Panzerkreuzer von der Insel abgeholt wird, setzen ihn die Matrosen vom Festland zum Schiff über wie der griechische Fährmann Charon die Toten über den Fluss Acheron.

Dieses Buch ist nichts für Leser, die nach einem realistischen oder psychologischen Roman Ausschau halten. Wohl aber etwas für jene, die Eds Sehnsucht nach alter deutscher Innerlichkeit teilen, die sich an seinem radikalen Rückzug aus einer unfriedlichen Welt freuen und bereit sind, an Krusos ostalgischen Lehrsatz zu glauben: „Der Keim der wahren Freiheit, Ed, gedeiht in Unfreiheit.“

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Buch & Bar (8): Julian Barnes

Angst vorm Fliegen?
Angst vorm Landen!

Klar, Essen ist auch wichtig. Aber in dieser Kurz-Kolume BUCH & BAR geht es nur um Lesen und Trinken. Warum? Weil beides, in richtiger Qualität und Dosierung, einen kostbaren Fingerbreit über die klägliche Wirklichkeit hinausheben kann.

Heute: Über Lieben und Landen und Lesen und Trinken

Jeder Ballonfahrer, der mit seinem Gefährt aufsteigt, muss auch wieder landen. So einfach ist das. Jeder, der liebt, wird irgendwann das Ende seiner Liebe erleben. Eine sanfte Landung kann niemand garantieren. Je höher man sich aufschwingt, desto unwahrscheinlicher wird sie. So einfach ist das.

Julian Barnes: "Lebensstufen". Übersetzt von Gertraude Krueger. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015. 16,99 Euro

Ein seltsames, tieftrauriges kleines Buch: „Lebensstufen“ (Kiepenheuer & Witsch, 16,99 Euro). Der Brite Julian Barnes erzählt vom Ballonfahren und vom Lieben. Beides lässt sich kaum steuern, beides bleibt unberechenbaren Kräften ausgeliefert. Warum sehnen sich dennoch so viele Menschen danach? Julian Barnes war 30 Jahre verheiratet, seine Frau Pat, zugleich seine Literaturagentin, starb 2008. Zwischen der Diagnose ihrer Krankheit und ihrem Tod lagen 37 Tage. Barnes hat sie gezählt. Was er aus der Welt berichtet, die danach kam, ist nicht schön: „Leid dreht einem den Magen um, raubt einem den Atem, schneidet die Blutzufuhr zum Gehirn ab.“ Von Trost ist nirgendwo die Rede, wer danach sucht, ist in diesem Buch falsch.

Lily Bollinger, die legendäre Chefin des Champagner-Hauses Bollinger, soll einmal gesagt haben: „Ich trinke Champagner, wenn ich froh bin und wenn ich traurig bin.“ Nach einer Lesung in einer Buchhandlung bekam ich kürzlich als Honorar eine Flasche Bollinger Champagner geschenkt. Als ich Barnes’ schmales Buch ausgelesen hatte und zumachte, machte ich sie auf. Auch Champagner ist kein Trost, zugegeben. Aber er ist eine Möglichkeit zu feiern, was wir haben. Solange wir es haben.

Die Kolumne erschien im Focus vom 14. Februar 2015. 
2014 startete meine Kurz-Kolumne Buch & Bar im Focus. Sie ist schon deshalb unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.
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Stewart O’Nan: “Die Chance”

So unscheinbar wie Elvis im Pailletten-Dress

Ein starker kleiner Roman über das große schwache Amerika in der Zeiten der Finanzkrise: In Stewart O’Nans Die Chance steht ein gutbürgerliches Ehepaar am Rande der totalen Pleite, der Scheidung und der Niagara-Fälle. Die letzte Rettung: ein Spielcasino

Klar, Probleme gibt’s immer. Sorgen gehören zum Leben. Marion und Art wissen das, sie sind ein sturmerprobtes Ehepaar aus Cleveland/Ohio um die 50, mit erwachsenen Kindern. So schnell wirft sie nichts um.

Aber jetzt hat es sie übel erwischt – wie viele Mittelstandsamerikaner derzeit. Beide haben ihre Arbeit verloren und finden im krisengeschüttelten Land keine neue. Die Raten fürs Haus können sie nicht bezahlen, es aber auch nicht verkaufen, denn die Immobilienpreise sind im freien Fall. Nach über 30 Jahren harter Arbeit stehen sie vor dem Nichts und fühlen sich betrogen. Ach ja, apropos betrogen: Fremdgegangen sind sie auch. Erst er, dann sie aus Rache.

Stewart O'Nan: "Die Chance". Roman. Übersetzt von Thomas Gunkel. Rowohlt Verlag, Reinbek 2014. 19,95 Euro

Stewart O’Nan beherrscht ein bewundernswertes Kunststück: Er kann alltägliche Geschichten erzählen, ohne dass sie alltäglich klingen. Er erfindet Figuren, die man aus der eigenen Nachbarschaft zu kennen glaubt, brave, unauffällige Leute, die ein wenig langweilig zu sein scheinen. Doch wenn O’Nan über sie schreibt, geschieht etwas Seltsames: Diese Langweiler beginnen zu schillern wie Elvis im Pailletten-Dress, ihr Seelenleben offenbart lauter Abgründe, und man begreift, dass jeder Jedermann tief drin das Zeug hat zum Tragödienhelden von Shakespeare’scher Dimension.

Marion und Art wissen, dass ihnen nicht mehr viel Zeit bleibt. Ihre Schulden werden sie unter sich begraben wie eine Lawine. Aus rechtlichen Gründen ist es besser, wenn sie sich scheiden lassen, bevor sie Insolvenz anmelden. Die Krise wird sie auch ihre Ehe kosten. Aber das letzte Wochenende als Mann und Frau wollen sie dort verbringen, wo sie ihre Flitterwochen verbrachten: an den Niagarafällen und im angrenzenden Freizeitpark.

Da es auf ein paar zehntausend Dollar nicht mehr ankommt, überziehen sie alle Konten bis zum Anschlag, um im Spielkasino ihre allerletzte Chance zu suchen. Wenn ihr Leben durch die Zockereien von Investmentbankern zerstört wird, warum sollen sie nicht zum ersten Mal zocken, um die Arbeit ihres Lebens zu retten? „Marion und Art sind überzeugt“, erzählt Stewart O’Nan in unserem Gespräch über seinen neuen Roman, „immer nach den Regeln gespielt zu haben. Doch plötzlich haben sich die Regeln geändert, und nun wollen auch sie ihr Stück vom Kuchen.“

Aber die beiden können nicht aus ihrer Haut. Aus redlichen Vorstadtbürgern werden, zeigt O’Nan, keine Abenteurer, die das Risiko lieben, sondern halb trotzige, halb ängstliche Desperados, die sich am Spieltisch wie Hochstapler vorkommen. „Art ist ein Romantiker“, sagt O’Nan, „aber in seiner gefährlichsten Form: ein verwundeter Romantiker.“ Er will vor allem seine Ehe retten. Marion dagegen scheint sich ein wenig auf die Katastrophe zu freuen, denn sie liebäugelt mit einem neuen, freieren Leben nach Insolvenz und Scheidung.

Insgeheim hat dieser Roman neben dem Durchschnittspaar Marion und Art noch einen dritten Hauptdarsteller: die Zeit. Sanft schien sie sich in 30 Ehejahren dahinzuwälzen – wie der breite, ruhige Niagara-Strom. Doch als sie nun wieder vor den Niagarafällen stehen, macht sie ihnen mit einem Mal ihre alles verändernde Macht bewusst. „Die Zeit ist, wie die niederdonnernden Wassermassen, eine unaufhaltsame Naturgewalt, viel größer als sie selbst, wie Marion und Art begreifen müssen“, sagt O’Nan.

„Die Chance“ ist ein politischer Roman, der die brutalen Folgen der Finanzturbulenzen der vergangenen Jahre zeigt. Es ist zugleich ein kluger, ungemein einfühlsamer Eheroman, der eine Ahnung gibt von den rabiaten Kräften der Routine, die an jedem Paar über die Jahrzehnte hinweg zerren. Aber es ist auch ein erstaunlich optimistischer und heiterer Roman. Denn wer, so zeigt Stewart
O’Nans Buch, sich unausgesetzt verändert, muss den anderen nicht zwangsläufig aus den Augen verlieren. Er kann ihn, gerade weil er sich verändert, auch überraschend wiederfinden.

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Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki

Zwei Platzhirsche

Nicht als Nachruf, aber aus Anlass des Todes von Günter Grass: Ein Auszug aus meiner Biographie Marcel Reich-Ranicki, die in der kommenden Wochen am 20. April im Blessing Verlag erscheinen wird. Über das eigenwillige Verhältnis zweier großer Männer des deutschen Literaturbetriebs.

Das Verhältnis zwischen Günter Grass und Reich-Ranicki war von Beginn an durch Misshelligkeiten und Rivalitäten gekennzeichnet. Reich-Ranicki lernte Grass, wie zwei Jahre zuvor Heinrich Böll, bereits 1958 in Polen kennen. Während jedoch Böll ihre Begegnung in Warschau in angenehmer Erinnerung behielt, verlief das erste Zusammentreffen mit Grass weniger harmonisch. Nicht einmal über dessen Verlauf können sich die beiden Beteiligten einigen. Reich-Ranicki erzählt in seiner Autobiographie Mein Leben, er habe Grass auf Bitten eines Freundes im Warschauer Hotel Bristol getroffen, doch Grass sei „nachlässig gekleidet und auch nicht rasiert“ und keineswegs nüchtern gewesen: „Er hatte, was er mir freilich erst zwei Stunden später sagte, zum einsamen Mittagessen eine ganze Flasche Wodka getrunken.“ Deshalb, aber auch weil Reich-Ranicki vor allem über Literatur reden wollte, wozu Grass wenig Lust hatte, verlief das Gespräch stockend, und nach einem Spaziergang verabschiedeten sich die beiden rasch und ohne Bedauern voneinander. Danach rief Reich-Ranicki jenen Freund an, der das Treffen vermittelt hatte, und teilte ihm mit, Grass sei im Hotel nicht zu finden gewesen, der einzige Mann, der im Foyer „saß, habe nicht wie ein Schriftsteller aus dem Wirtschaftswunderland ausgesehen, sondern wie ein ehemaliger bulgarischer Partisan“.

Uwe Wittstock: "Marcel Reich-Ranicki. Die Biographie". Karl Blessing Verlag, München 2015. 19,99 Euro

In Grass’ Bericht über dieselbe Begegnung ist weder von Alkohol noch von einem Gespräch die Rede, vielmehr habe Reich-Ranicki ihn „einer Art Verhör“ zur deutschen Literatur unterzogen: „Aber ich war damals sehr frech und habe auf so etwas allergisch reagiert. Er sagte zum Beispiel: Kennen Sie Hesse? Und ich sagte: Hesse? Hesse? Hat der nicht irgendwas über eine Glasfabrik geschrieben? Darauf er: Sie meinen das Glasperlenspiel!“ Auch auf Reich-Ranickis Frage nach dem Roman, an dem er schreibe, Die Blechtrommel, habe Grass abwehrend reagiert und lediglich „im Spiegel-Stil eine Inhaltsangabe gegeben: Junge, dreijährig, stellt Wachstum ein.“ Wenig später hätten sich die beiden getrennt – doch Grass habe, erzählt er weiter, kurz darauf einen Anruf jenes Freundes erhalten, der den Kontakt zu Reich-Ranicki hergestellt hatte und der ihn nun am Telefon konsterniert fragte: „Was hast Du denn mit dem Ranicki angestellt? Der hat mich eben angerufen und hat gesagt: Pass auf, das ist kein deutscher Schriftsteller, das ist ein bulgarischer Agent.“ Und bulgarische Agenten hatten zu jener Zeit einen sehr speziellen Ruf, denn kurz zuvor hatten Angehörige des bulgarischen Geheimdienstes in London mit einem Regenschirm, dessen Spitze vergiftet war, einen Mord begangen, der weltweites Aufsehen erregte.

Schon wenige Monate später begegneten Grass und Reich-Ranicki einander wieder bei dem Treffen der Gruppe 47 in Großholzleute 1958. Reich-Ranicki hatte den endgültigen Absprung nach Westdeutschland gewagt, und Grass erlebte hier mit seiner Lesung aus der Blechtrommel die Initialzündung zu seiner Weltkarriere. Aber ihr Verhältnis wurde deshalb nicht unkomplizierter: In seinem Bericht über die Tagung lobte Reich-Ranicki die gehörten zwei Kapitel des Romans: „Grass schreibt eine unkonventionelle, kräftige, ja sogar wilde Prosa.“ Doch die Besprechung des ganzen Buches für die Zeit geriet ihm dann fast zu einem Verriss: „Seine große stilistische Begabung wird dem Grass zum Verhängnis. Denn er kann die Worte nicht halten.“ Drei Jahre später wiederum korrigierte Reich-Ranicki diese Rezension behutsam: Was er geschrieben habe, sei „im großen und ganzen richtig. Dennoch könnte ich diese Kritik nicht mehr unterschreiben. Ich würde heute die Akzente anders setzen und mich insbesondere mit dem Neuartigen in der Prosa von Grass eingehender befassen.“

In den folgenden Jahren und Jahrzehnten nahm der Konfliktstoff zwischen beiden nicht ab. In der Gruppe 47 zum Beispiel beteiligte sich Grass als Autor gern und oft an den Debatten über die Lesungen seiner Kollegen, war aber nur in seltenen Fällen der gleichen Meinung wie der mindestens ebenso engagiert diskutierende Reich-Ranicki. Außerdem gehört Grass zu jenen Autoren, die das kollegiale Werkstattgespräch aus der Frühzeit der Gruppe bevorzugten und wenig von der professionellen „Fachkritik“ der späten Jahre halten. Dennoch betonte Grass, Reich-Ranicki und er hätten sich „befreundet in dieser Zeit.“ Reich-Ranicki dagegen, und das belegt noch einmal, wie unterschiedlich die Wahrnehmungen dieser beiden Menschen sind, gewann den Eindruck, Grass habe sich darum bemüht, „dass man mich wieder rausschmeißt aus der Gruppe“ – wofür sich in den veröffentlichten Briefen von und an das Gruppen-Oberhaupt Hans Werner Richter allerdings keinerlei Hinweis findet.

Auch die Rezensionen Reich-Ranickis über die Bücher von Grass waren nicht minder konfliktträchtig, denn wieder einmal erwies er sich als ein Kritiker, der sich nicht zu den konsequenten Anhängern oder Widersachern eines bestimmten Autors zählen lässt, sondern der von Buch zu Buch zu mitunter extrem unterschiedlichen Urteilen kommt: So lehnte er die Theaterstücke von Grass ab, lobt aber dessen Lyrik, erklärte den Butt für weitgehend gescheitert, feierte jedoch begeistert Das Treffen in Telgte, nannte Die Rättin „ungenießbar“, die Unkenrufe ein „Malheur“, Ein weites Feld „missraten“ und zählt Grass dennoch zu den „größten Meistern der deutschen Sprache unserer Zeit“. Das Titelbild des Spiegel-Heftes, in dem seine Kritik zu Ein weites Feld erscheint, zeigt Reich-Ranicki überdies in einer Fotomontage, die den Eindruck erweckt, als reiße er ein Exemplar des Romans auseinander. Damit habe sich Reich-Ranicki, so meint Grass, durch den Spiegel „missbrauchen“ lassen, zu einem symbolischen Akt von Büchervernichtung, der „weit über eine Literaturkritik hinausgeht“.

Mit merklicher Genugtuung erfüllt Grass jedoch, dass er den Kampf um die Gunst des Publikums trotz allem gewonnen hat und binnen weniger Monate von seinem Roman über eine viertel Million Exemplare verkauft wurden. Reich-Ranickis Talent, die Lesermassen in seinem Sinne zu lenken, stieß bei diesem Buch offenkundig an seine Grenzen.

Am deutlichsten wurde die Rivalität der beiden Männer wohl bei einem Schlagabtausch 1994: Grass beklagte damals in einer Rede, dass Kritiker inzwischen größere Aufmerksamkeit genössen als Schriftsteller. Das Rezensionsgewerbe habe sich in der Öffentlichkeit gleichsam vor die zu rezensierenden Bücher gedrängt: „Es herrscht nicht nur vor, es beherrscht den Betrieb.“ Und er verschwieg nicht, welchen Kritiker er bei diesem Angriff vor allem im Sinn hatte: „Der einzelne Entertainer, der sich als Quartett aufspielt, der literarische Stammtisch gibt den Ton an.“Reich-Ranicki nahm den Fehdehandschuh auf und antwortete mit einer Polemik in der Frankfurter Allgemeinen. Es sei wahr, schrieb er, „dass sich bei uns gelegentlich ein Missverhältnis zwischen dem Primären und dem Sekundären bemerkbar macht. Alle wissen wir, dass nicht 
nur Grass in eine Krise geraten ist, sondern die ganze deutsche Gegenwartsliteratur. (…) Ein Zeichen der Krise mag es auch sein, dass die deutschen Kritiker bisweilen besser schreiben als die Autoren, mit denen sie sich beschäftigen. Was Grass so ärgert, trifft teilweise zu: Für manche Kritiker interessiert man sich heutzutage mehr als für diesen oder jenen Schriftsteller, der uns in den sechziger, in den siebziger Jahren entzückt hat. So ist das: Wenn Seuchen um sich greifen, werden die Ärzte immer wichtiger.“ Stritten hier zwei Platzhirsche des Literaturbetriebs um die Vorherrschaft im Revier?

Nachdem Grass 1999 den Literaturnobelpreis erhalten hatte, entspannte sich die Situation zwischen den Kontrahenten, Reich-Ranicki gratulierte Grass öffentlich, und 2003 begegneten sie sich im Lübecker Grass-Haus, obwohl zuvor jahrelang jedes Gespräch zwischen ihnen nahezu unmöglich schien. Dennoch hält Grass an seiner Kritik fest: „Ich glaube schon“, sagt er über Reich-Ranicki, „dass er sich als ein Kritiker versteht in der Schlegelschen Tradition: Kritik als Kunstform, gleichberechtigt neben der Literatur, und in dürren Zeiten der Literatur überlegen. Es ist eine gewisse Hybris bei ihm da.“ Zwar hat Reich-Ranicki die betreffenden Thesen Friedrich Schlegels ausdrücklich zurückgewiesen, mehr noch, er hat auch Alfred Kerrs „waghalsigen Versuch, die Kritik zur gleichberechtigten poetischen Gattung zu erheben“, immer wieder abgelehnt und als „Irrweg“ bezeichnet. Doch setzte er in Grass’ Augen die löbliche Absicht, lediglich ein Diener der Literatur sein zu wollen, nicht oft und nicht konsequent genug in die entsprechenden Taten um.

Vorab-Veröffentlichung aus der Biographie “Marcel Reich-Ranicki”, die am 20. April im Blessing Verlag, München, erscheinen wird. Einige der hier angeführten Zitate von Günter Grass stammen aus einem Gespräch, das ich mit dem Schriftsteller über Reich-Ranicki führte. Sie sind im Buch mit Fußnoten gekennzeichnet. Es beschäftigen sich noch andere Passagen der Biographie mit dem spannungsreichen Verhältnis zwischen Grass und Reich-Ranicki.

 

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Buch & Bar (7): Peter Richter und Daniel Schreiber

Die beiden Seiten einer Flüssigkeit

Klar, Essen ist auch wichtig. Aber in dieser Kurz-Kolume BUCH & BAR geht es nur um Lesen und Trinken. Warum? Weil beides, in richtiger Qualität und Dosierung, einen kostbaren Fingerbreit über die klägliche Wirklichkeit hinausheben kann.

Heute: Über zweischneidiges Lesen und Trinken

Als der erste Römer den seither unvergessenen Satz „In vino veritas“ murmelte, hatte er mutmaßlich ganz schön einen sitzen. Ich habe keine Ahnung, was da für Wahrheit im Wein sein soll, aber mit Sicherheit ist Alkohol drin. Und der bringt den einen Spaß und manch andere um. Zwei Kenner haben dazu Bücher geschrieben: Peter Richter, “Über das Trinken“ (Goldmann, 12,99 EURO) und Daniel Schreiber, „Nüchtern“ (Hanser Berlin, 16,90 EURO).

Peter Richter: "Über das Trinken". Goldmann Verlag, München 2014. 12,99 EuroHinreißend, wie unterschiedlich Bücher zum gleichen Thema sein können: Richter schreibt fabelhaft schwungvoll und gut gelaunt. Er hat nicht die geringste Lust, sich den Spaß am Durst durch Gesundheitsdiktatoren, Trauerklöße oder Führerscheinentzug verderben zu lassen. Richtig so. Schreibers Buch dagegen liest sich, als liefe im Hintergrund Beethovens Schicksalssinfonie: entschieden, ernst, klug. Auf jeder Seite spürt man Schreibers Glück, dem Säufertod gerade noch mal von der Schippe gesprungen zu sein. Richtig so. Wenn eine Wahrheit im Wein liegt, dann die, dass er zwei Seiten hat.

Daniel Schreiber: "Nüchtern. Über das Trinken und das Glück". Hanser Berlin, Berlin 2014. 16,90 Euro

Schon aus Solidarität mit Daniel Schreiber kann ich zu beiden Büchern nur einen Drink empfehlen: Mineralwasser. Sage niemand, das sei fantasietötend: Es gibt Mineralwasser zu äußerst fantasievollen Preisen. Das Berliner „Hotel Adlon“ bot einmal das japanische Rokko No Mizu für herrliche 124 Euro pro Flasche an. Gibt es aber heute leider nicht mehr. Als zweitteuerstes Wasser gilt derzeit Bling H2O, das ist allerdings schon für enttäuschende 69 Euro zu haben.

Die Kolumne erschien im Focus vom 7. Februar 2015. 
2014 startete meine Kurz-Kolumne Buch & Bar im Focus. Sie ist schon deshalb unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.
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Buch & Bar (6): Tom Drury

Wer Drinks mixt und Diebe beklaut

Klar, Essen ist auch wichtig. Aber in dieser Kurz-Kolume BUCH & BAR geht es nur um Lesen und Trinken. Warum? Weil beides, in richtiger Qualität und Dosierung, einen kostbaren Fingerbreit über die klägliche Wirklichkeit hinausheben kann.

Heute: Über dunkel stürmisches Lesen und Trinken

Tom Drury ist ein schmächtiger Mann mit schweren Augenlidern und einer Vorliebe für glücklose Romanhelden. In Amerika gilt er als einer der großen Schriftsteller des Landes, und Kritiker schießen Feuerwerk pfundweise in den Feuilletonhimmel, sobald ein Buch von ihm erscheint. Jetzt kommt bei uns sein Roman „Das stille Land“ (Klett-Cotta, 19,95 Euro) raus, der von einem Barkeeper namens Pierre handelt.

Tom Drury: "Das stille Land". Roman. Übersetzt von Gerhard Falkner. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2015. 19,95 €

Ich traf Drury in Berlin, plauderte mit ihm über Literatur und Barkeeper und fragte, ob er einen Lieblingscocktail habe. Unter seinen lastenden Lidern weg antwortete er eher brummig, ihm seien in Bars die Gespräche wichtiger als die Getränke.

„Das stille Land“ erzählt eine finstere Geschichte aus Amerikas Mittlerem Westen. Pierre bricht ins Eis ein, eine mysteriöse Frau rettet ihn, und sie verlieben sich. Später nimmt Pierre einem Dieb einen Haufen Geld weg und verschenkt es, doch der Gangster erweist sich als überaus hartnäckig, nachtragend und humorlos. Vieles bleibt rätselhaft in diesem Buch, wer beim Lesen gern nach dem Warum fragt, wird es nicht mögen: „Es gibt keinen Grund, Pierre“, heißt es gleich zu Anfang: „Es ist einfach so, wie es ist.“

Der richtige Drink für Drury wäre vielleicht ein Dark ’n’ Stormy, ein Rum-Cocktail mit Gosling’s Black Seal, Limettensaft und Ginger Beer. Im ersten Moment schmeckt er kräftig und frisch, so wie es die Leute des Mittleren Westens angeblich sind. Doch er hinterlässt auf der Zunge ein leises Ingwer-Brennen, und das erinnert einen daran, dass selten die Dinge so sind, wie sie anfangs erscheinen.

Die Kolumne erschien im Focus vom 31. Januar 2015. 
2014 startete meine Kurz-Kolumne Buch & Bar im Focus. Sie ist schon deshalb unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.

 

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Martin Mosebach: “Das Blutbuchenfest”

Von der Weisheit der Putzfrau

Ein hemmungsloses Fest, lauter Menschen mit hochstaplerischen Zügen und mittendrin Ivana, die alle Geheimnisse kennt. Martin Mosebach zeichnet in seinem virtuosen Roman Das Blutbuchenfest ein Sittenbild der Bundesrepublik der neunziger Jahre – aber eben nicht nur der neunziger Jahre.

Es geht uns großartig, meint Martin Mosebach, während er Tee einschenkt: „Die Restaurants werden immer teurer und sind dennoch jederzeit voll. Überall parken beeindruckende Autos, denen elegante Menschen entsteigen. Das Leben ist ein Fest.“ Oft bleibe rätselhaft, woher der Wohlstand komme. „Aber er ist da und wird genossen.“

Mosebach sagt das ohne Sarkasmus und lehnt sich mit der Tasse in der Hand im Sessel zurück. Seine Frankfurter Wohnung ist vollgestopft mit alten Dingen, alten Möbeln, Bildern, Büchern. Er gehört definitiv nicht zu den Schriftstellern, die vor dem, was gerade modern genannt wird, auf den Knien liegen. Aber auch nicht zu denen, die die Gegenwart schwarz in schwarz malen.

Lieber spürt der Autor dem Leben der Leute nach, die zu dieser Zeit gehören, all den „Beratern, Coaches, Vermittlern, PR-Agenten“, die unsere Dienstleistungsgesellschaft prä-gen: „Ihre Beschäftigungen sind nicht sehr konkret und nehmen deshalb einen leicht hochstaplerischen Zug an.“

Martin Mosebach: "Das Blutbuchenfest". Roman. Carl Hanser Verlag, München 2014. 24,90 Euro

In seinem wunderbaren Roman „Das Blutbuchenfest“ versetzt Mosebach die Leser mitten unter sie: eine lockere Gruppe von tatsächlichen oder auch nur scheinbaren Erfolgsmenschen aus Frankfurt, die effektvoll aufzutreten verstehen, auch wenn sie nur sehr luftige Leistungen anzubieten haben. Mosebach lässt sie ein herrliches Theater der Eitelkeiten und der Wichtigtuereien aufführen – und macht sich dennoch niemals lustig über sie. Denn auch ihre Jobs sind schweißtreibend und voller Risiken, auch wenn sie das niemals jemanden merken lassen dürfen.

Man kennt sich, man trifft sich, auf Empfängen, in Restaurants, verfolgt seine Interessen mal gemeinsam, mal in Konkurrenz zueinander – und achtet stets auf Unabhängigkeit und Distanz. Doch insgeheim sind sie alle, ohne es zu wissen, viel enger verbunden, als sie glauben. Denn sie alle beschäftigen, wie der Zufall es will, die gleiche Putzfrau: Ivana aus Bosnien.

Ivana ist nicht sonderlich neugierig, sondern eher phlegmatisch. Dennoch gibt es vor ihr, die alle Haushalte in- und auswendig kennt, keine Geheimnisse. Das macht den Roman sehr komisch und sehr ernst zugleich: Ivana ist die Einzige, die noch mit den Händen arbeitet, und die Einzige, die hinter alle Fassaden schaut. Doch die kleinen Affären, Liebesnöte oder finanziellen Engpässe, die sie dort beobachtet, interessieren sie überhaupt nicht.

Denn Ivana hat ihre eigenen Sorgen: Mosebach siedelt den Roman im Jahr 1991 an, als der Jugoslawien-Krieg ausbrach, der Ivanas bosnische Familie sofort in höchste Gefahr bringt. Während die Frankfurter Gesellschaft ihr lang geplantes, reichlich hemmungsloses Blutbuchenfest feiert, auf dem Ivana die Garderobe entgegennehmen oder Drinks und Häppchen reichen darf, hört sie parallel am Mobiltelefon die Schüsse mit, die ihre Eltern zur Flucht aus ihrer Heimat zwingen.

Mosebach hebt den Kontrast zwischen diesen beiden Welten scharf hervor, aber er spielt sie nie gegeneinander aus. „Es wäre“, erzählt er, „ein Missverständnis, wenn man glaubte, ich wolle etwas verurteilen. Ich sehe eine Aufgabe darin, Zustände zu schildern, nicht über sie zu richten.“ Zustände, die auch heute wieder, angesichts der Kriege in der Ukraine, in Syrien oder dem Irak, ungemildert zu erleben sind: wenn zwischen dem Frieden hier und dem mörderischen Hass dort nur wenige hundert Kilometer liegen, also nur ein Katzensprung in den Zeiten moderner Kommunikations- oder Reisetechnik.

Dieser Gegensatz macht das Buch, seiner oft satirischen Heiterkeit zum Trotz, zu einem so berührenden Leseerlebnis. Man hat Mosebach vorgeworfen, er lege seinen Romanfiguren Telefone (und Laptops) in die Hände, die es im Jahr 1991 noch nicht gab, sondern erst zwei, drei Jahre später auf den Markt kamen. Das mag sein, aber der Blick auf die Kriege  unserer Tage (zum Beispiel in der Ost-Ukraine) zeigt, wie unbedeutend der Einwand gegen dieses enorme Buch ist: An dem moralischen Dilemma, vom sicheren Port einer hochentwickelten Gesellschaft aus hilflos zuzuschauen, wie sich in leicht erreichbarer Nachbarschaft die Völker an den Kragen gehen, ändern die exakten Verkaufsdaten bestimmter Handy-Typen nichts.

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Gespräch mit Ulla Hahn über “Spiel der Zeit”

Liebe in den Zeiten der Rebellion

Ulla Hahn gehört zu den bekanntesten Lyrikerinnen Deutschlands. Doch auch ihre Romane haben eine riesige Leserschaft gefunden. In Spiel der Zeit erzählt sie von der Studentenbewegung rund ums Jahr 1968. Es geht um die angeblich so große Rebellion, aber auch um die Tochter einer Arbeiterfamilie, die Kölsch spricht, Hochdeutsch lernt, Studentin wird und sich verliebt in einen Mann, der sie in eine großbürgerliche Welt versetzt. Es geht um das Trauma einer Vergewaltigung und um die glücklich wiedereroberte sinnliche Freude am Leben.

Ich treffe Ulla Hahn in Hamburg an einem der nördlichen Zipfel der Außenalster. Sie spricht, wie fast immer, klar, offen, entschlossen und zugleich in einem leise belustigten, ironischen Tonfall.

Uwe Wittstock: Mit Verliebten ist keine Revolution zu machen, schreiben Sie in Ihrem neuen Buch. Warum nicht?

Ulla Hahn: Weil Verliebte alles haben, was sie brauchen. Sie vermissen nichts. Man rebelliert, wenn man unzufrieden ist mit dem gegebenen Zustand. Doch dieser Stachel fehlt den Verliebten. Sie sind zu glücklich, um sich aufzulehnen.

Wittstock: Sie waren 1968 Studentin, sehr verliebt und sehr glücklich, das merkt man Ihrem autobiografischen Roman an. Aber zugleich hatten Sie einen Blick für soziale Missstände. Wollten Sie trotzdem nicht mitrebellieren?

Ulla Hahn: "Spiel der Zeit". Roman. DVA, München 2014. 24,99 Euro

Ulla Hahn: Die meisten 68er, die damals auf die Straße gingen, litten kaum unter sozialen Missständen. Im Gegenteil, es waren häufig Kinder aus Familien, die alles hatten. Sie waren materiell abgesichert, hatten beste Berufsaussichten und feierten eine Art politischen Karneval, bei dem sie nicht mit Bonbons, sondern mit halb verstandenen, angeblich revolutionären Begriffen um sich warfen. Mir als Kind aus einer Arbeiterfamilie konnte man damit nicht kommen. Mein Irrweg war später ein anderer. Warten Sie auf mein nächstes Buch!

Wittstock: Haben die 68er gesiegt? Sind sie gescheitert? Oder beides?

Ulla Hahn: Die im engeren Sinne politischen Ideen, die kommunistischen oder maoistischen Spinnereien, sind ausnahmslos gescheitert, Gott sei Dank. Vom antiautoritären Impuls jener Zeit hat sich manches durchgesetzt. Ob man das heute immer noch in jeder Hinsicht begrüßt, ist eine andere Frage. Die
68er haben mitgeholfen, das Land freier und lockerer zu
machen. Auf dieses liberale Klima würde heute, glaube ich, keiner verzichten wollen.

Wittstock: Trafen die Studenten bei diesen Lockerungsübungen auf Widerstand bei den sogenannten guten Bürgern?

Ulla Hahn: Kaum. Die meisten „guten Bürger“ waren mit Begeisterung dabei, wenn es um neue Mode, neue Musik und freie Liebe ging. Keiner wollte als Spießer gelten, jeder wollte dabei sein, wollte in sein und seinen Spaß haben. Auch die tonangebenden Schriftsteller dieser Zeit, die meist 20 Jahre älter als die Studenten waren, sprangen auf den Zug auf und setzten ihren Lesern plötzlich lauter politisierte Geschichten oder Statements vor. Sie lieferten eine Literatur, die jedem, der sich für einen Revolutionär hielt, jederzeit ein gutes Gewissen verschaffte.

Wittstock: War 1968 eine Rebellion ohne Gegner?

Ulla Hahn: Ich habe versucht, die Stimmung jener Zeit in meinem Roman einzufangen. Es gab nur wenige, die sich ihr entziehen konnten. Diese Stimmung des Aufbruchs in eine wunderbare utopische Zukunft hatte kaum etwas mit der Realität zu tun. Sie schwebte wie ein Traum, wie ein romantischer Traum über allem. Wenn man heute Reden von Rudi Dutschke hört, merkt man, dass es dabei kaum auf seine oft wirren politischen Thesen ankam. Die verstand ohnehin keiner. Es war sein Tonfall, der die Zuhörer mitriss. Er war ein Poet, er hätte ebensogut Gedichte vortragen können, große Oden.

Wittstock: Der Roman erzählt auch die Geschichte eines sozialen Aufstiegs vom Arbeiterkind zur Studentin mit großbürgerlichem Geliebten. Gab es für Sie Hilfe auf diesem Weg?

Ulla Hahn: Ohne Hilfe, nein besser: ohne Helfer geht das nicht. Es braucht Menschen, die einem die Hand hinstrecken und einen ein Stück weiterführen. Ich hatte ungeheures Glück, immer wieder solche Menschen zu treffen. Mir ging es auch darum, in meinem Buch diesen Menschen, vor allem Lehrern, ein literarisches Denkmal zu setzen. Lehrer werden gern kritisiert. Ich habe Grund, den meinen zu danken.

Wittstock: Sobald die Studentin im Roman ihre Familie besucht, spricht sie Kölsch. Wann haben Sie Hochdeutsch gelernt?

Ulla Hahn: Kölsch ist meine Muttersprache. Bis ich sechs Jahre alt war, wusste ich nicht, dass es so etwas gibt wie Hochdeutsch. Ich habe es mir dann auf der Realschule beigequält. Weil ich endlich so sprechen wollte wie die anderen. Ich wollte die schöne Sprache sprechen. Die Sprache, die ich heute schreibe, ist eigentlich gar nicht meine Muttersprache.

Wittstock: Nach Ihrem Weg vom Arbeiterkind zur Schriftstellerin: In welchem Milieu fühlen Sie sich heute zu Hause?

Ulla Hahn: Das ist nicht einfach. Wer sich verändert, lässt immer auch etwas zurück. Das ist mir beim Schreiben sehr klar geworden. Die Welt, in der meine Verwandten
leben, habe ich verloren. Und bin ich zu Hause in der Welt, in der ich jetzt lebe? Es bleibt da immer ein haarfeiner Riss. Was für die anderen selbstverständlich ist, lässt mich den Bruchteil einer Sekunde zögern. Dann spüre ich, wie schwer es für mich ist, ganz und gar
dazuzugehören. Ich kann damit umgehen, aber Aufstieg bedeutet immer auch Verlust. Und wie schwer, denke ich manchmal, muss ein ähnlicher Weg für Kinder mit Migrationshintergrund sein.

Wittstock: Ihr Roman spielt in der 68er-Zeit, ist aber auch ein Hohelied der Liebe. Und das, obwohl Ihre Heldin eine der schlimmsten Erfahrungen gemacht hat, die einer Frau
widerfahren können: eine Vergewaltigung.

Ulla Hahn: Über so etwas wie Vergewaltigung konnte man Anfang der 60er-Jahre nicht sprechen. Mit niemandem. Und weil man darüber nicht sprechen konnte, gab es auch keine Hilfe. Damit war man allein. Mit ihrem geliebten Freund kann sich meine Heldin endlich alles von der Seele reden, wie es so schön heißt, und dadurch wieder zu einer Einheit von Leib und Seele finden, also auch wieder sinnliche Freude am Leben haben. Und die genießt sie in vollen Zügen.

Wittstock: Ihr Buch ist eine Seltenheit. Es gibt nur sehr wenige Romane über die 68er-Zeit. Warum?

Ulla Hahn: Es ist nicht einfach, die einzigartige, seltsame und bedenkenlose Stimmung jener Jahre zu erfassen. Dieser maßlose Unsinn, den viele Leute damals nicht nur geredet, sondern auch geglaubt haben! Das ist womöglich eher peinlich, keiner möchte wahrhaben, was für himmelschreiend dumme Dinge er damals gesagt und gedacht hat.

Wittstock: Vielleicht ist es leichter, aus weiblicher Sicht über diese Zeit zu schreiben.

Ulla Hahn: Die Frauen sind die wahren Gewinner der 68er-Zeit. Vorher durften sie nicht einmal arbeiten, ohne ihren Mann um Erlaubnis zu fragen. Gewalt in der Ehe, um die Frau zum Geschlechtsverkehr zu zwingen, war in gewissen Grenzen erlaubt. Eine verheiratete Cousine von mir wurde, als sie viereinhalb Jahre
lang kein Kind bekommen hatte, vom Pfarrer streng befragt, ob sie etwa verhüte. All das gibt es heute nicht mehr, und dafür können wir auch den 68ern dankbar sein.

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Buch & Bar (5): Deon Meyer

Die heimlichen Vorlieben der Killer

Klar, Essen ist auch wichtig. Aber in dieser Kurz-Kolume BUCH & BAR geht es nur um Lesen und Trinken. Warum? Weil beides, in richtiger Qualität und Dosierung, einen kostbaren Fingerbreit über die klägliche Wirklichkeit hinausheben kann.

Heute: Über klug gemixtes Lesen und Trinken

Profikiller sind ja im Alltag eher selten. Ich jedefalls kenne keine, weiß also über das Verhalten der Spezies nichts zu berichten. In der Literatur sieht das anders aus. Das bevorzugte Habitat der Profikiller ist nämlich nicht das Leben, sondern der Thriller. Da trifft man sie auf Schritt und Tritt. Zum Beispiel in Deon Meyers starkem Polizeikrimi „Cobra“ (Rütten & Loening, 19,99 Euro). Bei ihm graviert eine Killertruppe sogar Schlangen als Markenzeichen auf ihre Patronenhülsen, was ich mir ein wenig mühsam vorstelle, die Polizeiarbeit allerdings enorm erleichtert. Doch, wie gesagt, ich kenne keine Killer, habe also keine Ahnung, ob sie vielleicht tatsächlich dazu neigen, ihr Arbeitsgerät liebevoll zu verzieren.

Deon Meyer: "Cobra". Übersetzt von Stefanie Schäfer. Rütten & Loening, Berlin 2014. 19,99 Euro

Wer aber bereit ist, diese Vorstellung von hobbykünstlerisch ambitionierten Auftragsmördern zu akzeptieren, kann viel Spaß haben mit diesem Buch. Denn es hat alles, was man von einem guten Krimi erwarten darf: Spannung, Tempo, farbige Charaktere aus unterschiedlichsen sozialen Milieus. Gerade Letzteres ist in diesem Fall besonders lehrreich. Denn Meyers Roman spielt in Kapstadt und zeichnet das Porträt eines Südafrikas, das bis heute von der Verrohung geprägt ist, die sowohl die Apartheid als auch der Aufstand dagegen ins Land trugen.

Kurz: „Cobra“ ist eine kluge Mixtur aus Gesellschaftsskizze und Krimi. Dazu passt ein klassischer Whiskey Sour, diese kluge Mixtur aus Bourbon, frisch gepresstem Zitronensaft und Zuckersirup. Er ist wie Meyers Roman ein Cocktail von der härteren Sorte, nicht gefällig, aber dennoch angenehm.

Die Kolumne erschien im Focus vom 24. Januar 2015. 
2014 startete meine Kurz-Kolumne Buch & Bar im Focus. Sie ist schon deshalb unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.

 

 

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Buch & Bar: Christoph Kucklick

Lieber HAL, künftig sage ich Sie zu Dir

Klar, Essen ist auch wichtig. Aber in dieser Kurz-Kolume BUCH & BAR geht es nur um Lesen und Trinken. Warum? Weil beides, in richtiger Qualität und Dosierung, einen kostbaren Fingerbreit über die klägliche Wirklichkeit hinausheben kann.

Heute: Lesen und Trinken in Zeiten von Big Data

1986 kaufte ich meinen ersten Laptop. Er hatte 1 MB Arbeitsspeicher. Ich nannte ihn HAL in Erinnerung an den mörderischen Rechner in Kubricks “2001“. Das fand ich lustig. Inzwischen bin ich bei HAL Nr. 9 angekommen, die Kästen sind kleiner, aber nicht harmloser geworden. Und ich habe Christoph Kucklicks Buch „Die granulare Gesellschaft“ (Ullstein, 18 Euro) gelesen. Jetzt überlege ich, HAL künftig lieber zu siezen, um mich bei ihm einzuschleimen.

Christoph Kucklick: "Die granulare Gesellschaft. Wie das Digitale unsere Gesellschaft auflöst". Ullstein Verlag, Berlin. 18 Euro

Kucklick gehört, was ein großer Vorzug ist, weder zu den Dämonisierern noch zu den Verharmlosern des digitalen Umsturzes. Sein Buch zeigt Chancen der schönen neuen IT-Welt. Aber auch den Berg, ach, was sage ich: den Himalaja noch ungelöster Fragen, die durch Big Data in den nächsten paar Jahren auf Justiz, Medizin, Sozialsysteme, Demokratie und manches andere zukommen. Ein winziges Beispiel: Sollen wir demnächst noch pauschale Beiträge an die Krankenkassen zahlen, obwohl sich ziemlich exakt berechnen lässt, welche Krankheitsrisiken sich aus unserem Lebenswandel ergeben? Wenn wir unsere Risiken individuell berechnen, können wir die Idee der Solidarität begraben. Aber wäre es nicht letztlich gerechter? Ein anderes Beispiel: Kürzlich ließ Verkehrsminister Dobrindt verlauten, bis zur nächsten IAA sollte die gesetzlichen Voraussetzungen für selbstfahrende Autos geschaffen werden. Bei Kucklick kann man nachlesen, welche philosophisch-moralisch-juristischen Grundlagen geklärt sein müssten, bevor selbstfahrende Autos auf die freie Wildbahn des Straßenverkehrs entlassen werden könnten. So müsste zum Beispiel ein gesellschaftliches Einvernehmen darüber hergestellt werden, ob der Computer in Fall eines unvermeidlichen Unfalls lieber gegen einen Brückenpfeiler steuern (und also die Insanssen gefährden) oder in eine Fußgängergruppe (und also deren Leben gefährden) soll. Wie eine öffentliche Debatte über die moralphilosophischen Richtlinien einer entsprechenden Programmierung unter Leitung von Minister Dobrindt aussieht, möchte ich gerne mal erleben.

Für Bücher wie das von Kucklick braucht man einen glasklaren Kopf. Deshalb bestellte ich in meiner Berliner Lieblingsbar, Victoria mit Vornamen, eine garantiert alkoholfreie Pink Lemonade: Grapefruitsaft, Grenadine und Soda. Sehr lecker. Und HAL musste zu Hause bleiben. Sehr gut.

(Der Ullstein Verlag hat die Video-Aufzeichnung eines ebenso aufschlussreichen wie empfehlenswerten Gespräches zwischen Sascha Lobo und Christoph Kucklick bei Youtube eingestellt: https://www.youtube.com/watch?v=yhOPgWK_Irs)

Die Kolumne erschien in gekürzter Form im Focus vom 17. Januar 2015.
Im Dezember 2014 startete meine Kurz-Kolumne Buch & Bar im Focus. Sie ist schon deshalb unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.
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