Die Insel mit direktem Blick aufs Jenseits
Sehnsucht nach der alten deutschen Innerlichkeit: Für seinen ersten Roman Kruso wurde Lutz Seiler mit dem Deutschen Buchpreis 2014 ausgezeichnet und hat sowohl dem Suhrkamp Verlag als auch dem Buchpreis selbst zu einem dringend benötigten Publikums-Erfolg verholfen.
Sobald die Fernsehleute und Fotografen aufstehen und die Schriftsteller durch die Sucher ihrer Kameras anvisieren wie Schützen über Kimme und Korn, wird es ernst bei der Buchpreis-Verleihung. Zuvor sind eine Stunde lang Reden zu hören, kurze Filme über die Autoren zu sehen, ein Juroren-Interview auf offener Bühne zu bestaunen. Die Anspannung steigt, und dann ist es so weit: Der Chef des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Heinrich Riethmüller, tritt hinter die Mikrofone, öffnet die ihm überreichte Urkunde und verkündet: „Den Deutschen Buchpreis erhält in diesem Jahr . . .“
„Jaaaah!!“ Im ehrwürdigen Kaisersaal des Frankfurter Rathauses wird nur selten geschrien. Es geht dort auch nicht oft ein derartiges Blitzlichtgewitter nieder wie im Oktober über den in der Sekunde zuvor gekürten Buchpreisträger des Jahres 2014 Lutz Seiler. Ein „großer Bahnhof“ sei das für ihn, sagte Seiler in seiner Dankesrede, doch die Lok, die ihn und seinen Roman bis dorthin zog, habe 128 Heizer – und ehrte so die 128 Mitarbeiter des Suhrkamp Verlags, die trotz endloser juristischer Kämpfe seit Jahren fabelhafte Arbeit leisten und nichts dringender brauchen als echte Verkaufserfolge.
Und einen Erfolg brauchte inzwischen auch der Deutsche Buchpreis selbst, dessen Ausstrahlungskraft auf das Publikum in den letzten Jahren spürbar nachgelassen hatte. Doch die Chancen dafür waren gut: Unter den Preisträgern der vergangenen Jahre gelang es gerade den Romanen Der Turm von Uwe Tellkamp und In Zeiten des abnehmenden Lichts von Eugen Ruge, nicht nur die Herzen der Preisjuroren, sondern auch die des Publikums zu gewinnen – und beide berichteten von Leben und Familienverhältnissen in der untergegangenen DDR. Von der DDR, genauer: vom letzten Sommer dieses Landes 1989, erzählt auch Lutz Seiler in Kruso. Sein Held heißt Edgar Bendler, wird Ed genannt, ist ein 24 Jahre alter Student der Literatur und hat seine Freundin G. verloren. Als ihm auch noch die Katze Matthew davonläuft, macht er sich auf an den äußersten Rand des damals noch zugemauerten Landes: zur Ostsee-Insel Hiddensee. Und tatsächlich hat dann auch Seilers Roman für den Suhrkamp Verlag und für das leicht angekratzte Image des Buchpreises einen schönen Publikums-Erfolg eingefahren.
Da Ed kein Geld für Urlaub hat, heuert er als Tellerwäscher und Zwiebelschäler bei der Gaststätte „Zum Klausner“ im Norden der Insel an. Während der Ferienwochen arbeiten dort fast nur Ungelernte, die im DDR-Jargon „Saisonkräfte“, abgekürzt „Esskaas“, genannt werden. Fast alle sind – wie Ed – literarisch gebildete Sonderlinge, die sich in der realsozialistischen Gesellschaft ihres Landes weder zu Hause fühlen noch sie verlassen wollen, sondern nach einem Lebensversteck suchen: „Ich möchte“, meint Ed, „einen Platz auf der Welt, der mich aus allem heraushält.“
Der Anführer dieser Esskaas ist Alexander Dimitrijewitsch Krusowitsch, genannt Kruso, mit offenkundig russischen Wurzeln und perfekten Deutschkenntnissen. Auch er ist wie Ed der Poesie verfallen, und bald schon pflegen sie nicht nur eine in Lyrik vernarrte, sondern auch eine unverkennbar homoerotische Freundschaft.
Das Buch steckt voller literarischer Anspielungen: Der Name des „Inselkönigs“ Kruso verweist natürlich auf den berühmtesten aller einsamen Inselbewohner, Robinson Crusoe, refrainartig zitiert Lutz Seiler Gedichte Georg Trakls (1887–1914), und seinen Helden hat er vielleicht deshalb Ed getauft, weil der bekannteste aller Sozialaussteiger der DDR-Literatur in Ulrich Plenzdorfs Bestseller „Die neuen Leiden des jungen W.“ Edgar Wibeau hieß.
Vor allem aber gibt Seiler seinem Roman eine mythologische Dimension: Hiddensee ist in seinem Roman nicht einfach eine Ostsee-Insel am Rande der DDR, sondern zugleich ein letzter Vorposten am Rande des Lebens. Von hier aus, so predigt Kruso seinem Bewunderer Ed während eines Strandspaziergangs, „schaut man weit hinaus, bei guter Sicht bis ins Jenseits“. Und als Kruso gegen Ende des Romans mehr tot als lebendig von einem sowjetischen Panzerkreuzer von der Insel abgeholt wird, setzen ihn die Matrosen vom Festland zum Schiff über wie der griechische Fährmann Charon die Toten über den Fluss Acheron.
Dieses Buch ist nichts für Leser, die nach einem realistischen oder psychologischen Roman Ausschau halten. Wohl aber etwas für jene, die Eds Sehnsucht nach alter deutscher Innerlichkeit teilen, die sich an seinem radikalen Rückzug aus einer unfriedlichen Welt freuen und bereit sind, an Krusos ostalgischen Lehrsatz zu glauben: „Der Keim der wahren Freiheit, Ed, gedeiht in Unfreiheit.“