Buch&Bar 64: William Makepeace Thackeray “Das Buch der Snobs”

Als der König von Spanien einmal teilweise geröstet wurde

Heute: Über Spaß mit Snobs beim Lesen und Trinken

William Makepeace Thackeray: "Das Buch der Snobs". Manesse Verlag. Nachwort von Asfa-Wossen Asserate. Übersetzung: Gisbert Haefs. Manesse Verlag. 22,95 Euro

Mir ist mal eine Kollegin begegnet, wie während der Buchmesse in Frankfurt bei Freunden wohnte, da ihr Hotels zu teuer waren. Doch auf den Messepartys würdigte sie ihre Freunde keines Wortes, denn die spielten im Literaturbetrieb keine sehr bedeutende Rolle. Sie war der perfekte Snob. Sie wollte nur mit den Stars der Szene gesehen werden. Wen sie nicht für wichtig hielt, der war für sie unsichtbar.

Herrlich ist es natürlich, wenn Snobs über den eigenen Snobismus stolpern und so richtig tief und schmerzhaft stürzen. In seinem „Buch der Snobs“ (Manesse, 22,95 Euro) erzählt William Makepeace Thackeray eine Menge solcher wonniger Geschichten. Die Unfähigkeit des Snobs, über seinen hochnäsigen Schatten zu springen und mit Menschen niederen sozialen Ranges auch nur zu sprechen, liefert dabei prächtige Pointen. Zum Beispiel die von dem spanischen König, dessen Mantel Feuer fing und der „teilweise geröstet wurde, weil die Zeit zu knapp war, als dass der Premierminister dem Obersten Kammerherren hätte befehlen können, den Bewahrer des Großen Goldzepters zu ersuchen, den Ersten Diensttuenden Pagen anzuweisen, den Hauptlakaien zu bitten, der Ehrenzofe aufzutragen, dass sie einen Wassereimer bringe, Seine Majestät zu löschen.“

Was Snobs trinken, ist mir egal. Aber den galligen Geschmack, den die Begegnung mit ihnen hinterlässt, kann man gut mit dem starken Bitterschnaps Becherovka runterspülen, pur und eiskalt.

 

2014 startete BUCH & BAR. Die Kolumne ist schon deshalb absolut unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.

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Zum Todestag: Gespräch mit Günter Grass

„Ich möchte als Kuckuck wiedergeboren werden“

Im Mai 2014, knapp ein Jahr vor seinem Tod, sprach ich für den Focus mit Günter Grass: über seine Ängste am Lebensende, Versagen in der Nazi-Zeit und sein Engagement für die SPD. Hier ist es noch einmal zur  Erinnerung an seinen Todestag vor einem Jahr.

Vor dem Hund hatte man uns gewarnt. Minka belle gern laut und viel. Wir sollten uns nicht erschrecken. Als wir bei Günter Grass ankamen, der Fotograf Parwez Mohabat-Rahim und ich, gab es keinen Grund zu erschrecken. Grass stand vor seinem Haus, das wie eingebettet liegt im lichten Wald zwischen Ratzeburg und Mölln. Minka hielt sich neben ihm, Grass stricht ihr über den Kopf. Der Hausherr sah uns aufmerksam entgegen, der Hund gelangweilt – ein Bellen waren wir ihm nicht wert.

Es war im Mai vergangenen Jahres. Ein paar Wochen hatte es gedauert, bis sich im dicht getakteten Terminkalender des damals 86-jährigen Nobelpreisträgers eine Lücke fand für ein Gespräch. Ich hatte kein Geheimnis daraus gemacht, worüber ich mit ihm sprechen wollte: über das Sterben, über sein Verhältnis zum Tod, über letzte Dinge. Doch Grass war nicht der Mann, Ziel und Zweck eines Gesprächs ganz aus der Hand zu geben. Er bat uns in sein Atelier, ein geräumiges zweistöckiges Nebengebäude, gerade weit genug vom Haus entfernt, um ungestört arbeiten zu können. Im vorderen Teil war es die Werkstatt des Zeichners und Bildhauers Günter Grass, im hinteren Teil, ein paar Stufen tiefer, die Schreibstube des Schriftstellers Günter Grass.

Im Aschenbecher lagen hier gleich zwei Pfeifen, die er nun abwechselnd stopfte, rauchte und abkühlen ließ. Keine Antwort ohne Rauchwolke, es war, als würde er seine Sätze mit Rauch in die Luft malen. Über seinen Roman „Hundejahre“ wollte er sprechen, den er gerade für eine Neuausgabe mit Radierungen illustriert hatte. Auf manchen der Bilder glaubte ich Züge von Minka wiederzuentdecken.

Uwe Wittstock: Herr Grass, In Ihrem Roman „Hundejahre“ gibt es den ehemaligen SA-Mann Matern, dem Hitlers Schäferhund Prinz hartnäckig nachläuft. Matern kann das Tier ebenso wenig abschütteln wie die Erinnerung an seine Nazi-Vergangenheit. Sie sind ja als 17-Jähriger eingezogen worden zur Waffen-SS. Steckt in Matern auch etwas von einem Selbstporträt?

Günter Grass: Nein, das kann ich nicht sagen. Was mich bedrückt hat, waren die Erinnerungen an den Schüler Günter Grass, der geschwiegen hat: zur Erschießung eines Onkels, der das polnische Postamt in Danzig gegen deutsche Angreifer verteidigt hatte; zum Verschwinden eines Mitschülers; zur Abwesenheit eines Lehrers, der für Monate im KZ Stutthof gewesen war. Ich habe keine Fragen gestellt. Das sind die Dinge, die mir nachgegangen sind. Die wenigen Wochen, die ich an der Front war, hießen Rückzug und Angst in einem zusammengewürfelten Haufen. Die SS-Einheit war nach kurzer Zeit auseinandergesprengt, da kam Volkssturm dazu und Personal eines aufgelösten Flughafens. Das hat bei mir nicht zu Schuldgefühlen geführt. Entsetzt war ich, als ich in der Gefangenschaft Bilder aus dem KZ Bergen-Belsen sah. Da habe ich zum ersten Mal in vollem Ausmaß begriffen, was geschehen war. Was Deutsche getan hatten.

Wittstock: Also gab es doch Erinnerungen an Mitschuld, die Ihnen nachgingen, so wie Matern der Hund nachläuft?

Günter Grass: Der Begriff Schuld ist falsch. Was ich spürte beim Schreiben der „Hundejahre“ und vieler anderer Bücher später, ist die bleibende Mitverantwortung. Ich habe auf kleine, passive Art und Weise als Schüler durch Nicht-Fragen, durch Nicht-wissen-Wollen dazu beigetragen, Hitlers Herrschaft zu ermöglichen. Darin sehe ich Mitverantwortung, aber nicht Mitschuld.

Wittstock: Sie haben Ihre Waffen-SS-Mitgliedschaft sehr spät, aber immerhin aus eigenem Antrieb öffentlich gemacht. Und wurden doch scharf kritisiert. Danach wirkten Sie beleidigt . . .

Günter Grass: Ich bin unter die Heuchler geraten. Es wurde die Gelegenheit wahrgenommen, alte Rechnungen zu begleichen, nicht zuletzt Rechnungen auf Grund meiner politischen Haltung und meines hartnäckigen politischen Engagements.

Wittstock: Ihr heftigstes politisches Engagement galt Willy Brandt. Sie haben Wahlkampf für ihn betrieben und an Reden mitgearbeitet. Ihr Briefwechsel mit Brandt wurde jetzt veröffentlicht. Verliert der Autor nicht die nötige kritische Distanz, wenn er einem Politiker so nahe kommt?

Günter Grass: Der Briefwechsel beweist, dass die kritische Distanz nicht verloren ging. Zum Beispiel sprach ich mich 1966 energisch gegen die erste Große Koalition aus. Brandt und ich haben das beide als Probe verstanden, ob unsere junge Bekanntschaft so eine Meinungsverschiedenheit aushält.

Wittstock: Warum wurde gerade Willy Brandt so wichtig für Sie?

Günter Grass: Ich habe ihn bewundert, aber nicht blindlings. Für seine Klarsicht als 19-Jähriger, die ihn zur Flucht vor den Nazis trieb. Aber auch für seine Ausdauer: Obwohl er drei Anläufe brauchte, um Parteivorsitzender zu werden, und später auch drei, um das Amt des Bundeskanzlers zu erreichen, hat er sich nicht beirren lassen. Und nicht zuletzt bewunderte ich ihn für seine mutig geäußerte Einsicht: Wer etwas an der deutschen Teilung ändern will, muss aufhören, die Gegenseite als Feind zu betrachten, sondern in ihr einen Gegner sehen, mit dem man reden muss. Das ist in etwa die Situation, die wir heute in der Ukraine haben. In diesem Sinne ist Steinmeier heute ein guter Schüler Brandts, das ist an seiner Handlungsweise und seiner Argumentation zu merken.

Wittstock: Die meisten deutschen Autoren sind Ihrem Vorbild nicht gefolgt, sondern haben das politische Tagesgeschäft über Jahrzehnte konsequent gemieden. Warum?

Günter Grass: Vielleicht weil ihnen die Triebkraft des gebrannten Kindes fehlt. Sie sind in Frieden und Wohlstand aufgewachsen und haben nie am eigenen Leib erlebt, was Politik bedeuten kann. Eine Bereicherung ohnegleichen für die deutsche Literatur sind da Autoren mit ausländischen Wurzeln. Sie bringen über die Geschichte ihrer Familien nicht selten Erfahrungen von großer Dringlichkeit mit, die sie ihr Leben lang nicht loswerden, Erfahrungen mit Diktaturen oder Kriegen, wie dem in Jugoslawien. Und eine solche, sie nicht verlassende Thematik zwingt sie zum Schreiben.

Wittstock: Birgt die Vermischung von Literatur und Politik nicht letztlich Gefahren für die Literatur? Ihr Israel-Gedicht „Was gesagt werden muss“ ist oft auch aus literarischen Gründen kritisiert worden. Es sei ein schlechtes Gedicht, eher ein Leitartikel als Poesie.

Günter Grass: Ich habe meine Kritik an Israel nicht nur in Gedichtform, sondern auch in Reden oder Essays geäußert – und kein Hahn hat danach gekräht. Es war für mich in diesem Fall überraschend, welche Sprengkraft ein Gedicht haben kann. Vielleicht war die Form also doch wichtig. Ich halte es für falsch, eine Trennlinie zwischen Literatur und Politik ziehen zu wollen. Jeder Schriftsteller, ob jung oder alt, muss eigentlich bemerken, dass selbst die privateste Geschichte nicht frei ist von politischen Umständen. Wenn die komplizierten und oft verqueren Zwänge unseres politisch eingefärbten Alltags ausgespart werden, hängt die Geschichte in der Luft, dann wird sie bodenlos. Der Alltag wird nicht nur durch Kommunismus oder Nationalismus ideologisch verformt, sondern auch durch den Kapitalismus. Die Marktgläubigkeit hat religiöse Züge angenommen.

Wittstock: Doch die politische Enthaltsamkeit der jüngeren Autoren scheint vorbei zu sein. Eine Gruppe deutscher Schriftsteller hat jetzt jedenfalls einen Protestbrief gegen die Überwachungspraxis der NSA formuliert, der inzwischen weltweit aufgegriffen wurde.

Günter Grass: Ja, aber wie hat die deutsche Politik darauf reagiert? Juli Zeh und Ilija Trojanow, zwei Schriftsteller, die ich hoch schätze, machen sich Sorgen wegen der  umfassenden Bespitzelung durch unsere amerikanische Schutzmacht. Sie schreiben einen höflich und genau formulierten Brief an die Bundeskanzlerin, der von 67 000 Menschen im Internet unterschrieben wird. Doch bis heute haben sie keine Antwort von der Bundeskanzlerin. In diesem Schweigen drückt sich eine skandalöse Missachtung der Autoren und ihrer Unterstützer aus.

Wittstock: Erleben wir hier die Ablösung einer älteren, politisch engagierten Schriftstellergeneration durch eine jüngere?

Günter Grass: Ich hoffe es. Aber ich betone: Dazu gehört langer Atem. Man darf sich von der Missachtung durch die Kanzlerin nicht enttäuschen lassen. Sie versucht gern, Dinge auszusitzen. Man muss jetzt weiterbohren und auf der Beantwortung des Briefes bestehen, was Juli Zeh mit einem erneuten Brief auch getan hat. Wenn ich jünger wäre, würde ich ein Zelt aufschlagen vor dem Bundeskanzleramt und warten, bis ich eine Antwort bekomme.

Wittstock: Was empfinden Sie bei dieser Wachablösung?

Günter Grass: Es gibt Unterschiede in der Motivation zwischen diesen beiden Generationen. Uns ging es primär um die Vergangenheit, von der nicht nur wir Schriftsteller, sondern das ganze deutsche Volk immer wieder eingeholt wurde. Bei der jüngeren Generation ist es der Gedanke an die Zukunft, der sie umtreibt: Ob es die Durchleuchtung der Gesellschaft durch Geheimdienste ist, der Klimawandel oder die Entmachtung der Parlamente durch den Lobbyismus. Ihre Triebkraft ist die Sorge um die Zukunft, diese Sorge hat sie aufwachen lassen.

Wittstock: Wie weit geht diese Wachablösung bei Ihnen persönlich? Sie haben kürzlich gesagt, dass Sie wohl keinen Roman mehr schreiben werden.

Günter Grass: In meinem Alter wäre es vermessen, wenn ich nicht bemerkte, dass meine Tage gezählt sind. Für einen Roman brauche ich Jahre. Heute fehlen mir die Lebenszeit und die Kraft, ein solches Projekt anzugehen. Aber deshalb höre ich nicht auf zu schreiben. Ich habe als Autor mit Lyrik angefangen, und Lyrik schreibe ich auch jetzt. Und ich zeichne weiter. Ich wüsste sonst nicht, was ich tun sollte, ich würde den Menschen nur zur Last fallen.

Wittstock: Ist Ihnen der Gedanke an den Tod nähergekommen?

Günter Grass: Ja, ganz gewiss. Ich habe mehr Zeit, mich mit meiner Endlichkeit zu befassen. Da ich ein Mensch bin, der ganz aufs Irdische konzentriert ist, also auf das, was ich während meiner Lebenszeit tun kann, ist für mich die Frage, was danach kommt, eigentlich uninteressant.

Wittstock: Haben Sie Angst vor dem Tod?

Günter Grass: Ich spüre bisher keine. Angst habe ich vor Schmerzen. Wenn mir die erspart blieben, wäre ich dankbar. Auch die Vorstellung, ich könnte dement werden und für meine Familie nur noch eine Belastung sein, ist für mich schrecklich. Noch entsetzlicher wäre die Vorstellung, in dementem Zustand auch noch der Öffentlichkeit quasi vorgeführt zu werden – so wie es Walter Jens geschehen ist. Einer der peinlichsten Vorgänge, die ich je erlebt habe.

Wittstock: Gibt es für Sie religiöse Gewissheiten, die beim Gedanken an den Tod Trost geben?

Günter Grass: Nein. Allenfalls in Märchenform: Im Buddhismus ist ja davon die Rede, nach dem Tod in anderer Gestalt wiedergeboren zu werden. Mich reizt der Gedanke: Was wäre wünschenswert? Welches Getier, welche Pflanze möchtest du sein? Eine Amöbe?

Wittstock: Welche Gestalt würden Sie sich wünschen?

Günter Grass: Ich mag den Vogel, der das Frühjahr verkündet und den Leuten jedes Jahr wieder Versprechungen macht mit seinen Rufen, den Kuckuck. Auch seine Unart, seine Eier in die Nester anderer Vögel zu legen, ist eine verführerische Vorstellung.

Wittstock: Was war Ihnen das Wichtigste im Leben?

Günter Grass: Meine Anfänge in der Literatur waren artistischer, spielerischer, verspielter Art, in der Lyrik, auch im Theater. Bis ich bemerkt habe, dass ich auf Grund meiner Erfahrungen und der Zeit, in der ich lebe, mit politischen Themen konfrontiert bin. Wenn ich jetzt Bilanz ziehe, kann ich sagen, ich bin diesen Themen nicht ausgewichen. Ich bin drangeblieben. Das war mein Leben.

Wittstock: Gibt es etwas, das Sie bereuen?

Günter Grass: Meine Mutter ist im Alter von 57 Jahren gestorben. Sie hat an mich auf aberwitzige Weise geglaubt – trotz vieler Ängste, weil ich den Hungerberuf des Künstlers ergreifen wollte gleich nach Kriegsende. Sie ist zu früh gestorben, als dass ich ihr hätte beweisen können, dass aus ihrem Jungen was wird. Ich hatte ihr alles Mögliche versprochen, vor allem Reisen. Diese Versprechungen habe ich nicht erfüllen können. Das nagt.

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Buch&Bar 63: Mario Vargas Llosa “Sonntag”

Die Schrecken der Liebe und der Trunkenheit

Heute: Über hochdramatisches Lesen und Trinken

Mario Vargas Llosa: "Sonntag". Erzählung. Übersetzt von Thomas Brovot; Illustrationen von Kat Menschik. Insel Verlag. 16 Euro

Verliebt zu sein ist einer der gefährlichsten Seelenzustände. Er verleitet zu größten Heldentaten und absurdesten Dummheiten. Aber nicht nur verliebt, sondern auch noch jung zu sein und dazu überdies einen öden Sonntagnachmittag überstehen zu müssen, das ist wie Kettenkarussellfahren mit angesägten Ketten.

Mario Vargas Llosa, der nobelpreisgeschmückte Grandseigneur der südamerikanischen Literatur, führt das in seiner kleinen, aber fabelhaften Erzählung „Sonntag (Insel Verlag, 16 Euro) vor. Der junge Miguel liebt ein blühend schönes Mädchen, das naturgemäß Flora heißt. Aber dummerweise hat sich auch sein Freund Rubén in sie verliebt. Miguel will ihn um jeden Preis daran hindern, Flora an diesem leeren Sonntag zu besuchen. Also fordert er ihn erst zum Wettsaufen heraus und dann, übel betrunken, zum Wettschwimmen im nebelverhangenen Meer vor Lima. Schon Augenblicke später, kaum dass sie die Brandung hinter sich haben, kämpfen beide ums bloße Überleben – und wie Vargas Llosa, der im März 80 wurde, die beiden Jungs aus der höchsten Not wieder zurück ans sichere Land bringt, ist literarisch meisterhaft.

Beim Wettsaufen betrinken sich Miguel und Rubén mit dem peruanischen Lagerbier namens Cristal. Es ist per Internet auch in Deutschland zu haben, schmeckt mild und ganz leicht malzig-süß. Es ist, ehrlich gesagt, nicht annähern so temperamentvoll wie die zwei jungen Männer, aber dafür, noch ehrlicher gesagt, sehr viel vernünftiger als beiden.

 

2014 startete BUCH & BAR. Die Kolumne ist schon deshalb absolut unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.

 

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Buch&Bar 62: Bruno P.Kremer “Die Wiese”

Der grüne Killer mit den schwarzen Augen

Heute: Über erfolgssprekulatives Lesen und Trinken

Bruno P.Kremer: "Die Wiese". Theiss Verlag. 49,95 Euro

Okay, zugegeben, ich bin nicht so der Outdoor-Typ. Doch nachdem der forstbotanische Thriller „Das geheime Leben der Bäume“ nun schon seit Wochen auf allen Bestsellerlisten groß abräumt, habe ich mich entschlossen, mit einem echten Kracher über „Das geheime Leben der Wiese“ zu kontern und den Buchmarkt großflächig aufzumischen. Ein prächtigen Bild-Text-Band, aus dem ich alles Nötige bequem abschreiben kann, hab’ ich schon: „Die Wiese“ von Bruno P. Kremer (Theiss Verlag, 49,95 Euro).

Auf Wiesen, sage ich Ihnen, herrscht das brutale Gesetz des Dschungels. Oder glauben Sie, es sei Zufall, dass dort Löwenzahn, Schwarze Teufelskralle und Sibirische Schwert(!)lilie zuhause sind? Dazu noch der heimtückische kriechende Günsel und der naturgemäß unter Islamismusverdacht stehenden Persischen Ehrenpreis? Und haben Sie schon mal Nahaufnahmen des Stierkäfers gesehen? Der Wanstschrecke? Oder des Warzenbeißers, dieses grünen Killers mit toten schwarzen Augen? Glauben Sie mir, auf komplett harmlos aussehenden Wiesen ist in Wahrheit der Teufel los. Grausame Parallelgesellschaften mitten in Deutschland.

Um meinen künftigen Bestseller-Triumph schon mal angemessen zu feiern, habe ich mir in meiner urbanen Lieblingsbar fernab gemeingefährlicher Grünflächen einen Champion mixen lassen: Drei Teile trockenen Wermut, drei Teile Scotch, zwei Teile Kräuterlikör Bénédictine DOM und zwei Teile Orange Curaçao. Harter Stoff für harte Champions.

 

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Der zeitdiagnostische Romancier Christoph Hein

Ein Herz für die Herzlosen

Christoph Hein zählt heute zu den wichtigsten deutschen Schriftstellern seiner Generation. Er ist kein Sprachartist, sondern ein zeitdiagnostischer Erzähler, der in seinen Romanen Vergangenheit und Gegenwart von DDR und Bundesrepublik literarisch zu durchleuchten versucht. Heute feiert er Geburtstag, den Zweiundsiebzigsten. Anlass genug für ein Porträ und den Rückblick auf einige seiner bemerkenswerten Bücher

Der Schriftsteller Christoph Hein hat in seinen Romanen, was man manchen Männern in erotischen Dingen nachsagt: Er hat einen bestimmten “Typ”. In seinen Büchern zeigt er eine fast unbeirrbare Vorliebe für Figuren mit spezifischen charakterlichen Eigenschaften. Heins Herz schlägt für die Herzlosen, er ist vernarrt in die Kaltschnäuzigen und Zyniker, er hat ein Faible für Leute, die bis auf die Knochen ernüchtert sind, für Menschen, die den unerbittlichen Tatsachen des Lebens gelassen ins Gesicht sehen.

Christoph Hein: "Der fremde Freund / Drachenblut". Mit einem Kommentar von Michael Masanetz. Suhrkamp Verlag, 9 Euro

Oder zumindest: diesen Tatsachen gelassen ins Gesicht sehen wollen. Denn zwischen “Wollen” und “Können” liegen hier ebensolche Welten wie zwischen der billigen Kaltschnäuzigkeit Fremden gegenüber und einer geradezu philosophischen Gelassenheit, um die wir mit Blick auf uns selbst gelegentlich ringen.

Heins Helden bewegen sich in eben diesem Spannungsfeld zwischen der groben Herzlosigkeit gegen andere und einen bewunderungswürdigen Stoizismus angesichts der eigenen Befürchtungen und Begierden. In einer Gesellschaft, die sich regelmäßig als “Ellenbogengesellschaft” kritisiert, die über wachsenden Egoismus und schwindende Zuwendung zum Nächsten klagt, zielt Hein so auf einen zentralen Punkt sozialer Selbstvergewisserung.

Hein war zunächst Autor an der Volksbühne in Berlin, in Ost-Berlin wie es damals noch hieß, und diese Arbeit hat ihm wohl vor allem zweierlei gelehrt: Erstens einen wachen Sinn für die handwerklichen Aspekte des Schreibens – denn kein anderer Schriftsteller erlebt so direkt und deutlich, ob sich seine Texte sprechen lassen, und ob sie über die Rampe kommen wie ein Theaterautor. Zweitens ein Gespür dafür, den Charakter einer Figur nicht schlicht zu beschreiben, sondern ihn aus der Art wie sie redet, sich verhält, für den Leser erkennbar, spürbar, miterlebbar zu machen.

Hein pflegt eine auffällige Vorliebe für Rollenprosa: Anstatt seine Figuren von außen zu beobachten, schlüpft er gern in ihre Haut, lässt sie über manche ihrer Geschäfte, Gedanken, Gefühle plaudern und über manche andere schweigen – und natürlich verrät ihr Schweigen weit mehr über sie, als ihre so bereitwillig erteilten Auskünfte.

Christoph Hein: "Horns Ende". Roman. Suhrkamp Verlag. 9 Euro

Zum ersten Mal ist ihm dies mit Claudia gelungen, der attraktiven, knapp 40-jährigen Ärztin und Hauptperson seiner Novelle “Der fremde Freund” (1982, auch erschienen unter dem Titel “Drachenblut”), die Hein in einem langen Monolog zum Sprechen bringt in einer zunächst betont rationalen und kontrollierten, schließlich aber immer hoffnungsloseren Bekenntnisrede. Claudia ist ein Single und eingefleischter Menschenfeind. Seit ihrer Scheidung schläft sie zwar noch “manchmal mit einem Mann”, wie sie ihrer Mutter bereitwillig mitteilt, doch hat sie nicht mehr das geringste Interesse an einer Ehe oder einem dauerhaften Zusammenleben: “Ich will nicht mehr”, sagt sie, “Tag für Tag in fremde Gesichter starren, die nur deswegen zu mir gehören sollen, weil sie immer die gleichen sind”.

Selbst enge Verwandte bedeutet ihr kaum etwas. Von einer kurzen Reise zu ihren Eltern behauptet sie, es sei ein “Höflichkeitsbesuch bei Leuten, mit denen mich nichts verbindet”. Doch diese eiserne Distanz zu allem und jedem geht nicht spurlos an Claudia vorüber. Die immer obsessiveren Beschwörungen ihrer persönlichen Unabhängigkeit und ein nur noch mühevoll zurückgehaltener Unterton der Verzweiflung in ihre lange Konfession machen unübersehbar, welche emotionale Selbstverstümmelung diese Frau betreibt.

Christoph Hein: "Das Napoleon-Spiel". Roman. Suhrkamp Verlag. 9,50 Euro

In einer ähnlichen Monologtechnik hat Hein auch seine späteren Romane “Horns Ende” (1985) und “Das Napoleonspiel” (1993) geschrieben. Im ersten Roman ist es ein Historiker, der sich wegen eines ihm angetanen offensichtlichen Unrechts erst in Weltekel und dann in den Selbstmord flüchtet. Im zweiten ist es ein Jurist und Spieler, der Menschen nur als Mittel zum Zweck betrachtet und aus Langeweile einen Mord begeht.

Doch am “Napoleonspiel” – das Hein trotz einiger Kritik als eines seiner “Lieblingsbücher” bezeichnet – lässt sich auch ablesen, welche Probleme diese spezifische Erzählweise mit sich bringt: Auf der Bühne kann der Schauspieler einen Monolog mit Leben erfüllen, kann ihm szenische ebenso wie emotionale Bewegung verleihen. In Romanform läuft der Monolog leicht Gefahr, unanschaulich und spröde zu werden, neigt zum bloßen Räsonnement.

Nicht als Monologe, sondern als Geschichten mit traditionellen Erzählern hat Hein “Der Tangospieler” (1989) und den Roman “Willenbrock” (2000) geschrieben. Auch der Tangospieler Dallow und der Autohändler Willenbrock sind keine Philanthropen. Beide haben in der DDR schmerzhafte Erfahrungen gesammelt. Dallow musste wegen einer politischen Lappalie für fast zwei Jahre ins Gefängnis, Willenbrock wird wegen angeblicher ideologischen Unzuverlässigkeit um seine Reise- und alle Karrierechancen gebracht. Beide reagieren, wie sie das für Heins Helden gehört, auf diesen Knick in ihrer Laufbahn mit heimlicher, sogar vor sich selbst verheimlichter Verbitterung und einer guten Portion Lebensekel.

Christoph Hein: "Willenbrock". Roman. Suhrkamp Verlag. 10 Euro

Doch Hein hält sich bewusst vor allzuviel Pathos fern. “Ich hoffe, das Ganze hat Witz. Mir liegt an den komischen Zügen meiner Figuren”, meint Hein. In “Willenbrock” gelingt es Hein, das individuelle Schicksal seiner Hauptfigur auf ebenso dezente wie glaubwürdige Weise in ein Porträt der allgemeinen gesellschaftlichen Befindlichkeit einzubetten. Der Roman spielt nach der “Wende”, die DDR und damit Willenbrocks berufliche Benachteiligungen liegen also schon Jahre zurück – doch wirkt etwas von den Enttäuschungen aus dieser Vergangenheit in ihm weiter. Sein Leben ist geprägt von einem radikalen und tiefgreifenden “Utopieverlust”.

Willenbrock ist, nimmt man alles nur in allem, ein Durchschnittsdeutscher der neunziger Jahre. Ein soziologischer Normalfall, einer, der sich mit den Verhältnissen nach der Wiedervereinigung arrangiert hat und ohne große Hochs und Tiefs zurechtkommt. Und genau das macht den Mut und das Können Christoph Heins in diesem Roman aus: Denn in der Literatur ist kaum etwas schwerer einzufangen als der Normalfall, als das Durchschnittsschicksal, dem alles Dramatische oder Sensationelle fehlt.

Willenbrock glaubt schlicht an nichts und niemanden mehr, die religiöse Geborgenheit seines polnischen Angestellten Jurek betrachtet er mit sanfter Verwunderung, das politische Engagement ehemaliger Kollegen kommt ihm nur noch lächerlich vor. Das einzige, was für ihn zählt, ist handfester wirtschaftlicher Nutzen. Er ist ein ziemlich ruppiger Materialist geworden, und will sich von keiner altruistisch verbrämten Ideologie mehr etwas vormachen lassen.

Doch ist Willenbrock – anders als die in der DDR lebenden Helden in Heins Romanen – nicht mit einem staatlich verordneten Sozialismus konfrontiert, sondern mit lauter anderen ebenso materialistischen, zutiefst skeptischen und gründlich ernüchterten Mitbürgern. Das soziale Panorama, das Hein hier entwirft, ist eines der Freizügigkeit und des Wohlstandes, aber zugleich auch des Zerfalls, der Auflösung aller traditionellen Bindungen und Sicherheiten.

Willenbrocks Geschäft läuft gut, aber die Versicherungen versichern es nicht mehr. Willenbrock hat Zweitwohnung, Zweitwagen und zahlreiche Zweitfrauen, aber die Polizei kümmert sich nur notdürftig um die Einbrüche auf seinem Autohof. Selbst als Willenbrock akut bedroht wird und bei einem Polizeibeamten Hilfe erbittet, verweist der ihn weiter, weil “er dafür nicht zuständig sei”.

In diesem Moment beginnt inmitten einer hochentwickelten Gesellschaftsordnung das elementare Schutzversprechen, das sonst jede Gemeinschaft für seine Mitglieder bereithält, beängstigend zu bröckeln. Christoph Hein geht es jedoch nicht darum, unsere soziale Situation in möglichst düsteren Farben zu malen, sondern vielmehr darum, die Reaktionen der Menschen auf diese Situation zu studieren. Er zeigt, wie sich Willenbrock mehr und mehr alleingelassen fühlt, wie Willenbock – gerade weil er (vielleicht zurecht) von seinen Mitmenschen das gleiche erwartet wie von sich selbst – kaum mehr mit Hilfe rechnet, und wie sich deshalb der Gedanke an Gewalt und Gegengewalt immer stärker in seinem Kopf festsetzt. Kurz: Hein führt vor, wie in eine rundum zivilisierte, sich immer stärker ausdifferenzierende und also um ihren inneren Zusammenhalt ringende Gesellschaft gleichsam durch die Hintertür archaische Verhaltensmuster mit beängstigendem Automatismus zurückkehren.

Man muss Christoph Hein heute zu den wichtigsten deutschen Schriftstellern seiner Generation zählen. Zugegeben, ein großer Sprachartist ist er nie gewesen. Doch das sind, bedauerlicherweise, viel zu viele Erzähler nicht. Hein schreibt ein schlichtes, aber meist dichtes Deutsch. Gewöhnlich sind es keine starken und mutigen Menschen, die Hein zu seinen Helden macht, sondern eher ernüchterte, desillusionierte Charaktere, die vor ihren Verletzungen in Zynismus und Bitterkeit flüchten. Sie würden, so behaupten sie, nur zu gern für eine bessere Welt kämpfen. Aber müde und verzagt wie sie sind, machen sie es sich doch lieber im Unglück bequem und finden sich ab mit der angeblich unrettbar bösen Welt. In beidem, im immerfort spürbaren Verständnis dieses Autors für die Schwächen seiner Figuren, wie in seinem immerfort spürbaren Appell an die Leser, es diesen Figuren ja nicht gleichzutun, schwingt bis heute etwas mit von Heins Herkunft aus einer Pfarrerfamilie.

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Buch&Bar 61: Konrad Ott “Zuwanderung und Moral”

Der Philosoph mitten in der Flüchtlingskrise

Heute: Über endlos heikle Fragen beim Lesen und Trinken

Konrad Ott: "Zuwanderung und Moral". Essay. Reclam Verlag. 6 Euro

Wenn es den einen gut geht, den anderen aber schlecht, ist das eine Ungleichheit. Ist es aber immer auch eine Ungerechtigkeit? Heikle Frage.

Wenn es den einen, Kriegsflüchtlingen zum Beispiel, sehr schlecht geht, den anderen aber viel besser, dann müssen die Glücksverwöhnten den Pechverfolgten helfen. Das ist eine moralische Verpflichtung. Aber: Gibt es vernünftige Grenzen dieser Pflicht? Muss sich der Glückliche ruinieren, also selbst in eine Art Unglück stürzen, um möglichst allen Unglücklichen beizustehen? Ist Moral also als eine Pflicht zu verstehen, das Unglück möglichst gleichmäßig zu verteilten? Wäre dass denn gerecht? Noch heiklere Frage.

Konrad Ott ist Philosoph in Kiel und hat mit „Zuwanderung und Moral (Reclam, 6 Euro) mitten in der Flüchtlingskrise einen kühlen, klaren, klugen Essay geschrieben, der zentrale Krisenfragen durchleuchtet. Mit überraschenden Ergebnissen: Wer strikt moralisch vorgeht, landet erstaunlich schnell bei erstaunlich bösen Resultaten. Doch wer der Moral politisch vernünftige Grenzen zu setzen versucht, gerät bei fast jeder Detail-Entscheidung in erstaunlich böse Abwägungsprobleme. Also endlos heikle Fragen. Fast so schwierig wie das Leben selbst.

Ein solcher Essay, obwohl überraschend leicht lesbar, ist letztlich keine Bar-Lektüre. Sorry. Ott plaudert nicht, er argumentiert Punkt für Punkt hoch konzentriert. Dazu passt keinen Drink, sondern Tee, Kaffee, Espresso, Energy Shots oder was immer hellwach und aufmerksam macht. Aber es lohnt sich.

 

2014 startete BUCH & BAR. Die Kolumne ist schon deshalb absolut unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.

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Gespräch mit Christoph Ransmayr zu “Der fliegende Berg”

“Ich starb 6840 Meter über dem Meeresspiegel…”

Der Schriftsteller Christoph Ransmayr im Gespräch über seinen Roman “Der fliegende Berg”, den Freund Reinhold Messner und das Abenteuer des Schreibens sowie die schwierige Rückkehr aus unbekannten und neu eroberten Territorien in die vertraute Welt und zu den Menschen. Heute feiert Christoph Ransmayr Geburtstag.

Christoph Ransmayr: “Der fliegende Berg”. Roman. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2007, 9,95 Euro

Im Mai und Juni 1970 nahm der Bergsteiger Reinhold Messner an einer Expedition zum Nanga Parbat teil, in deren Verlauf zum ersten Mal die so genannte Rupal-Wand durchstiegen werden sollte. Reinhold Messner brach allein vom letzten Höhenlager auf, sein Bruder Günther konnte ihm folgen. Gemeinsam standen sie am 27. Juni auf dem Gipfel. Nach einer Notbiwakierung entschlossen sie sich, nicht auf demselben Weg, sondern über die Diamir-Wand abzusteigen. Beim diesem Abstieg starb Günther Messner. Reinhold überlebte mit starken Erfrierungen. Über die Katastrophe am Nanga Parbat hat es viele Spekulationen gegeben. Bei Malik ist  Messners Buch “Die rote Rakete am Nanga Parbat” erschienen. Josef Vilsmaier hat das Messner-Drama verfilmt. Der österreichische Schriftsteller Christoph Ransmayr schrieb seinen Roman “Der fliegende Berg” über das tödlich endende Abenteuer eines Bergsteiger-Brüderpaars im Transhimalaya. Ein Gespräch mit Ransmayr über den komplexen Zusammenhang zwischen Leben und  Literatur.

Uwe Wittstock:   Sie sind mit Reinhold Messner befreundet. In Ihrem Roman “Der fliegende Berg” erzählen Sie von zwei Brüdern, die im Transhimalaya einen unzugänglichen Gipfel besteigen. Beim Abstieg kommt einer der beiden Brüder um. Die Parallelen zum Drama um die Nanga-Parbat-Besteigung der Messner-Brüder 1970, das 2010 von Josef Vilsmaier verfilmt wurde, liegen auf der Hand. Was hat Sie gereizt an diesem Stoff, den ihr Freund Messner erlebte?

Christoph Ransmayr:   Die Tragödie am Nanga Parbat war immer wieder Thema auf vielen unserer gemeinsamen Reisen, nach Tibet, Nepal, Indien und in andere Weltgegenden. Dadurch ist mir diese Geschichte so vertraut geworden, als wäre sie Teil meiner eigenen Familienchronik. Aus dieser Vertrautheit heraus ist dann auch das Bedürfnis entstanden, eine Brudergeschichte zu schreiben.

Christoph Ransmayr: "Atlas eines ängstlichen Mannes". Fischer Taschenbuch Verlag. 10,99 Euro

Wittstock:   Sie wollten dem, was passiert ist, eine literarische Form geben?

Christoph Ransmayr:  Meine erste Absicht war, eine klare, historische Darstellung der Ereignisse am Nanga Parbat zu schreiben. Mir ist aber schon bei der Vorbereitung der Schreibarbeit klar geworden, dass diese Geschichte nur einer schreiben kann, nur einer schreiben soll, nämlich Reinhold selbst. Ein Nebeneffekt meiner Vorbereitungen war aber die Entdeckung, dass unter den Menschen, die zum Rand der bekannten Welt und darüber hinausgehen, auffällig viele Brüderpaare waren – und sind. Schon im so genannten Zeitalter der Entdeckungen etwa die Brüder Corte-Real oder Nicolao und Maffeo Polo oder die Brüder Pinzón, die Columbus begleiteten und viele andere. Immer wieder brachen zwei Brüder gemeinsam auf und immer wieder geschah es, dass nur einer von ihnen zurückkam.

Wittstock:   Hätte sich das Drama am Nanga Parbat anders entwickelt, wenn die beiden Bergsteiger auf dem Weg zum Gipfel keine Brüder gewesen wären?

Christoph Ransmayr:  Das weiß ich nicht. Aber selbst die Geschichte der Brüder Messner ist noch mit einer weiteren Brudergeschichte verbunden: Der damalige Expeditionsleiter Karl Herrligkoffer war der Halbbruder des 1934 am Nanga Parbat umgekommenen Willy Merkl. Herrligkoffer hat mit den von ihm organisierten Expeditionen den Nanga Parbat wieder und wieder berannt, um endlich zu erreichen, zu “erobern”, wofür sein Halbbruder starb: den Gipfel. Es scheint ja, dass es bei Expeditionen ans Ende der Welt nicht ausreicht, bloß von einem Vertrauten, einem Freund begleitet zu werden, sondern dass der beste Gefährte der Bruder sein soll, ein Mensch, mit dem man nicht nur Gegenwart und die jüngste Vergangenheit teilt, sondern die ganze bisherige Lebensgeschichte bis tief in die Kindheit.

Wittstock:   Anders als mit einem Freund verbindet einen mit dem Bruder aber auch eine lebenslange Rivalität, beginnend schon mit der Rivalität um die Liebe der Eltern.

Uwe Wittstock (Hg.): "Die Erfindung der Welt. Zum Werk von Christoph Ransmayr". Fischer Taschenbuch Verlag. 12,90 Euro

Christoph Ransmayr: Diese Rivalität kann aber zu dramatisch verschiedenen Konsequenzen führen, einerseits natürlich bis zu einem Drama wie dem von Kain und Abel, andererseits aber auch über die Zähmung der Rivalität zu einer Gemeinsamkeit, die zwei Brüder etwas erreichen lässt, was für einen allein Utopie bleiben würde.

Wittstock:   Das Brüderpaar Ihres Romans bricht allerdings nicht aus Südtirol auf, also aus einem Gebirge in das höchste Gebirge der Welt, dem Himalaya. Der Ausgangspunkt Ihrer Romanhelden ist eine abgelegene Insel vor Irland, also die Höhe des Meeresspiegels? Warum war diese extreme Höhendifferenz, von ganz unten – Meeresspiegel – bis ganz oben – Dach der Welt – für Sie wichtig im Roman?

Christoph Ransmayr:  Ich wollte meine Helden die wahrhaft ganze Länge eines denkbaren Weges in die Höhe, ins Gebirge gehen lassen, also aus dem tiefsten Land bis in die Wolken, vom Meeresspiegel, von dem aus ja die Höhe noch des küstenfernsten Wüstengebirges aus gemessen wird, bis in die Höhen des Transhimalaya. Dabei ist aber der – erfundene – Berg, den meine beiden Protagonisten besteigen, für Tibet kein extrem hoher Berg, sondern kaum 7000 Meter hoch. Extreme Höhe kann ja durchaus subjektiv, also an den eigenen Kräften, der eigenen Erschöpfung gemessen, definiert werden. Wichtiger als die Gipfelhöhe war mir, dass der Weg dieser Brüder aus der virtuellen Realität ihrer Computer in die Wirklichkeit führen sollte, dorthin, wo Kälte, dünne Luft, die Erschöpfung und schließlich der Tod tatsächlich erlitten werden. Meine Figuren gehen ihren Weg aus der Virtualität in die Realität entlang einer vertikalen Linie, von ganz unten nach ganz oben.

Wittstock:   Was einen Bergsteiger an der Eroberung eines Gipfels reizt, ist für Nicht-Bergsteiger oft nur schwer zu begreifen. Was reizt einen Schriftsteller an Menschen, die ihr Leben einsetzen, um auf eine lebensfeindliche, eisgepanzerte Felsspitze in 7000 Meter Höhe zu klettern?

Christoph Ransmayr: Solche Wege, ob sie nun in die extreme Höhe oder in die extreme Weite führen, sind immer auch Wege in die eigene Geschichte, ins Innere des Gehenden, Reisenden. Wer sich der Geschichten eines oder mehrerer Menschen annimmt, wer ihre Schicksale, Dramen, Tragödien oder Komödien erzählen will, möchte dies ja mit größtmöglicher Plausibilität und Klarheit tun. Große, “dramatische”, oft menschenleere Landschaften können dieser Klarheit sehr förderlich sein. Denn dort wird die Geschichte des Einzelnen so deutlich wie vielleicht nirgendwo sonst. Zudem erscheinen aber auch seine Begegnungen mit anderen, zunächst fremden Menschen, ihre Gesellschaft, vielleicht auch ihre Hilfe, nirgendwo kostbarer als in der Verlassenheit weit draußen.

Wittstock:   Die Besteigung eines Berges ist ein spannendes Abenteuer. Wie wird daraus ein Thema für die Literatur? Abenteuergeschichten bringt man sonst eher mit Genre-Geschichten in Verbindung.

Christoph Ransmayr:  Das ist für einen Erzähler keine besondere Frage. Warum sollte er sich darum kümmern, welcher Kategorie oder Schublade seine Geschichte schließlich zugeordnet wird? Auch Abenteuer-Geschichten können unzählige Ebenen haben, von denen die des reinen Geschehens bloß die einfachste und vordergründigste ist, wenn Schicht für Schicht darunter allmählich sichtbar wird, was die Protagonisten bewegt oder was sie treibt, und eine Expedition nicht nur in die Weite oder in die Höhe, sondern auch durch Seelenlandschaften führt.

Wittstock:   Wie weit gehen Sie als Schriftsteller, um die Abenteuer zu erleben, von denen Sie schreiben wollen?

Christoph Ransmayr:  Ich nehme die Plagen und Widrigkeiten, von denen man in Wüsten, in großen Höhen oder auf dem Meer bedrängt werden kann, nur zur Not in Kauf. Meine Leidensfähigkeit ist nicht sehr ausgeprägt. Ich bin und bleibe auch in den großen Gebirgen lieber Wanderer und Spaziergänger. Es gab zwar irgendwann den Gedanken, vielleicht einen der ganz großen Berge zu besteigen. Aber als ich dann in Tibet mit Höhen von knapp 6000 Metern konfrontiert war und die Luft dünn und dünner, die Kälte schneidend und die Windstärken umwerfend wurden, war die Einsicht nahe liegend, dass solche Weg nicht meine sind.

Wittstock:   Vielleicht ist die Arbeit als Schriftsteller schon Abenteuer genug?

Christoph Ransmayr:  Als Schriftsteller geht man solche Wege vielleicht bis zu einem gewissen Punkt, um dann innezuhalten und sie schreibend fortzusetzen.

Christoph Ransmayr: "Die Schrecken des Eises und der Finsternis". Roman. Fischer Taschenbuch Verlag. 8,99 Euro

Wittstock:   Riskieren Schriftsteller wie die Abenteurer ihr Leben bei der Arbeit? Der erste Satz von “Der fliegende Berg” heißt: “Ich starb 6840 Meter über dem Meeresspiegel…” Und man spürt, dass dieses “Ich” als erstes Wort des Buches sehr bewusst gesetzt ist.

Christoph Ransmayr: Natürlich kann die Arbeit am Schreibtisch, an der Erzählung, an der Sprache, nicht nur zu einer sehr ernsten, sondern auch zu einer gefährlicher Angelegenheit werden, und man kann an ihr auch zugrundegehen.

Wittstock:   In Ihrem ersten Roman “Die Schrecken des Eises und der Finsternis” haben Sie das Abenteuer einer Nordpolar-Expedition zum Thema gemacht. Auch hier werden von den Romanhelden unter dem Einsatz des Lebens letzte weiße Flecke auf der Weltkarte erforscht – wie der unerforschte Gipfel in “Der fliegende Berg”. Weshalb sind solche weiße Flecken unbewohnbarer Landschaft für Sie als Schriftsteller ein so wichtiges Thema?

Christoph Ransmayr:  Irgendwo allein und der erste zu sein, heißt eben auch, mit allen seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten allein zu sein und zu erfahren, wozu man im Stande ist. Aber das ist nur die eine Seite. Die andere und am Ende wichtigere Seite bleibt aber die Rückkehr. Wer aufbricht ins Unbekannte, ins noch nie Erreichte, der will irgendwann nichts als zurück, nach Hause, gleichgültig ob er nun sein Ziel erreicht hat oder gescheitert ist. Das leere, unbekannte Land zeigt ja auch den Wert der Welt, die man verlassen hat. Irgendwann wird jede Expedition geradezu beseelt von dem Gedanken zurückzukehren, denn hinter jedem noch so entlegenen Ziel kommt die Sehnsucht nach dem Vertrauten zum Vorschein. Wenn alles aus dem Ruder läuft oder Sturm und Lawinen alle Absichten zunichte machen, dann wird die Sehnsucht nach dem Ort, von dem aufbrach, am größten. Nie leuchtet dieser Ort heller als in den Augenblicken, in denen er schon verloren scheint.

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Christoph Ransmayr zum Geburtstag

Ein Erzähler von den Rändern der Zivilisation

Wie nur ganz wenige Schriftsteller hat Christoph Ransmayr die vielfältigen “Spielarten des Erzählens” auf höchsten Niveau erkundet und erprobt. Seine Romane, Erzählungen und Reden gehören zu den erstaunlichsten, den überwältigendsten Sprachkunstwerken, die derzeit in deutscher Sprache geschrieben werden. Heute feiert er Geburtstag. Ihm zu Ehren hier eine Erinnerung an seinen großartigen Himalaya-Roman “Der fliegende Berg”.

 

Christoph Ransmayr: “Der fliegende Berg”. Roman. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2007, 9,95 Euro

Romane von Christoph Ransmayr sind Aufbrüche in den Mythos. Es sind Einladungen an den Leser, aus der Zeit zu fallen. Das hat nichts mit Flucht in esoterische Sphären zu tun, nichts mit der Entdeckung dunkel raunender, angeblich ewiger Wahrheiten. Ransmayr versteht sich vielmehr auf die rare, die erstaunliche Kunst, den Kopf literarisch bis über die Wolken zu strecken und doch mit den Füßen auf dem Boden zu bleiben. Seine Bücher entfalten in der Imagination ihrer Leser eigene Welten von erstaunlicher Plastizität und Komplexität, die den Bezug zu den sogenannten Tatsachen nie verlieren, über die bloßen Tatsachen aber weit hinausreichen.

Ransmayrs Roman „Der fliegende Berg“ zum Beispiel signalisiert seinen Eigensinn, seinen eigenen Sinn schon in seiner formalen Gestalt. Wie bei einem Epos hat Ransmayr, dessen Prosa immer schon enorme sprachmusikalische Qualitäten hatte, seinen Text in Verse und Strophen geordnet. Er selbst spricht nüchtern nur von „Flattersatz“; wer will, braucht auf Verse oder Strophen keine große Rücksicht zu nehmen und kann den Roman lesen, wie jeden anderen auch. Doch bei genauerem Hinhören ist schnell zu spüren, dass diese Prosa bis in die Feinheiten hinein rhythmisch durchformt und durchdacht ist, ohne deshalb in eine aufdringliche, starre Metrik zu verfallen.

Der Stoff des Romans hat Ransmayr über ein Jahrzehnt lang beschäftigt. Erzählt wird von zwei Brüdern, die in den Osten Tibets aufbrechen, um dort den noch unbezwungenen, knapp siebentausend Meter hohen Phur-Ri, den „Fliegenden Berg“ zu besteigen. Wie während der inzwischen legendären Nanga Parbat-Expedition von Günther und Reinhold Messner 1970 kommt einer der beiden Brüder beim Abstieg vom Gipfel um.

Uwe Wittstock (Hg.): "Die Erfindung der Welt. Zum Werk von Christoph Ransmayr". Fischer Taschenbuch Verlag. 12,90 Euro

Doch viel weiter reichen die Parallelen nicht, Ransmayrs Figuren stammen aus Irland, nicht aus Südtirol. Ihr Vater ist ein schwärmerischer, nicht recht realitätstauglicher IRA-Fanatiker, dessen Frau mit einem Protestanten in den britischen Norden durchgebrannt ist. Liam, der ältere der beiden Brüder, hat seinen Beruf als Computer-Fachmann und Kartograph an den Nagel gehängt und ist nun Viehzüchter auf einer kleinen Insel im Südwesten Irlands. Pad, der jüngere Bruder und Ich-Erzähler des Romans, fuhr jahrelang zur See, bevor er bei seinem gleichermaßen bewunderten wie eifersüchtig bekämpften Bruder eine feste Bleibe findet.

Die Bildphantasie Ransmayrs ist atemraubend. Wie Liam auf nächtlichen Internet-Irrfahrten ein erstes Foto der Phur-Ri entdeckt, wie die beiden Brüder an den Insel-Steilküsten über dem Meer ihr bergsteigerisches Können trainieren, wie sie in Tibet auf ganze Felder von farbigen Gebetsfahnen stoßen, auf Nomaden, die unter freiem Himmel im Schnee Billard spielen oder auf Schmetterlinge, die von heißen Luftströmungen über Tausende von Metern bis ins ewige Eis der Gletscher gerissen werden – all das wirkt wie Szenen aus einem Film von Stanley Kubrick, die Ransmayrs auf wenigen Zeilen ebenso poetisch wie präzise vor das innere Auge des Lesers zu rücken versteht.

Naturgemäß wird das Leben, je weiter die beiden Brüder in die entlegenen Winkel Ost-Tibets vordringen, umso archaischer. Für Liam ist das lediglich ein unvermeidlicher, meist lästiger oder auch gefahrvoller Begleitumstand der Expedition. Für Pad jedoch wird ihr Weg zu einer Reise in eine andere, vom mythischen Denken geprägte Welt, deren Ausstrahlung er sich nicht entziehen kann und auch nicht will.

Christoph Ransmayr: "Die letzte Welt". Roman. Fischer Taschenbuch Verlag. 9,99 Euro

Ransmayr gibt so dem berühmten Motiv von Joseph Conrads Reise ins „Herz der Finsternis“ eine Wendung ins Positive: Sein Held Pad verliert sich mit der zunehmenden Entfernung von der westlichen Zivilisation nicht in Wahn und Gewalt, er gelangt auch nicht zu spiritueller Erleuchtung, wie sie viele Asientouristen suchen, sondern schlicht zu einem größeren Gefasstheit und auch Gelassenheit angesichts der fundamentalen Vergeblichkeit des Lebens.

Bei Jean-Paul Sartre heißt es, der Mensch sei eine nutzlose Leidenschaft. Für diese Einsicht findet Ransmayr in seinem Roman ein schmerzlich schönes Bild: Als die Brüder das Ziel ihrer Leidenschaft erreicht haben, den Gipfel des Phur-Ri, schreiben sie auf diesem Nebendach der Welt ihre Namen in den Schnee, obwohl schon ein Unwetter aufzieht, dass alle Spuren unfehlbar löschen wird.

Doch Pad begreift inmitten der urtümlichen Landschaft, wie vorübergehend letztlich jedes Dasein ist, er begreift, dass selbst die Gebirgsgiganten des Himalaja irgendwann einmal verschwinden werden, und also, wie die tibetischen Mythen lehren, als fliegende Berge nur vorübergehend auf der Erde Platz genommen haben – was Pad mit Blick auf die eigene Vergänglichkeit zu größerer innerer Ruhe verhilft.

Die Helden Ransmayrs drängt es in all seinen Romanen zu den Rändern ihrer Zivilisation. Denn Zivilisation ist für Ransmayr nicht denkbar ohne Machtkampf und Zerstörung. Mit wenigen Strichen skizziert er im „Fliegenden Berg“ wie in der Vergangenheit die englischen Kolonialherren in Irland hausten und heute die chinesischen Kolonialherren in Tibet. Der unbestreitbare Glanz der siegreichen Kultur wird bezahlt mit der Verwüstung der Natur – Irland und Tibet werden von ihren Besatzern gleichermaßen abgeholzt – und dem Untergang der unterlegenen Kulturen.

Christoph Ransmayr: "Morbus Kitahara". Roman. Fischer Taschenbuch Verlag. 9,95 Euro

Ein Ausweg aus diesem jahrhundertealten Reigen der Gewalt ist der Rückzug an die kaum besiedelten, nicht erforschten oder sogar noch nie betretenen Ränder der bekannten Welt, wie zu jenem Gipfel des Phur-Ri. Das ist eine Flucht, zugegeben, aber sie birgt einen Moment von Freiheit.

Ransmayr riskiert bei all dem literarische eine Menge. Er scheut sich nicht, die Rivalität der beiden Brüder, ihr bedingungslos aufeinander Angewiesensein während der Auf- und Abstiegs und nicht zuletzt auch die Liebesgeschichte zwischen Pad und der Tibeterin Nyema, die er während des wochenlangen Trecks zum Phur-Ri kennenlernt, als einschneidende, lebensverändernde Erfahrungen zu schildern, die große Gefühle von archaischen Dimensionen wecken. Das ist sicher nicht nach jedermanns Geschmack.

Wer seine Ohren ganz auf die oft kühlen, lakonischen Töne unserer Gegenwartsliteratur eingestimmt hat, kann das gelegentlich als fremd und pathetisch empfinden. Doch gehört ebendies, gehört der Abschied vom Gewohnten und die Konfrontation mit einem wiederentdeckten existentiellen Ernst zum Programm dieses Romans. Wer bereit ist, sich darauf einzulassen, finden in diesem Buch eine Sprache von überwältigender, von erschütternder Schönheit.

 

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Buch&Bar 60: Jane Austen “Emma”

Die Lust, andere Leute zu verheiraten

Über: Teuflischen Spaß beim Lesen und Trinken

Jane Austen: "Emma". Roman. Übersetzung: Ursula Grawe und Christian Grawe. Reclam Verlag, 7,95 Euro

Vor fast haargenau 200 Jahren erblickte Jane Austens „Emma“ (Reclam, 7,95 Euro) das Licht der literarischen Welt und hält seither Millionen Leser in Atem. Emma ist jung, klug, reich und sehr attraktiv. Aber mit ihrem Bildungsdünkel, und ihre Lust, andere zu manipulieren, geht sie einem sagenhaft auf die Nerven. Kurz: Sie ist ein prächtiges Beispiel für Oscar Wildes Satz: „Es gibt Frauen, die sind gar nicht schön. Die sehen nur so aus.“

Im Grunde ist das Buch ein Krimi aus einer Zeit, in der es noch keine Krimis gab. Emma liebt es, Ehen zu stiften. Wie eine Marionettenspielerin will sie an Fäden ziehen, um Paare vor den Traualtar zu dirigieren. Keiner ihrer Pläne geht auf, aber während Emma munter scheitert, streut Jane Austen im Roman lauter zarte Hinweise auf ein echtes Liebesdrama aus, das sich von Emma unbemerkt hinter ihrem Rücken abspielt. Wer den Roman liest wie ein Whodunit von Agatha Christie, kommt den wahren Liebesverhältnissen viel früher auf die Spur als die hochnäsige Heldin. Was ein teuflischer Spaß ist.

Am Ende bereut Emma all ihre Fehler und erobert so doch noch die Herzen der Leser. Natürlich hat man ihrer genialen Schöpferin längst auch einen Drink gewidmet: Leseratten unter den Bar-Keepern dieser Welt mixen aus Hendrick’s Gin, Holunderblütenlikör von St. Germain, Green Chartreuse Kräuterlikör und Limettensaft zu gleichen Teilen einen Jane Austen-Cocktail. Er ist sehr stark – aber das sind Jane Austens Romane ja auch.

 

2014 startete BUCH & BAR. Die Kolumne ist schon deshalb absolut unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.

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Buch&Bar 59: Isabel Bogdan “Der Pfau”

Und jetzt: Das neue Biedermeier

Heute: Über rundum super unbedenkliches Lesen und Trinken

Isabel Bogdan: "Der Pfau". Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch. 18,99 Euro

Kürzlich war ich in einer mittelfinsteren Gegend Berlins unterwegs. Ein endfinsterer Kerl trat auf mich zu und bot tödliche Substanzen an: „Willsu Crack?“ Ich war überrascht, denn, seien wir ehrlich, bald bin ich in einem Alter, in dem man mir allenfalls Interesse an Kukident zutraut, nicht an Drogen, wie sie unsere Bundestagsabgeordneten täglich brauchen. Ich gab dem Kerl geschmeichelt die Hand, dankte für sein warmherziges Kompliment und ging beglückt meiner Wege

So viel zum Zynismus der Großstadt. Das Leben auf dem Land soll angeblich harmloser sein. Nachzulesen ist das jetzt im Roman „Der Pfau“ von Isabel Bogdan (Kiepenheuer & Witsch, 18,99 Euro). Fünf Londoner Banker verbringen ein paar Tage auf einem schottischen Landsitz. Einer der landsitzeigenen Pfauen verliert den Verstand, wird vom Landsitzbesitzer – heimlich – erschossen, von den Bankern – heimlich – gefunden, von deren Köchin – heimlich – gekocht und dann von allen unheimlich genussvoll verspeist. Wie schön.

Nichts gegen heitere Romane, aber diesen hier bejubelte der halbe deutsche Literaturbetrieb schon wochenlang vor seinem Erscheinen als großen Wurf. Erstaunlich. Kann es sein, dass wir uns alle derzeit – heimlich – nach Beschaulichkeit, Idylle und lösbaren Problemen sehnen? Das jedenfalls bietet „Der Pfau“. Ein Roman wie selbst gemachte Limonade: solide, unzynisch, ein bisschen süß, ein bisschen sauer und rundum unbedenklich.

 

2014 startete BUCH & BAR. Die Kolumne ist schon deshalb absolut unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.

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