Wer verleiht Flügel?
Natürlich die Dichter!
Klar, Essen ist auch wichtig. Aber in dieser Kurz-Kolume BUCH & BAR geht es nur um Lesen und Trinken. Warum? Weil beides, in richtiger Qualität und Dosierung, einen kostbaren Fingerbreit über die klägliche Wirklichkeit hinausheben kann.
Heute: Über Wermut und Anmut beim Lesen und Trinken
Der Innenminister kam an,
schwungvoll wie immer,
nur wir nahmen keine Notiz von ihm.
Die meisten von uns waren beschäftigt
mit ihren Bandscheiben,
oder hatten ihre Geheimzahl vergessen.
Sechs Zeilen, die dem schwungvollen Minister die Luft ablassen. Hans Magnus Enzensberger kann das fabelhaft: In alles, was sich aufbläst pikst er rein mit seinen „Gedichten 1950-2015“ (Suhrkamp, 10 €). Klar, so ganz fair ist das nicht. Auch Minister werden ja irgendwie gebraucht. Wenn sie sich mal wieder wichtig tun, sollten wir wohl Geduld mit ihnen haben. So wie mit unseren Bandscheiben oder unserem Gedächtnis, wenn es die Geheimzahl verkramt.
Enzensberger ist der Dandy unter den deutschen Dichtern und mit 85 jünger als nahezu alle, die Jahrzehnte nach ihm kamen. Seine Gedichte sind voller Freimut, Anmut, Übermut, voller Intelligenz, Witz, Eleganz. Wer sie nicht liest, macht einen Fehler, denn sie bringen eine kluge Leichtigkeit ins Leben.
Manche davon schlürfe ich wie einen Dry Martini. Der gilt auch als ein bisschen oldfashioned, und ist doch jünger geblieben als viele andere, die nach ihm kamen. In meiner Berliner Lieblingsbar namens Victoria wird er aus drei Zutaten gemacht: Aus viel Gin, wenig Wermut und Kälte. Dazu gibt‘s noch ein Glas Eiswasser, damit er einen nicht gleich vom Hocker haut.
Die Kolumne erschien im Focus vom 21. Februar 2015. 2014 startete meine Kurz-Kolumne Buch & Bar im Focus. Sie ist schon deshalb unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das, worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.