„Ich möchte als Kuckuck wiedergeboren werden“
Im Mai 2014, knapp ein Jahr vor seinem Tod, sprach ich für den Focus mit Günter Grass: über seine Ängste am Lebensende, Versagen in der Nazi-Zeit und sein Engagement für die SPD. Hier ist es noch einmal zur Erinnerung an seinen Todestag vor einem Jahr.
Vor dem Hund hatte man uns gewarnt. Minka belle gern laut und viel. Wir sollten uns nicht erschrecken. Als wir bei Günter Grass ankamen, der Fotograf Parwez Mohabat-Rahim und ich, gab es keinen Grund zu erschrecken. Grass stand vor seinem Haus, das wie eingebettet liegt im lichten Wald zwischen Ratzeburg und Mölln. Minka hielt sich neben ihm, Grass stricht ihr über den Kopf. Der Hausherr sah uns aufmerksam entgegen, der Hund gelangweilt – ein Bellen waren wir ihm nicht wert.
Es war im Mai vergangenen Jahres. Ein paar Wochen hatte es gedauert, bis sich im dicht getakteten Terminkalender des damals 86-jährigen Nobelpreisträgers eine Lücke fand für ein Gespräch. Ich hatte kein Geheimnis daraus gemacht, worüber ich mit ihm sprechen wollte: über das Sterben, über sein Verhältnis zum Tod, über letzte Dinge. Doch Grass war nicht der Mann, Ziel und Zweck eines Gesprächs ganz aus der Hand zu geben. Er bat uns in sein Atelier, ein geräumiges zweistöckiges Nebengebäude, gerade weit genug vom Haus entfernt, um ungestört arbeiten zu können. Im vorderen Teil war es die Werkstatt des Zeichners und Bildhauers Günter Grass, im hinteren Teil, ein paar Stufen tiefer, die Schreibstube des Schriftstellers Günter Grass.
Im Aschenbecher lagen hier gleich zwei Pfeifen, die er nun abwechselnd stopfte, rauchte und abkühlen ließ. Keine Antwort ohne Rauchwolke, es war, als würde er seine Sätze mit Rauch in die Luft malen. Über seinen Roman „Hundejahre“ wollte er sprechen, den er gerade für eine Neuausgabe mit Radierungen illustriert hatte. Auf manchen der Bilder glaubte ich Züge von Minka wiederzuentdecken.
Uwe Wittstock: Herr Grass, In Ihrem Roman „Hundejahre“ gibt es den ehemaligen SA-Mann Matern, dem Hitlers Schäferhund Prinz hartnäckig nachläuft. Matern kann das Tier ebenso wenig abschütteln wie die Erinnerung an seine Nazi-Vergangenheit. Sie sind ja als 17-Jähriger eingezogen worden zur Waffen-SS. Steckt in Matern auch etwas von einem Selbstporträt?
Günter Grass: Nein, das kann ich nicht sagen. Was mich bedrückt hat, waren die Erinnerungen an den Schüler Günter Grass, der geschwiegen hat: zur Erschießung eines Onkels, der das polnische Postamt in Danzig gegen deutsche Angreifer verteidigt hatte; zum Verschwinden eines Mitschülers; zur Abwesenheit eines Lehrers, der für Monate im KZ Stutthof gewesen war. Ich habe keine Fragen gestellt. Das sind die Dinge, die mir nachgegangen sind. Die wenigen Wochen, die ich an der Front war, hießen Rückzug und Angst in einem zusammengewürfelten Haufen. Die SS-Einheit war nach kurzer Zeit auseinandergesprengt, da kam Volkssturm dazu und Personal eines aufgelösten Flughafens. Das hat bei mir nicht zu Schuldgefühlen geführt. Entsetzt war ich, als ich in der Gefangenschaft Bilder aus dem KZ Bergen-Belsen sah. Da habe ich zum ersten Mal in vollem Ausmaß begriffen, was geschehen war. Was Deutsche getan hatten.
Wittstock: Also gab es doch Erinnerungen an Mitschuld, die Ihnen nachgingen, so wie Matern der Hund nachläuft?
Günter Grass: Der Begriff Schuld ist falsch. Was ich spürte beim Schreiben der „Hundejahre“ und vieler anderer Bücher später, ist die bleibende Mitverantwortung. Ich habe auf kleine, passive Art und Weise als Schüler durch Nicht-Fragen, durch Nicht-wissen-Wollen dazu beigetragen, Hitlers Herrschaft zu ermöglichen. Darin sehe ich Mitverantwortung, aber nicht Mitschuld.
Wittstock: Sie haben Ihre Waffen-SS-Mitgliedschaft sehr spät, aber immerhin aus eigenem Antrieb öffentlich gemacht. Und wurden doch scharf kritisiert. Danach wirkten Sie beleidigt . . .
Günter Grass: Ich bin unter die Heuchler geraten. Es wurde die Gelegenheit wahrgenommen, alte Rechnungen zu begleichen, nicht zuletzt Rechnungen auf Grund meiner politischen Haltung und meines hartnäckigen politischen Engagements.
Wittstock: Ihr heftigstes politisches Engagement galt Willy Brandt. Sie haben Wahlkampf für ihn betrieben und an Reden mitgearbeitet. Ihr Briefwechsel mit Brandt wurde jetzt veröffentlicht. Verliert der Autor nicht die nötige kritische Distanz, wenn er einem Politiker so nahe kommt?
Günter Grass: Der Briefwechsel beweist, dass die kritische Distanz nicht verloren ging. Zum Beispiel sprach ich mich 1966 energisch gegen die erste Große Koalition aus. Brandt und ich haben das beide als Probe verstanden, ob unsere junge Bekanntschaft so eine Meinungsverschiedenheit aushält.
Wittstock: Warum wurde gerade Willy Brandt so wichtig für Sie?
Günter Grass: Ich habe ihn bewundert, aber nicht blindlings. Für seine Klarsicht als 19-Jähriger, die ihn zur Flucht vor den Nazis trieb. Aber auch für seine Ausdauer: Obwohl er drei Anläufe brauchte, um Parteivorsitzender zu werden, und später auch drei, um das Amt des Bundeskanzlers zu erreichen, hat er sich nicht beirren lassen. Und nicht zuletzt bewunderte ich ihn für seine mutig geäußerte Einsicht: Wer etwas an der deutschen Teilung ändern will, muss aufhören, die Gegenseite als Feind zu betrachten, sondern in ihr einen Gegner sehen, mit dem man reden muss. Das ist in etwa die Situation, die wir heute in der Ukraine haben. In diesem Sinne ist Steinmeier heute ein guter Schüler Brandts, das ist an seiner Handlungsweise und seiner Argumentation zu merken.
Wittstock: Die meisten deutschen Autoren sind Ihrem Vorbild nicht gefolgt, sondern haben das politische Tagesgeschäft über Jahrzehnte konsequent gemieden. Warum?
Günter Grass: Vielleicht weil ihnen die Triebkraft des gebrannten Kindes fehlt. Sie sind in Frieden und Wohlstand aufgewachsen und haben nie am eigenen Leib erlebt, was Politik bedeuten kann. Eine Bereicherung ohnegleichen für die deutsche Literatur sind da Autoren mit ausländischen Wurzeln. Sie bringen über die Geschichte ihrer Familien nicht selten Erfahrungen von großer Dringlichkeit mit, die sie ihr Leben lang nicht loswerden, Erfahrungen mit Diktaturen oder Kriegen, wie dem in Jugoslawien. Und eine solche, sie nicht verlassende Thematik zwingt sie zum Schreiben.
Wittstock: Birgt die Vermischung von Literatur und Politik nicht letztlich Gefahren für die Literatur? Ihr Israel-Gedicht „Was gesagt werden muss“ ist oft auch aus literarischen Gründen kritisiert worden. Es sei ein schlechtes Gedicht, eher ein Leitartikel als Poesie.
Günter Grass: Ich habe meine Kritik an Israel nicht nur in Gedichtform, sondern auch in Reden oder Essays geäußert – und kein Hahn hat danach gekräht. Es war für mich in diesem Fall überraschend, welche Sprengkraft ein Gedicht haben kann. Vielleicht war die Form also doch wichtig. Ich halte es für falsch, eine Trennlinie zwischen Literatur und Politik ziehen zu wollen. Jeder Schriftsteller, ob jung oder alt, muss eigentlich bemerken, dass selbst die privateste Geschichte nicht frei ist von politischen Umständen. Wenn die komplizierten und oft verqueren Zwänge unseres politisch eingefärbten Alltags ausgespart werden, hängt die Geschichte in der Luft, dann wird sie bodenlos. Der Alltag wird nicht nur durch Kommunismus oder Nationalismus ideologisch verformt, sondern auch durch den Kapitalismus. Die Marktgläubigkeit hat religiöse Züge angenommen.
Wittstock: Doch die politische Enthaltsamkeit der jüngeren Autoren scheint vorbei zu sein. Eine Gruppe deutscher Schriftsteller hat jetzt jedenfalls einen Protestbrief gegen die Überwachungspraxis der NSA formuliert, der inzwischen weltweit aufgegriffen wurde.
Günter Grass: Ja, aber wie hat die deutsche Politik darauf reagiert? Juli Zeh und Ilija Trojanow, zwei Schriftsteller, die ich hoch schätze, machen sich Sorgen wegen der umfassenden Bespitzelung durch unsere amerikanische Schutzmacht. Sie schreiben einen höflich und genau formulierten Brief an die Bundeskanzlerin, der von 67 000 Menschen im Internet unterschrieben wird. Doch bis heute haben sie keine Antwort von der Bundeskanzlerin. In diesem Schweigen drückt sich eine skandalöse Missachtung der Autoren und ihrer Unterstützer aus.
Wittstock: Erleben wir hier die Ablösung einer älteren, politisch engagierten Schriftstellergeneration durch eine jüngere?
Günter Grass: Ich hoffe es. Aber ich betone: Dazu gehört langer Atem. Man darf sich von der Missachtung durch die Kanzlerin nicht enttäuschen lassen. Sie versucht gern, Dinge auszusitzen. Man muss jetzt weiterbohren und auf der Beantwortung des Briefes bestehen, was Juli Zeh mit einem erneuten Brief auch getan hat. Wenn ich jünger wäre, würde ich ein Zelt aufschlagen vor dem Bundeskanzleramt und warten, bis ich eine Antwort bekomme.
Wittstock: Was empfinden Sie bei dieser Wachablösung?
Günter Grass: Es gibt Unterschiede in der Motivation zwischen diesen beiden Generationen. Uns ging es primär um die Vergangenheit, von der nicht nur wir Schriftsteller, sondern das ganze deutsche Volk immer wieder eingeholt wurde. Bei der jüngeren Generation ist es der Gedanke an die Zukunft, der sie umtreibt: Ob es die Durchleuchtung der Gesellschaft durch Geheimdienste ist, der Klimawandel oder die Entmachtung der Parlamente durch den Lobbyismus. Ihre Triebkraft ist die Sorge um die Zukunft, diese Sorge hat sie aufwachen lassen.
Wittstock: Wie weit geht diese Wachablösung bei Ihnen persönlich? Sie haben kürzlich gesagt, dass Sie wohl keinen Roman mehr schreiben werden.
Günter Grass: In meinem Alter wäre es vermessen, wenn ich nicht bemerkte, dass meine Tage gezählt sind. Für einen Roman brauche ich Jahre. Heute fehlen mir die Lebenszeit und die Kraft, ein solches Projekt anzugehen. Aber deshalb höre ich nicht auf zu schreiben. Ich habe als Autor mit Lyrik angefangen, und Lyrik schreibe ich auch jetzt. Und ich zeichne weiter. Ich wüsste sonst nicht, was ich tun sollte, ich würde den Menschen nur zur Last fallen.
Wittstock: Ist Ihnen der Gedanke an den Tod nähergekommen?
Günter Grass: Ja, ganz gewiss. Ich habe mehr Zeit, mich mit meiner Endlichkeit zu befassen. Da ich ein Mensch bin, der ganz aufs Irdische konzentriert ist, also auf das, was ich während meiner Lebenszeit tun kann, ist für mich die Frage, was danach kommt, eigentlich uninteressant.
Wittstock: Haben Sie Angst vor dem Tod?
Günter Grass: Ich spüre bisher keine. Angst habe ich vor Schmerzen. Wenn mir die erspart blieben, wäre ich dankbar. Auch die Vorstellung, ich könnte dement werden und für meine Familie nur noch eine Belastung sein, ist für mich schrecklich. Noch entsetzlicher wäre die Vorstellung, in dementem Zustand auch noch der Öffentlichkeit quasi vorgeführt zu werden – so wie es Walter Jens geschehen ist. Einer der peinlichsten Vorgänge, die ich je erlebt habe.
Wittstock: Gibt es für Sie religiöse Gewissheiten, die beim Gedanken an den Tod Trost geben?
Günter Grass: Nein. Allenfalls in Märchenform: Im Buddhismus ist ja davon die Rede, nach dem Tod in anderer Gestalt wiedergeboren zu werden. Mich reizt der Gedanke: Was wäre wünschenswert? Welches Getier, welche Pflanze möchtest du sein? Eine Amöbe?
Wittstock: Welche Gestalt würden Sie sich wünschen?
Günter Grass: Ich mag den Vogel, der das Frühjahr verkündet und den Leuten jedes Jahr wieder Versprechungen macht mit seinen Rufen, den Kuckuck. Auch seine Unart, seine Eier in die Nester anderer Vögel zu legen, ist eine verführerische Vorstellung.
Wittstock: Was war Ihnen das Wichtigste im Leben?
Günter Grass: Meine Anfänge in der Literatur waren artistischer, spielerischer, verspielter Art, in der Lyrik, auch im Theater. Bis ich bemerkt habe, dass ich auf Grund meiner Erfahrungen und der Zeit, in der ich lebe, mit politischen Themen konfrontiert bin. Wenn ich jetzt Bilanz ziehe, kann ich sagen, ich bin diesen Themen nicht ausgewichen. Ich bin drangeblieben. Das war mein Leben.
Wittstock: Gibt es etwas, das Sie bereuen?
Günter Grass: Meine Mutter ist im Alter von 57 Jahren gestorben. Sie hat an mich auf aberwitzige Weise geglaubt – trotz vieler Ängste, weil ich den Hungerberuf des Künstlers ergreifen wollte gleich nach Kriegsende. Sie ist zu früh gestorben, als dass ich ihr hätte beweisen können, dass aus ihrem Jungen was wird. Ich hatte ihr alles Mögliche versprochen, vor allem Reisen. Diese Versprechungen habe ich nicht erfüllen können. Das nagt.