Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki

Zwei Platzhirsche

Nicht als Nachruf, aber aus Anlass des Todes von Günter Grass: Ein Auszug aus meiner Biographie Marcel Reich-Ranicki, die in der kommenden Wochen am 20. April im Blessing Verlag erscheinen wird. Über das eigenwillige Verhältnis zweier großer Männer des deutschen Literaturbetriebs.

Das Verhältnis zwischen Günter Grass und Reich-Ranicki war von Beginn an durch Misshelligkeiten und Rivalitäten gekennzeichnet. Reich-Ranicki lernte Grass, wie zwei Jahre zuvor Heinrich Böll, bereits 1958 in Polen kennen. Während jedoch Böll ihre Begegnung in Warschau in angenehmer Erinnerung behielt, verlief das erste Zusammentreffen mit Grass weniger harmonisch. Nicht einmal über dessen Verlauf können sich die beiden Beteiligten einigen. Reich-Ranicki erzählt in seiner Autobiographie Mein Leben, er habe Grass auf Bitten eines Freundes im Warschauer Hotel Bristol getroffen, doch Grass sei „nachlässig gekleidet und auch nicht rasiert“ und keineswegs nüchtern gewesen: „Er hatte, was er mir freilich erst zwei Stunden später sagte, zum einsamen Mittagessen eine ganze Flasche Wodka getrunken.“ Deshalb, aber auch weil Reich-Ranicki vor allem über Literatur reden wollte, wozu Grass wenig Lust hatte, verlief das Gespräch stockend, und nach einem Spaziergang verabschiedeten sich die beiden rasch und ohne Bedauern voneinander. Danach rief Reich-Ranicki jenen Freund an, der das Treffen vermittelt hatte, und teilte ihm mit, Grass sei im Hotel nicht zu finden gewesen, der einzige Mann, der im Foyer „saß, habe nicht wie ein Schriftsteller aus dem Wirtschaftswunderland ausgesehen, sondern wie ein ehemaliger bulgarischer Partisan“.

Uwe Wittstock: "Marcel Reich-Ranicki. Die Biographie". Karl Blessing Verlag, München 2015. 19,99 Euro

In Grass’ Bericht über dieselbe Begegnung ist weder von Alkohol noch von einem Gespräch die Rede, vielmehr habe Reich-Ranicki ihn „einer Art Verhör“ zur deutschen Literatur unterzogen: „Aber ich war damals sehr frech und habe auf so etwas allergisch reagiert. Er sagte zum Beispiel: Kennen Sie Hesse? Und ich sagte: Hesse? Hesse? Hat der nicht irgendwas über eine Glasfabrik geschrieben? Darauf er: Sie meinen das Glasperlenspiel!“ Auch auf Reich-Ranickis Frage nach dem Roman, an dem er schreibe, Die Blechtrommel, habe Grass abwehrend reagiert und lediglich „im Spiegel-Stil eine Inhaltsangabe gegeben: Junge, dreijährig, stellt Wachstum ein.“ Wenig später hätten sich die beiden getrennt – doch Grass habe, erzählt er weiter, kurz darauf einen Anruf jenes Freundes erhalten, der den Kontakt zu Reich-Ranicki hergestellt hatte und der ihn nun am Telefon konsterniert fragte: „Was hast Du denn mit dem Ranicki angestellt? Der hat mich eben angerufen und hat gesagt: Pass auf, das ist kein deutscher Schriftsteller, das ist ein bulgarischer Agent.“ Und bulgarische Agenten hatten zu jener Zeit einen sehr speziellen Ruf, denn kurz zuvor hatten Angehörige des bulgarischen Geheimdienstes in London mit einem Regenschirm, dessen Spitze vergiftet war, einen Mord begangen, der weltweites Aufsehen erregte.

Schon wenige Monate später begegneten Grass und Reich-Ranicki einander wieder bei dem Treffen der Gruppe 47 in Großholzleute 1958. Reich-Ranicki hatte den endgültigen Absprung nach Westdeutschland gewagt, und Grass erlebte hier mit seiner Lesung aus der Blechtrommel die Initialzündung zu seiner Weltkarriere. Aber ihr Verhältnis wurde deshalb nicht unkomplizierter: In seinem Bericht über die Tagung lobte Reich-Ranicki die gehörten zwei Kapitel des Romans: „Grass schreibt eine unkonventionelle, kräftige, ja sogar wilde Prosa.“ Doch die Besprechung des ganzen Buches für die Zeit geriet ihm dann fast zu einem Verriss: „Seine große stilistische Begabung wird dem Grass zum Verhängnis. Denn er kann die Worte nicht halten.“ Drei Jahre später wiederum korrigierte Reich-Ranicki diese Rezension behutsam: Was er geschrieben habe, sei „im großen und ganzen richtig. Dennoch könnte ich diese Kritik nicht mehr unterschreiben. Ich würde heute die Akzente anders setzen und mich insbesondere mit dem Neuartigen in der Prosa von Grass eingehender befassen.“

In den folgenden Jahren und Jahrzehnten nahm der Konfliktstoff zwischen beiden nicht ab. In der Gruppe 47 zum Beispiel beteiligte sich Grass als Autor gern und oft an den Debatten über die Lesungen seiner Kollegen, war aber nur in seltenen Fällen der gleichen Meinung wie der mindestens ebenso engagiert diskutierende Reich-Ranicki. Außerdem gehört Grass zu jenen Autoren, die das kollegiale Werkstattgespräch aus der Frühzeit der Gruppe bevorzugten und wenig von der professionellen „Fachkritik“ der späten Jahre halten. Dennoch betonte Grass, Reich-Ranicki und er hätten sich „befreundet in dieser Zeit.“ Reich-Ranicki dagegen, und das belegt noch einmal, wie unterschiedlich die Wahrnehmungen dieser beiden Menschen sind, gewann den Eindruck, Grass habe sich darum bemüht, „dass man mich wieder rausschmeißt aus der Gruppe“ – wofür sich in den veröffentlichten Briefen von und an das Gruppen-Oberhaupt Hans Werner Richter allerdings keinerlei Hinweis findet.

Auch die Rezensionen Reich-Ranickis über die Bücher von Grass waren nicht minder konfliktträchtig, denn wieder einmal erwies er sich als ein Kritiker, der sich nicht zu den konsequenten Anhängern oder Widersachern eines bestimmten Autors zählen lässt, sondern der von Buch zu Buch zu mitunter extrem unterschiedlichen Urteilen kommt: So lehnte er die Theaterstücke von Grass ab, lobt aber dessen Lyrik, erklärte den Butt für weitgehend gescheitert, feierte jedoch begeistert Das Treffen in Telgte, nannte Die Rättin „ungenießbar“, die Unkenrufe ein „Malheur“, Ein weites Feld „missraten“ und zählt Grass dennoch zu den „größten Meistern der deutschen Sprache unserer Zeit“. Das Titelbild des Spiegel-Heftes, in dem seine Kritik zu Ein weites Feld erscheint, zeigt Reich-Ranicki überdies in einer Fotomontage, die den Eindruck erweckt, als reiße er ein Exemplar des Romans auseinander. Damit habe sich Reich-Ranicki, so meint Grass, durch den Spiegel „missbrauchen“ lassen, zu einem symbolischen Akt von Büchervernichtung, der „weit über eine Literaturkritik hinausgeht“.

Mit merklicher Genugtuung erfüllt Grass jedoch, dass er den Kampf um die Gunst des Publikums trotz allem gewonnen hat und binnen weniger Monate von seinem Roman über eine viertel Million Exemplare verkauft wurden. Reich-Ranickis Talent, die Lesermassen in seinem Sinne zu lenken, stieß bei diesem Buch offenkundig an seine Grenzen.

Am deutlichsten wurde die Rivalität der beiden Männer wohl bei einem Schlagabtausch 1994: Grass beklagte damals in einer Rede, dass Kritiker inzwischen größere Aufmerksamkeit genössen als Schriftsteller. Das Rezensionsgewerbe habe sich in der Öffentlichkeit gleichsam vor die zu rezensierenden Bücher gedrängt: „Es herrscht nicht nur vor, es beherrscht den Betrieb.“ Und er verschwieg nicht, welchen Kritiker er bei diesem Angriff vor allem im Sinn hatte: „Der einzelne Entertainer, der sich als Quartett aufspielt, der literarische Stammtisch gibt den Ton an.“Reich-Ranicki nahm den Fehdehandschuh auf und antwortete mit einer Polemik in der Frankfurter Allgemeinen. Es sei wahr, schrieb er, „dass sich bei uns gelegentlich ein Missverhältnis zwischen dem Primären und dem Sekundären bemerkbar macht. Alle wissen wir, dass nicht 
nur Grass in eine Krise geraten ist, sondern die ganze deutsche Gegenwartsliteratur. (…) Ein Zeichen der Krise mag es auch sein, dass die deutschen Kritiker bisweilen besser schreiben als die Autoren, mit denen sie sich beschäftigen. Was Grass so ärgert, trifft teilweise zu: Für manche Kritiker interessiert man sich heutzutage mehr als für diesen oder jenen Schriftsteller, der uns in den sechziger, in den siebziger Jahren entzückt hat. So ist das: Wenn Seuchen um sich greifen, werden die Ärzte immer wichtiger.“ Stritten hier zwei Platzhirsche des Literaturbetriebs um die Vorherrschaft im Revier?

Nachdem Grass 1999 den Literaturnobelpreis erhalten hatte, entspannte sich die Situation zwischen den Kontrahenten, Reich-Ranicki gratulierte Grass öffentlich, und 2003 begegneten sie sich im Lübecker Grass-Haus, obwohl zuvor jahrelang jedes Gespräch zwischen ihnen nahezu unmöglich schien. Dennoch hält Grass an seiner Kritik fest: „Ich glaube schon“, sagt er über Reich-Ranicki, „dass er sich als ein Kritiker versteht in der Schlegelschen Tradition: Kritik als Kunstform, gleichberechtigt neben der Literatur, und in dürren Zeiten der Literatur überlegen. Es ist eine gewisse Hybris bei ihm da.“ Zwar hat Reich-Ranicki die betreffenden Thesen Friedrich Schlegels ausdrücklich zurückgewiesen, mehr noch, er hat auch Alfred Kerrs „waghalsigen Versuch, die Kritik zur gleichberechtigten poetischen Gattung zu erheben“, immer wieder abgelehnt und als „Irrweg“ bezeichnet. Doch setzte er in Grass’ Augen die löbliche Absicht, lediglich ein Diener der Literatur sein zu wollen, nicht oft und nicht konsequent genug in die entsprechenden Taten um.

Vorab-Veröffentlichung aus der Biographie “Marcel Reich-Ranicki”, die am 20. April im Blessing Verlag, München, erscheinen wird. Einige der hier angeführten Zitate von Günter Grass stammen aus einem Gespräch, das ich mit dem Schriftsteller über Reich-Ranicki führte. Sie sind im Buch mit Fußnoten gekennzeichnet. Es beschäftigen sich noch andere Passagen der Biographie mit dem spannungsreichen Verhältnis zwischen Grass und Reich-Ranicki.

 

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2 Antworten auf Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki

  1. Tja, und heute? Beiden ging’s auch um Macht, wenn es ihnen um Literatur ging. Und heute ist in dem Feld vielleicht einfach keine Macht mehr. Wir werden morgen im Perlentaucher aus dem Kapitel zitieren!

    • Uwe Wittstock sagt:

      Ja, Autoren haben heute weniger Macht. Ihre Stimme wird mehr und mehr zu einer unter vielen. Die Diversifikation des Medienmarktes geht auch an ihnen nicht vorüber.

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