Zum Geburtstag von Wolfgang Koeppen

“Koeppens entscheidendes Buch ist im falschen Augenblick erschienen. Viel zu früh!”

Vor zehn Jahren wurde Wolfgang Koeppens 100. Geburtstag gefeiert. Damals war das für mich ein Anlass, mit Marcel Reich-Ranicki über diesen Meister des Verträumens und Versäumens zu sprechen, schließlich hatte sich MRR für ihn hartnäckig und über Jahre hinweg eingesetzt – allerdings ohne den durchschlagenden Erfolg bei den Lesern, den Reich-Ranicki sonst von sich gewohnt war. Er zählte Koeppen zu den wichtigsten Schriftstellern der deutschen Nachkriegsliteratur. Weshalb Koeppen dennoch nur ein recht kleines Publikum findet, ist m.E. auch heute noch, an Koeppens 110. Geburtstag, ein paar Überlegungen wert.

Uwe Wittstock: Für keinen anderen Schriftsteller haben Sie sich so hartnäckig eingesetzt wie für Wolfgang Koeppen. Heute gehört er unverändert zu den wenig gelesenen deutschen Nachkriegsautoren. Ist Koeppen für Sie als Literaturvermittler eine große Niederlage?

Wolfgang Koeppen: "Tod in Rom". Suhrkamp, 9 Euro

Marcel Reich-Ranicki: Nein. Aber ein Sieg oder ein Triumph war es nun auch nicht. Das erste Buch von Koeppen las ich Mitte der fünfziger Jahre noch in Polen, den Roman “Tod in Rom”. Nachdem ich die frühen Bücher von Böll, Walser oder Siegfried Lenz gelesen hatte, erschien mir Koeppen damals der modernste unter den neueren deutschen Schriftstellern zu sein. Damit begann meine Begeisterung für ihn, ich war entschlossen, seine öffentliche Wirkung nach Kräften zu fördern. Nicht primär, um Koeppen zu unterstützen, sondern weil ich glaubte, daß es für die deutsche Literatur wichtig sei, einem so modernen Erzähler zum Erfolg zu verhelfen.

Wittstock: Was erschien Ihnen damals so originell an Koeppen?

Marcel Reich-Ranicki: Die deutsche Literatur nach 1945 stand insofern unter dem Eindruck des Nationalsozialismus, als sie sich vor allem gegen Geist und Sprache des Dritten Reiches wendete. Die Autoren, die damals ihre Karriere begannen, Wolfgang Borchert, Böll, Schnurre, später Lenz schrieben im Grunde eher konventionelle Literatur, die an den Expressionismus anknüpfte oder unter dem Stichwort “Kahlschlag” firmierte: Sie kämpften gegen jedes Pathos, jeden Schwulst, noch einfacher gesagt: gegen die großen Worte, die von den Nazis mißbraucht worden waren. Hinzu kam der lapidare, lakonische Stil Hemingways, der viele Autoren damals beeinflußte. Mit all dem hatte Koeppen nichts zu tun. Er knüpfte an andere Vorbilder an, an Joyce, Dos Passos, Faulkner, Proust und Döblin. Diese Tradition moderner Prosa in Deutschland wieder zu stärken, schien mir sehr wichtig.

Wittstock: Aus heutiger Sicht wirkt manches an Koeppens Romanen gar nicht modern, sondern recht kolportagehaft.

Wolfgang Koeppen: "Tauben im Gras". Suhrkamp, 8 Euro

Marcel Reich-Ranicki: Gewisse kolportagehafte Elemente finden Sie in fast jedem Roman. Und Koeppens Romane sind von unterschiedlicher Qualität. Keine Frage, sein bedeutendstes Buch ist “Tauben im Gras”. An diesem Roman ist nichts kolportagehaft, das ist große Literatur. Etwas schwächer sind “Tod in Rom” und “Das Treibhaus”.

Wittstock: War Koeppen für Sie nicht auch eine Gegenfigur zu Arno Schmidt? Wenn Sie Koeppen für die Modernität seiner Prosa loben, dafür, daß er sich an Dos Passos und Joyce geschult hat, trifft das doch in vielleicht noch höherem Maße auf Schmidt zu?

Marcel Reich-Ranicki Ich habe mich viel mit Schmidt beschäftigt. Ich bewundere einige seiner Erzählungen, zumal “Seelandschaft mit Pocahontas” und “Die Umsiedler”. Beide habe ich in meinen Kanon aufgenommen. Seine Romane haben mich allerdings nie ganz überzeugt, sie sind oft blutleer. Es ist aber richtig, daß Schmidt in mancherlei Hinsicht einen ähnlichen Weg wie Koeppen gegangen ist. Aber weder Schmidt noch Koeppen haben einen großen Einfluß auf die deutsche Literatur der fünfziger und sechziger Jahre gehabt.

Wittstock: Bleiben wir bei Koeppen: Warum hatte er trotz seiner Modernität und Ihres Engagements für ihn so wenig Erfolg?

Marcel Reich-Ranicki: Sein entscheidendes Buch, “Tauben im Gras”, war im falschen Augenblick erschienen. Es kam 1951 viel zu früh. Das Publikum war weder bereit noch fähig, diese Literatur zu akzeptieren. Joyce war ja damals in der Bundesrepublik nahezu unbekannt, Dos Passos nie populär gewesen oder schon wieder vergessen, und Faulkner setzte sich gerade erst langsam durch. Die Deutschen waren durch die Nazis zwölf Jahre lang von der modernen Literatur abgeschnitten gewesen. Die Leser hatten kein Verständnis für Koeppen, er wirkte allzu avantgardistisch auf sie.

Wittstock: Tatsächlich?

Marcel Reich-Ranicki: Ja, das war so. Viele Leute, die ich persönlich kenne, haben auf meine Empfehlung hin “Tauben im Gras” gelesen. Und nach fünf oder zehn Seiten klappten die das Buch zu und sagten: “Ich verstehe das nicht.” Dabei sind die ersten Seiten des Buches besonders gut geschrieben – aber sie sind nicht leicht zugänglich.

Wittstock : Koeppens Roman “Tauben im Gras” wurde vorgeworfen, lebende Zeitgenossen so genau zu porträtieren, daß diese sich in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt fühlen könnten. Er hat darauf in seinem Aufsatz “Die elenden Skribenten” geantwortet. Hat dieser Vorwurf Koeppens Roman damals geschadet?

Marcel Reich-Ranicki: Ich glaube nicht. Damals protestierten Leute gegen “Tauben im Gras” und behaupteten, Koeppen habe ihr Leben in dem Buch dargestellt. Doch er kannte diese Leute überhaupt nicht. Er sagte einmal zu mir, er sei verblüfft gewesen, wie viele Menschen genau jene Gefühle zu teilen schienen, die er in seinem Roman beschrieben hatte: diese Angst, dieses Leiden an der Nachkriegszeit. Er hatte sie offensichtlich genau getroffen. Ein großer Triumph für einen Schriftsteller.

Wolfgang Koeppen: "Das Treibhaus". Suhrkamp, 8,50 Euro

Wittstock: Gibt es nicht noch einfache Gründe dafür, daß Koeppen wenig Erfolg hatte? Im “Treibhaus” macht er einen Bundestagsabgeordneten zur Hauptfigur, der sich als pädophiler sozialistischer Selbstmörder entpuppt. Ist es wirklich eine Überraschung, daß dieses Buch kein Massenerfolg war?

Marcel Reich-Ranick: Nein, das ist keine Überraschung. Der Held verführt gleich nach dem Krieg ein sechzehnjähriges Mädchen – das ist, wie so vieles in den Romanen Koeppens, natürlich autobiographisch. Literatur ist doch meist Selbstdarstellung.

Wittstock: Die Hauptfigur ist sehr eindrucksvoll, aber nicht eben eine, mit der sich viele Leser gern identifizieren würden.

Marcel Reich-Ranicki: Ich habe den Eindruck, daß Koeppen “Treibhaus” viel zu schnell geschrieben hat. Das Buch ist streckenweise flüchtig. Dann kommt hinzu: Das Milieu war zuvor noch nie dargestellt worden. Noch kein anderer hatte die politische Welt in Bonn, das Parlament, die Parteien, die Fraktionen, die Bundestagsabgeordneten zum Thema der Literatur gemacht. Es gab also keine Vorbilder. Trotzdem hätte Koeppen das noch besser schaffen können, wenn er der Sache mehr Zeit gewidmet hätte.

Wittstock: Ist “Tauben im Gras” wirklich einer der wichtigsten Romane der deutschen Nachkriegsliteratur?

Marcel Reich-Ranicki: Es ist künstlerisch der beste deutsche Roman dieser Zeit und dieser Generation. Von Arno Schmidt war schon die Rede. Seine Romane scheinen mir doch alle etwas blutleer zu sein. Uwe Johnsohn ist im Kanon selbstverständlich enthalten (eine Erzählung, ein Essay), aber ein Roman wie “Mußmaßungen über Jakob” scheint mir für die Leser doch zu schwer. Die beiden Romane von Jurek Becker und Patrick Süskind waren für den Kanon vorgesehen, mußten aber der grausamen Umfanggrenze zum Opfer fallen.

Wittstock: In einem der Briefe an Siegfried Unseld beschwert sich Wolfgang Koeppen massiv über Sie: “Reich-Ranicki, gefährlich gekränkt, begreift überhaupt nichts, hat kein Empfinden für Sätze, die nicht in seine Erwartungen passen, er mißversteht erfreut und rührt im Literaturklatsch, er liest nicht, sucht eine Wunde, steckt die Hand hinein und reißt auf zum Schlachtfest.” Haben Sie mit solchen Äußerungen Koeppens gegen Sie gerechnet, obwohl sie sich so für ihn einsetzten?

Marcel Reich-Ranicki: Nein. Ich habe damals, als das geschrieben wurde, noch nicht gewußt, was ich später gelernt habe: Die Autoren wollen meist doch nur gelobt werden. Und werden sie nicht gelobt, behaupten sie immer, der Kritiker sei gefährlich gekränkt, begreife überhaupt nichts und habe kein Empfinden für Sätze.

Wittstock: Aber Sie haben Koeppen gelobt.

Marcel Reich-Ranicki: Nein. Diesen Brief schickte er an Unseld, nachdem ich über sein Buch “Romanisches Café” geschrieben hatte, es sei ein Sammelband mit alten Arbeiten, der auch einige “ziemlich schwache Stücke, flüchtige oder nebensächliche Gelegenheitsarbeiten” enthalte. Das hat mir Koeppen verübelt.

Wittstock: Sie sind ein sehr temperamentvoller, aktiver Mensch. Koeppen dagegen war ein großer Meister des Verträumens und Versäumens. Wie sind Sie mit seiner Neigung zur Trägheit, zur Passivität zurechtgekommen?

Marcel Reich-Ranicki: Schlecht. Ich hatte gehofft, ihn zum Schreiben zu bringen. Und es ist mir auch gelungen, in sehr bescheidenen Grenzen. Also habe ich ihm immer wieder Aufträge gegeben, Bücher des 19. Jahrhunderts für die FAZ zu rezensieren. Manche dieser Bücher habe ich überhaupt nur besprechen lassen, damit er Aufträge erhielt. Aus diesen Artikeln ist dann Koeppens Buch “Die elenden Skribenten” entstanden. Ich glaube, es ist ein wichtiges Buch, aber natürlich kein Ersatz für den Roman, den ich von ihm zu bekommen hoffte.

Wittstock: In Ihrer Autobiographie “Mein Leben” nennen Sie Ihren Vater einen “willensschwachen Menschen” von “erschreckender Untüchtigkeit” und kritisieren seine “Passivität”. Die Beschreibung könnte ebensogut auf Koeppen passen. War der eine halbe Generation ältere Koeppen für Sie auch so etwas wie eine Erinnerung an Ihren Vater? Und haben Sie sich deshalb so hartnäckig für diese Vaterfigur eingesetzt?

Marcel Reich-Ranicki: Nicht im geringsten. Die Ähnlichkeiten, von denen Sie sprechen, waren mir nicht bewußt – weder als ich Koeppen zu fördern versuchte, noch als ich das Buch “Mein Leben” schrieb. Aber ich verstehe, daß sie heute darauf hinweisen.

Wittstock: Könnte es sein, daß Wolfgang Koeppen Sie unbewußt an Ihren Vater erinnert hat?

Marcel Reich-Ranicki: Ja.

 

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Hans Magnus Enzensberger: “Tumult”

Liebe in den Zeiten der Rebellion

Nie wollte Hans Magnus Enzensberger seine Autobiographie schreiben. Nun hat er es doch getan – zumindest für ein kurzes, aber wichtiges Kapitel seines Lebens: In  „Tumult“ erzählt vom wilden Jahr 1968 und seiner großen, verwirrenden Amour fou – lässt dabei aber Wichtiges ungesagt. Jetzt ist der Band als Taschenbuch erschienen. Eine Leseempfehlung.

Hans Magnus Enzensberger: "Tumult". Suhrkamp Verlag. 10,99 Euro

Hans Magnus Enzensberger ist der Lucky Luke der deutschen Literatur: schlank, lässig, ungebunden. Und: schnell. Der schnellste Dichter-Denker im Westen. Als die Nachkriegsautoren 1960 noch mühsam durchbuchstabierten, was denn die von den Nazis verbotene literarische Moderne sei, erfand er schon im Vorübergehen die Postmoderne.

Doch sich an irgendeiner Theorie fest- oder aufzuhalten, war seine Sache nicht. Lieber blieb er im Sattel, immer auf dem Weg zu neuen und allerneuesten Horizonten. Er ist, in geistiger wie in geografischer Hinsicht, einer der meistgereisten Schriftsteller des Landes. Ein Reiter mit leichtem Gepäck, souverän, ironisch, frei, der nichts so verabscheut wie Versuche, ihn an die Kette zu legen.

Doch in seiner geistigen Abenteurer-Biografie gibt es ein paar Jahre der Peinlichkeit. Es ist die Zeit der Studentenbewegung zwischen 1966 und 1970, in der er weniger der intellektuellen Pflicht zum Zweifel huldigte als vielmehr der Freude an der linken Parole. Später ließ er sich nur ungern zu dieser Phase seines Lebens befragen und gab sich wortkarg wie ein verwitterter Cowboy.

Doch kurz vor seinem 85. Geburtstag schlug Enzensberger wieder mal einen jener überraschenden Haken, für die er legendär ist. Von ihm sei, so ließ er schon mehrfach wissen, eine Autobiografie nicht zu erwarten, da er derlei Schriften allesamt für halb bewusste, halb unbewusste Fälschungen halte: „Man braucht weder ein Kriminologe noch ein Erkenntnistheoretiker zu sein, um zu wissen, dass auf Zeugenaussagen in eigener Sache kein Verlass ist.“

"Hans Magnus Enzensberger". Edition Text und Kritik. 23 Euro

Morris: "Auf den Spuren von Lucky Luke". Übersetzung: Horst Berner. Verlag: Ehapa Comic Collection. 70 Euro

Doch dann fand Enzensberger, so schreibt er es zumindest, in seinem Keller, „zwischen Weinregal und Werkzeugkasten“, eine verstaubte Pappschachtel mit lange vergessenen Briefen, Notizen und Fotos, ausgerechnet aus den politisch so brisanten 60er-Jahren. Da Inkonsequenz eine seiner lange geübten Stärken ist, hat er aus diesem autobiografischen Material jetzt – nicht ohne zuvor einiges auszuklammern und anderes zu bearbeiten – ein Buch gemacht, es auf den Titel „Tumult“ getauft und sich selbst zum Geburtstag geschenkt.

Tumult meint nicht nur das politische Getümmel jener Zeit, sondern vor allem einen persönlichen Liebestumult Enzensbergers. Auf einem „Friedenskongress“ in Baku am Kaspischen Meer entflammte er 1966 für eine Russin namens Maria, genannt Mascha – und zwar so sehr, dass er in seinen damaligen Aufzeichnungen nicht mal die Farbe ihrer Augen ohne Verwirrung notieren konnte: Erst sind sie „grün schimmernd“ und nur zwei Seiten später von einem „strahlenden Blau, das bald in ein metallisches Grau, bald in ein Türkis changieren kann“.

Hans Magnus Enzensberger: "Gedichte 1950 - 2015". Suhrkamp Taschenbuch Verlag. 10 Euro

Die beiden Verliebten lassen sich von ihren jeweiligen Ehepartnern scheiden und heiraten ein knappes Jahr später in Moskau. Doch mit Maschas Ausreise aus der Sowjetunion beginnt der qualvolle Teil dieser Amour fou: Mascha erweist sich, so zumindest beschreibt es Enzensberger, als psychisch gefährdet, rasend eifersüchtig und für ein Alltagsleben untauglich. Da Deutschland sie maßlos enttäuscht, siedelt sie gleich weiter um nach London. Und Enzensberger lässt sich wie auf der Flucht um den Globus treiben.

Es beginnt eine rastlose Suche nach einem Ort, der das Zusammenleben möglich macht. Nach vier Monaten in den USA („Mascha war nicht glücklich“) wirft Enzensberger einer amerikanischen Universität ein üppig dotiertes Stipendium vor die Füße – und begründet seine Abreise ideologisch: Das Ziel der US-Regierung sei „die politische, ökonomische und militärische Weltherrschaft“. Dann verbringt das Paar ein knappes Jahr in Fidel Castros Cuba („Mascha war glücklich“), angeblich, um die Revolution zu unterstützen. Doch schließlich erkennt Enzensberger die diktatorischen Züge des Regimes und verabschiedet sich Richtung Berlin.

Eine anrührende Liebesgeschichte. Enzensberger hat sein Privatleben bislang gegen die Öffentlichkeit weitgehend abgeschirmt. Wenn er diese Deckung jetzt teilweise aufhebt, darf er sich neugieriger Blicke sicher sein.

Doch aus politischer Sicht ist das Buch enttäuschend. Den größten Teil nimmt ein Selbstgespräch ein, in dem der alte Enzensberger fiktiv den jungen Enzensberger der 60er-Jahre nach seinen Motiven ausfragt. Doch er fragt so zahm und lahm, dass er sein junges Ich nie in Verlegenheit bringt.

Jörg Lau: "Hans Magnus Enzensberger. Ein öffentliches Lebven". Alexander Fest Verlag, 24,80 Euro

Enzensbergers vorübergehende ideologische Radikalisierung fällt recht genau in die Zeit seiner Liebesschlachten mit Mascha. Kann es sein, dass seine erotische Konfusion eine Konfusion in seinem politischen Denken nach sich zog? 1971 trennte er sich von seiner Frau und kehrte danach auch in seinen Essays zu vertrauten, von Ironie und Zweifel geprägten Tonlagen zurück.

Das alles hat mehr als nur literaturgeschichtliche Bedeutung. Enzensberger nahm mit seiner Zeitschrift „Kursbuch“ erheblichen Einfluss auf die Studentenbewegung, er nennt sie heute noch stolz ein „Leitmedium“ jener Jahre. Sicher, er hat nie der Gewalt das Wort geredet. Aber wenn Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und Andreas Baader im Mai 1970, unmittelbar nachdem sie den Häftling Baader aus Polizeigewahrsam befreit hatten, zu Enzensbergers Haus nach Berlin-Friedenau flohen, zeigt das, welche wichtige Rolle er seinerzeit für manche Wirrköpfe spielte.

Enzensberger hätte also Gründe, seine damalige Rolle einmal selbstkritisch zu beleuchten. Doch mit der charmanten Geste des literarischen Dandys winkt er ab: Ihm sei „weder an einem Verhör noch an einer Beichte gelegen“. Dem Dichter Enzensberger wird das niemand vorwerfen wollen. Doch von dem politischen Publizisten Enzensberger würde man das alles gern etwas genauer erklärt bekommen.

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Buch&Bar 68: Max Scharnigg „Herrn Knigge gefällt das! Das Handbuch für gute Manieren im Netz“

Die Liebe zum Telefon und andere Teufeleien

Heute: Über die piekfeine Lebensart beim Lesen, Trinken und digitalem Dasein

Max Scharnigg: "Herrn Knigge gefällt das! Das Handbuch für gute Manieren im Netz". Atlantik Verlag. 15 Euro

Zu den traurigsten Szenen, die ich in Bars beobachte, gehören Paare, die sich gemeinsam an Tisch oder Tresen setzen, aber kein Wort wechseln, weil sie lieber auf ihren Telefonen rumtippen oder -wischen. Da mich das schwerstens deprimiert, verlange ich, dass schleunigst drakonische Gesetze dagegen erlassen werden.

Leider hält sich das beste Benimm-Buch der Gegenwart, „Manieren“ von Asfa-Wossen Asserate, mit Regeln für den stilvollen Umgang mit digitalem Gerät zurück. Doch diese schmerzliche Lücke schließt jetzt Max Scharniggs Fibel „Herrn Knigge gefällt das! Das Handbuch für gute Manieren im Netz“ (Atlantik, 15 Euro). Es klärt Grundlagen wie z.B. die Frage, ob man bei Gesprächen ins Gesicht des Gegenübers oder doch lieber auf den vertrauten Bildschirm schauen solle. Erläutert aber auch die neue Zeichensprache der digitalen Welt: Darf man es als Liebeserklärung deuten, wenn einem der frisch gewonnene Sexualpartner das Wi-Fi-Passwort seiner Wohnung anvertraut? Und: ist es ratsam, ihm daraufhin Fotos eigener unbekleideter Körperteile zuzusenden?

Einen “Earl Grey Vodka Tonic” mit den allerbesten Manieren trank ich jüngst in der Berliner Bar „Schwelgerei“. Er schmeckte so wohlerzogen englisch, dass ich den Tweed-Dreiteiler förmlich auf dem Körper zu spüren glaubte. Gemixt wurde er aus Partisan Vodka weißrussischer Herkunft mit 40 % vol., exzellentem Tee und Thomas Henry Tonic Water.

 

2014 startete BUCH & BAR. Die Kolumne ist schon deshalb absolut unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.

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Dave Eggers Roman “Eure Väter, wo sind sie?…” jetzt als Taschenbuch

Wie das Kind eines Dämons

Nach seinem Welterfolg „Der Circle“ legt Dave Eggers im vergangenen Jahr gleich den nächsten politischen Roman vor. Er trägt den alttestamentarischen Titel “Eure Väter, wo sind sie? Und die Propheten, leben sie ewig?”. Es geht um einen Kidnapper, der mit Gewalt gegen Gewalt kämpft. Der Dialog-Roman ist jetzt als Taschenbuch erschienen – und lohnt die Lektüre. Eine Leseempfehlung.

Dave Eggers: "Eure Väter, wo sind sie? Und die Propheten, leben sie ewig?". Roman. Übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Verlag Kiepenheuer & Witsch. 9,99 Euro

“Wieso? Weshalb? Warum? Wer nicht fragt, bleibt dumm.“ Die Welt ist ein Rätsel, keineswegs nur für Kinder. Aber die „Sesamstraße“, jenes große Bildungserlebnis unserer frühen Jahre, weiß, wie das Rätsel zu lösen ist: Irgendwo da draußen sind Antworten. Wir müssen halt fragen, fragen, fragen. Dann werden wir sie bekommen. Dann werden wir Bescheid wissen.

Thomas glaubt fest daran. Er ist ein ratloser, nicht mehr ganz junger Mann, der an Amerikas Westküste aufwuchs und inständig um eine Richtung für sein Leben ringt. Deshalb schreibt er Briefe mit Fragen an Prominente oder Politiker. Doch sie antworten nicht. Also entschließt er sich, sie zu entführen und an entlegenem Ort anzuketten, um sich endlich in Ruhe mit ihnen zu unterhalten. Um Antworten zu bekommen.

Dave Eggers ist in den letzten Jahren zum heißesten und zugleich coolsten unter Amerikas Schriftstellerstars aufgestiegen. Jahr für Jahr legt er Romane vor, die auf die politischen Kernfragen der Gegenwart zielen: 2013 erzählte er in dem jetzt mit Tom Hanks verfilmten „Ein Hologramm für den König“ von der weltweiten Wirtschaftskrise, die dem Mittelstand den Boden unter den Füßen wegzieht, und 2014 in „Der Circle“ von den unabsehbaren Gefahren der allgegenwärtigen Überwachung aller Lebensäußerungen durch IT-Konzerne.

Den Titel seines letztjährigen Romans hat Eggers dem Alten Testament entlehnt: „Eure Väter, wo sind sie? Und die Propheten, leben sie ewig?“ Das Buch handelt von einer geradezu alttestamentarischen Wahrheitssuche: Vordergründig geht es um einen Fall mühsam vertuschter Polizeigewalt, wie sie spätestens seit den Toten von Ferguson die amerikanische Gesellschaft spaltet. Im Hintergrund aber um den Verlust zukunftsweisender politischer Visionen in der westlichen Welt und um die letzten Fragen des Daseins. Um das große Wieso, Weshalb, Wozu des Lebens.

Der Roman besteht nur aus Dialogen: Kidnapper Thomas spricht, diskutiert, streitet 220 Seiten lang mit seinen entführten Opfern, darunter ein Astronaut, ein ehemaliger Kongressabgeordneter, ja sogar Thomas’ eigene Mutter. Eggers kann sich das leisten, denn seine Dialoge sind brillant geschrieben, spannend, witzig, temporeich. Wie in einem Gerichtsverhör klären sie nach und nach nicht nur den Polizeieinsatz, bei dem ein Freund von Thomas erschossen wurde, sondern enthüllen zugleich die charakterlichen Stärken und Schwächen der Beteiligten.

Dave Eggers: "Der Circle". Roman. Übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Verlag Kiepenheuer & Witsch. 10,99 Euro

Eggers hatte das alles nicht so geplant. Aber bei der Arbeit am Roman wurden die Dialoge immer mächtiger, bis sie schließlich alles Übrige aus der Geschichte herausdrängten. „Mehr als bei jedem anderen Buch, das ich zuvor geschrieben habe, hat dieses Buch sein Eigenleben entwickelt“, sagt Eggers. „Es fühlt sich seltsam und wild an, nicht wie etwas, das ich jederzeit unter Kontrolle hatte. Es ist wie das Kind eines Dämons.“

Wer den Roman mit kühlem Kopf liest, merkt das. Manches an ihm wirkt ungebändigt, fast ungeordnet. Mittendrin findet sich ein Plädoyer gegen die Hysterie, mit der heute selbst gemäßigte, angeblich unschädliche Formen von Pädophilie verfolgt werden. Sebastian Edathy würde es wohl mit Vergnügen lesen. Auch kommt Thomas der Wahrheit über den Polizeieinsatz, der seinem Freund das Leben kostete, nur auf Grund eines haarsträubenden Zufalls näher, wie ihn sich kein Thriller-Autor leisten könnte, der Wert auf Glaubwürdigkeit seiner Geschichte legt.

Doch das ändert wenig an der Faszinationskraft dieses Buches. Eggers hat ein erstaunliches Talent, die politischen Debatten der Gegenwart in mitreißende Geschichten zu verwandeln. Er liefert dabei kaum je neue, bislang unbekannte Argumente oder Einsichten. Aber er macht die oft abstrakt gewordenen Streitthemen wieder anschaulich und lebendig.

Kein Wunder, dass Eggers, 46, heute zu den Lieblingserzählern gerade des liberalen Amerika gehört. Er war gerade 22, als seine Eltern kurz hintereinander an Krebs starben und er seinen achtjährigen Bruder allein aufziehen musste – worüber er seinen ersten Roman schrieb: “Ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität”. Er gründete einen unabhängigen Verlag, mehrere Literaturzeitschriften und die Non-Profit-Organisation “826 Valencia“, die Kindern Creative-Writing-Kurse anbietet.

Dave Eggers: "Ein Hologramm für den König". Roman. Übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Verlag Kiepenheuer & Witsch. 9,99 Euro

Je unlösbarer und überwältigender die Probleme einer Epoche erscheinen, desto größer wird die Neigung, Antworten von den Dichtern, von den vermeintlich weisen und erleuchteten Menschen der Zeit zu erhoffen. Da sich Eggers zudem stark für soziale Hilfsprojekte engagiert, ist offenbar die Versuchung groß, ihn zu einer Art Mutter Teresa der Literatur zu stilisieren.

Doch Dave Eggers scheint, und das macht ihn besonders sympathisch, an dieser Rolle des Gurus wenig Freude zu haben. Denn Thomas, der verwirrte Held seines neuen Romans, ist zugleich die Karikatur eines typischen Gefolgsmanns, der flehentlich auf der Suche ist nach einem Vordenker, dem er ergeben alle seine Fragen stellen kann, ohne ihn je in Frage zu stellen.

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Buch&Bar 67: Reinhard Krüger “Der Stinkefinger”

Altwerden ist eine prima Chance, noch länger zu sündigen

Heute: Über anmutiges Beleidigen beim Lesen und Trinken

Reinhard Krüger: "Der Stinkefinger. Kleine Geschichte einer wirkungsvollen Geste". Galiani Verlag, 16,99 Euro

Ältere Damen entwickeln ja gelegentlich gewisse Eigenwilligkeiten. Nehmen wir zum Beispiel die distinguierte achtzigjährige Golf-Fahrerin, die kürzlich darauf bestand, mich zu überfahren. Ich war mit dem Fahrrad auf dem Fahrradweg unterwegs. Sie kam aus der Seitenstraße, stoppte aber erst, als ich direkt vor ihrem Kühler stand. Ich machte sie auf den Fahrradweg aufmerksam, sie nannte ihn „Bürgersteig“, mich „illegal“, ließ die Kupplung kommen und schob mich samt Fahrrad beiseite.

Ich gestehe, mir fiel in diesem Moment Reinhard Krügers Buch „Der Stinkefinger. Kleine Geschichte einer wirkungsvollen Geste“ein (Galiani Verlag, 16,99 Euro). Es versammelt nicht nur Fotos Prominenter mit erigiertem Mittelfinger von Yanis Varoufakis bis Peer Steinbrück, sondern erklärt auch die Herkunft der Gebärde

als Anspielung auf den hochragenden Phallus. Aber kann man, frage ich Sie, einer hochbetagten, zauberhaft gepflegten Verkehrsrabaukin mit einer solchen Obszönität gegenübertreten? Ich konnte nicht.

Kurz: Ich habe versagt in der Kunst einer kultivierten Beleidigung. In meiner Berliner Lieblingsbar Victoria bekam ich, was ich zur Beruhigung dringend brauchte, den Cocktail „The Veiled Insult“: 6 Teile Bénédictine, 2 Teile Kirschlikör, 1 Teil Fernet-Branca, 3 Teile Zitronensaft und 2 Teile Orangensaft. Ein hochelegantes sauer-fruchtiges Vergnügen, das mich schnell zu den anmutigsten Beleidigungen inspirierte. Aber: zu spät.

 

2014 startete BUCH & BAR. Die Kolumne ist schon deshalb absolut unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.

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Thilo Sarrazin: “Wunschdenken”

Er ist wieder da. Ein Hausbesuch bei Thilo Sarrazin

In seinem neuen Buch „Wunschdenken“ rechnet er mit den größten Fehlern der Politik ab. Übersieht er dabei seine eigenen? Eine Nahaufnahme von Uwe Wittstock

Man könnte es sich einfach machen mit Thilo Sarrazin. Und man müsste sich nicht einmal dafür schämen, denn Thilo Sarrazin macht es sich selbst einfach mit den Menschen. Aber richtig wäre es trotzdem nicht.

Das fängt schon bei der Begrüßung an. In den knapp sechs Jahren, die seit Sarrazins Streitschrift „Deutschland schafft sich ab“ vergangen sind, ist er zu einer echten Berühmtheit geworden, die auf offener Straße erkannt wird. Allein an Buchhonoraren dürfte ihm sein Verlag 3,5 bis vier Millionen Euro überwiesen haben. Es gibt Autoren, denen solche Erfolge zu Kopf steigen.

Doch als Sarrazin uns die Tür im Berliner Westend öffnet, ist er unzeremoniell, offen, zugewandt. Er führt den Fotografen und mich durch sein Haus, als wären wir Nachbarn, die nur mal auf einen Sprung vorbeigekommen sind. Zeigt uns Arbeitszimmer, Lesesessel, Bücherwände, viele Bücherwände. Bringt uns in den akkurat gepflegten Garten, den Rasen hat er selbst vor ein paar Tagen vertikutiert, „das Moos“, brummt er, „musste raus“.

Sogar in den Keller führt er uns, wo die Bronzebüsten stehen, die seine Mutter, eine Bildhauerin, von seiner Frau, seinen beiden Söhnen und ihm geschaffen hat, beeindruckende Arbeiten. Sein Vater schrieb Gedichte, Sarrazin stammt aus einer musischen Familie. Schließlich amüsiert er sich über sich selbst, als er uns seine Armbanduhr präsentiert: eine Rolex, die ihm seine Frau zum 70. Geburtstag geschenkt hat, die aber, so bat er es sich von ihr aus, möglichst genauso aussehen müsse wie die vertraute 100-Euro-Quarzuhr, die er vorher trug. Es ist lustig, wie er das erzählt, wir lachen.

Nein, Thilo Sarrazin ist kein Ungeheuer.

Doch dann, als ich mit ihm zusammensitze, um über sein neues Buch „Wunschdenken“ zu sprechen, kommt mir so vieles an seiner Gedankenwelt wieder so ganz und gar ungeheuerlich vor.

Sarrazin, der begabte Provokateur und Polemiker, kann an der heiß gelaufenen Flüchtlingsdebatte naturgemäß nicht vorübergehen. Auf schwierige Fragen gibt er einfache Antworten: Europa sei den Krisenstaaten und Entwicklungsländern anderer Kontinente nichts schuldig. Mauern zu bauen, Zäune zu ziehen, Europa in eine Festung zu verwandeln sei für alle das Beste. Wer nicht wolle, dass Migranten im Mittelmeer ertrinken, müsse konsequent dafür sorgen, dass sie gar nicht erst Richtung Europa aufbrechen, weil sie wissen, dass sie dort niemals Aufnahme finden werden.

Er sagt das und schreibt das in aller Klarheit. Und ohne jedes Bedauern.

Ob es denn, setze ich ihm zu, nicht grauenvoll sei, dass Europa künftig vielleicht vor derartige Entscheidungen gestellt sein könnte? Gefühle, entgegnet er, tun nichts zur Sache.

Aber wäre es nicht humaner und auch klüger, hake ich nach, wenn er in seinem Buch wenigstens einen Funken Mitgefühl mit Menschen in Not erkennbar werden ließe? Das Foto des ertrunkenen Jungen an der türkischen Küste habe ihn, den Vater zweier Söhne, doch sicher erschüttert? Seine emotionale Entscheidung sei, erwidert Sarrazin, das Beste für Deutschland zu wollen, und hinter dieses Ziel müsse er alle anderen Fragen zurückstellen.

Kein Mitleid, kein Erbarmen.

Man könnte es sich, wie gesagt, einfach machen mit Thilo Sarrazin. Vor allem nach solchen Sätzen. Man könnte schreiben, wie sehr es einen fröstelt, während man mit dem vielleicht kaltherzigsten Mann Europas in einem Zimmer sitzt.

Aber richtig wäre das nicht, denn es wäre nicht die ganze Wahrheit. Sarrazin sagt das alles nicht aus Übermut. Er denkt Fragen mit schauriger Konsequenz und Engstirnigkeit zu Ende, die andere lange Zeit nicht einmal zu stellen wagten.

Als er vor sechs Jahren „Deutschland schafft sich ab“ veröffentlichte, schnitt er darin haargenau die Themen an – Zuwanderung, mangelnde Integration -, die in den vergangenen Monaten unsere Gesellschaft aufwühlten bis zur Hysterie und Rechtspopulisten jetzt zweistellige Wahlergebnisse eintrugen.

Der Schwindel erregende Erfolg Sarrazins hätte ein früher Alarmruf für die etablierten Politiker sein können, wie viel wutbürgerlicher Unmut da im Schatten brodelt, um den sie sich kümmern müssen. Doch statt Sarrazin als Minenhund zu nutzen, begegneten sie ihm mit Empörung, mit Ausgrenzung und dem Kanzlerinnenwort, sein Buch sei „nicht hilfreich“.

Dabei hätte es doch hilfreich sein können – als Warnsignal. Ein Beispiel: Schon vor Jahren wurde von den grauenvollen Zuständen in den Flüchtlingslagern rund um Syrien berichtet, internationale Hilfe kam aber nur ebenso zögerlich wie kärglich in Gang. Als das Elend dann unerträglich geworden war und die Notleidenden leibhaftig an Europas Türen klopften, wurde alles viel schwieriger, gefährlicher, teurer. Hätte die Politik die indirekte Warnung ernst genommen, die von Sarrazins Triumphzug bei anderthalb Millionen Lesern ausging, und rechtzeitig Geld für die Lager organisiert, wäre den Deutschen viel Streit und den Flüchtlingen viel Leid erspart geblieben.

Sarrazin war lange Zeit seines Lebens Beamter, Staatsdiener, er ist ein Mann der Ordnung, der strengen Regeln und der geraden Linien. Für das krumme Holz, aus dem viele Menschen geschnitzt sind, hat er wenig Sinn und in seinem Buch keinen Platz.

Bei den türkisch-arabischen „Kopftuchmädchen“ sieht er nur das Kopftuch, nicht die sexy geschminkten Augen oder hautenge Jeans, die signalisieren, wie sich auch ihre Kultur verändert und dass aus dem kreativen Chaos des Ost-West-Gemenges längst neue Hybrid- und Mischkulturen entstehen.

Sein Buch „Wunschdenken“ ist vernarrt in die ganz, ganz großen Gedanken und möchte gern ein ambitioniertes Stück politischer Philosophie sein. Der Arbeitstitel lautete lange Zeit „Vom guten Regieren“, verrät Sarrazin im Gespräch. Er beginnt sein Buch mit der Entwicklung des Menschen (fünf Seiten) und der Entwicklung der Zivilisation (acht Seiten), streift Intelligenzforschung, Staatstheorie, Demografie, Religionswissenschaften, Vererbungslehre, Umwelt- und Bildungspolitik, verkündet „Zehn Regeln für den guten Regenten“ oder „Wie ich die Weltlage sehe“ und hat offenbar gar kein Gespür für die intellektuelle Großmannssucht all dessen.

Andererseits muss man Sarrazin in manchen Details einfach Recht geben: Natürlich braucht unser Land seit Jahrzehnten ein modernes Einwanderungsgesetz, ein radikal neues, zeitgemäßes Schulsystem oder eine gründliche Steuerreform mitsamt einem Familiensplitting statt des Ehegattensplittings.

Die Unfähigkeit der politischen Klasse, solche unbestreitbaren Notwendigkeiten umzusetzen, ist tatsächlich ernüchternd. Als Ministerialbeamter dürfte er dieses Versagen oft genug aus nächster Nähe beobachtet haben. Vielleicht wären, denkt man, während man sein Buch liest, ein paar neue Regeln fürs Regieren ja doch ganz schön.

Aber schon auf der nächsten Seite durchzuckt es mich wieder, wenn ich lese, welche Gefühlskälte Sarrazins Gedanken lenkt. In gewisser Hinsicht erinnert er an Alexander Gauland, den Vizechef der AfD. Auch der ein hoch kultivierter, hoch belesener Konservativer mit dem moralischen Verantwortungsgefühl eines Kleiderbügels.

Aber wofür, frage ich mich in Sarrazins Gästesessel, wofür all dieser Bildungseifer und diese endlosen Bücherwände, wenn dabei nichts anderes herauskommt als rhetorisch glänzend verpackte Mitleidlosigkeit. Einer der deutschen Klassiker, auf die sich Sarrazin und Gauland so gern berufen, hieß Friedrich Schiller. Er glaubte fest an die “ästhetische Erziehung des Menschen“, also daran, dass Kunst und Bildung die Leute nicht nur zu klugen, sondern auch zu guten, zu mitfühlenden, Anteil nehmenden Zeitgenossen machen.

Offenbar können auch Klassiker sich irren.

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Sensationell: Goethe, Heine und Mann in eine Talk-Show zu Shakespeare und Cervantes

Miguel de Cervantes und William Shakespeare oder: Was mit Rittern und so…

Als rasendem investigativen Literaturreporter fiel mir die Aufzeichnung einer bislang noch nicht gesendeten Talk-Show aus Anlass des 400. Todestages von Miguel de Cervantes und William Shakespeare in die Hände. Sensationelles Material, denn die Gäste dieser Talk-Show sind drei der besten und bekanntesten Schriftsteller der deutschen Literaturgeschichte: Goethe, Heinrich Heine und Thomas Mann! Ich zögere natürlich nicht, diesen hoch brisanten Beitrag zur Fernsehkultur hier zu leaken und damit nachträglich dem Jubiläum und der beiden Schriftsteller zu gedenken. Die Abschrift folgt, ganz großes Ehrenwort, Wort für Wort der Aufzeichnung.

Wir befinden uns in einem Fernsehstudio mit vier schweren Ledersesseln. Der Moderator, so um die Dreißig, geht an den Kameras vorbei auf den letzten freien Sessel zu und begrüßt die Zuschauer seiner Talk-Show:

Moderator: Hallo Leute! Vor 400 Jahren hatte die Literatur einen echt superschwarzen Tag. Am 23. April 1616 gingen gleich zwei der größten Dichter aller Zeiten in die ewigen Jagdgründe der Poesie ein: Miguel de Cervantes und William Shakespeare. Der eine hat den Bestseller „Don Quijote“ geschrieben, mit Rittern und so, der andere lauter Theaterstücke. Manche auch mit Rittern. Um über die beiden alten Knaben zu reden, haben wir drei supertolle Schriftsteller eingeladen: äh… (liest von seinen Notizen ab) Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832), Heinrich Heine (1797-1856) und Thomas Mann (1875-1955)…

Das sogenannte Chandos-Porträt von William Shakespeare, um 1610

Thomas Mann (unterbricht): Verzeihen Sie, junger Mann, eine winzige Korrektur, die Sie mir wohl nachsehen wollen: Cervantes Stunde schlug am 23. April nach dem gregorianischen Kalender – und damit zehn Tage vor der Shakespeares, der am 23. April nach dem julianischen Kalender starb. Wenn es also nur die Koinzidenz der Daten war, die Sie unseren kleinen Gesprächszirkel einberufen ließ, sollten wir die Runde rasch aufheben.

(Goethe, Heine, Mann stehen auf, wollen das Studio verlassen)

Moderator (verdattert): Also nein… Sie können doch nicht … Wir sind live!

Johann Wolfgang von Goethe: Live?

Moderator: Ja, Millionen schauen uns zu! Jetzt! Millionen, die Ihre Bücher in der Schule gelesen haben.

Heinrich Heine: In der Schule? Die Ärmsten.

(Goethe, Heine, Mann lassen sich wieder in ihre Sessel fallen.)

Es gibt leider kein gesichertes Porträt von Cervantes. Es wird aber allgemein angenommen, dass dieses Porträt Cervantes zeigt

Moderator (erleichtert): Herr Goethe. Stichwort: Theater. Sie haben ja auch Stücke geschrieben. Mit Rittern oder so. Da war Shakespeare bestimmt eine Super-Inspiration für Sie?

Goethe: Die erste Seite, die ich in ihm las, machte mich auf Zeitlebens ihm eigen, und wie ich mit dem ersten Stücke fertig war, stund ich wie ein Blindgeborener, dem eine Wunderhand das Gesicht in einem Augenblicke schenkt.

Moderator: Das Gesicht?

Heine: Geheimrat Goethe meint: Augen, Sehkraft! Sie Schwachkopf.

Moderator: Ach so. Und Cervantes? Hat der Sie auch dermaßen umgehauen?

Goethe: Ich habe an den Novellen des Cervantes einen wahren Schatz gefunden, sowohl der Unterhaltung als der Belehrung. Wie sehr freut man sich, wenn man das anerkannte Gute auch anerkennen kann.

Mann (zum Moderator): Sie sollten, junger Mann, nicht übersehen, welch bedeutende Verknüpfung zwischen dem Dichter eines Abenteuers wie Don Quijote und dem unsterblichen Barden der Briten besteht: Denn es gilt zu bedenken, dass Shakespeare nur auf unvergleichlich geniale Weise tat, was vor ihm viele auf eine sehr simple und mechanische Weise getan hatten. Das Drama entstand, indem man den von Handlung wuchernden Abenteuerroman für die leibliche Vorstellung auf der Schaubühne übersetzte.

Heine: Der Spaniern gebührt der Ruhm, den besten Roman hervorgebracht zu haben, wie man den Engländern den Ruhm zusprechen muss, dass sie im Drama das Höchste geleistet. Und den Deutschen, welche Palme bleibt ihnen übrig? Nun, wir sind die besten Liebesdichter dieser Erde. Cervantes, Shakespeare und Goethe bilden das Dichtertriumvirat, das in den drei Gattungen poetischer Darstellung, im Epischen, Dramatischen und Lyrischen, das Höchste hervorgebracht.

(Heine nickt Goethe zu, Goethe erwidert das Nicken huldvoll)

Moderator: Die TopDrei der Literaturgeschichte! Super! Ich hab vor der Sendung mal reingelesen in diesen „Don Quijote“. Ist ja mehr so ein Mittelalter-Nerd als ein Ritter. Was ist so toll an ihm, Herr Mann?

Mann: Das Buch zeigt, wie aus bescheidener Konzeption, einer lustig lebensgesegneten Satire, bei welcher der Dichter sich ursprünglich nicht viel gedacht hat, ein Volks- und Menschheitsbuch wird. Don Quijote ist zwar närrisch, doch nicht im mindesten unklug, was freilich der Dichter selbst im voraus nicht so recht gewusst hat. Seine Achtung vor dem Geschöpf seiner eigenen komischen Erfindung ist während der Erzählung ständig im Wachsen, – dieser Prozess ist vielleicht das Fesselndste am ganzen Roman.

Moderator: Was? Dieser Cervantes hat erst beim Schreiben kapiert, sie super sein Don Quijote ist? Echt wahr? Aber Shakespeare, the King of Drama, hatte seine Figuren besser Griff?

Heine: Im Gegenteil. Der große Brite ist nicht bloß Dichter, sondern auch Historiker. Die Aufgabe Shakespeares war nicht bloß die Poesie, sondern auch die Geschichte. Er konnte die gegebenen Stoffe nicht willkürlich modeln, er konnte nicht die Ereignisse und Charaktere nach Laune gestalten. Dennoch: In dieses Geschichtsdramen strömt die Poesie reichlicher und gewaltiger und süßer als in den Tragödien jener Dichter, die ihre Fabeln entweder selbst erfinden oder nach Gutdünken umarbeiten.

Mann: Shakespeare, das ist der ungeheuerste Fall von Dichtertum, den die Erde sah. So besaß er ohne Zweifel, wie er alles besaß, auch Erfindung. Aber noch sicherer ist, dass er nicht viel Gewicht darauf legte und nicht viel Gebrauch davon machte. Hat er je eine Fabel erfunden? Auch die krausen Intrigen seiner Lustspiele sind nicht von ihm erdacht. Er arbeitete nach alten Theaterstücken, nach italienischen Novellen. Er fand viel lieber, als dass er erfand

Moderator: Klar, super Typ, dieser Shakespeare. Aber übertreiben Sie nicht? Es gibt jede Menge Fehler in seinen Stücken. Können Sie mal bei Wikipedia nachlesen. (schaut triumphierend)

Mann: Wiki… Wer bitte?

Heine (wütend): Überall Kleinigkeitskrämerei, selbstbespiegelnde Seichtigkeit, gelehrter Aufgeblasenheit, die vor Wonne fast zu platzen droht, wenn sie dem armen Dichter irgendeinen antiquarischen, geographischen oder chronologischen Schnitzer nachweisen.

Goethe: Niemand hat das materielle Kostüm mehr verachtet als Shakespeare. Er kennt recht gut das innere Menschenkostüm, und hier gleichen sich alle. Man sagt, er habe die Römer vortrefflich dargestellt. Ich finde es nicht. Es sind lauter eingefleischte Engländer. Aber freilich Menschen sind es, Menschen von Grund aus, und denen passt wohl auch die römische Toga. Hat man sich einmal hierauf eingerichtet, so findet man seine Anachronismen höchst lobenswürdig, und gerade dass er gegen das äußere Kostüm verstößt, das ist es, was seine Werke so lebendig macht.

Moderator: Also echt Leute, das sollen die Größten in eurem Gewerbe sein? Der eine kapiert erst beim Schreiben, was er schreibt. Der andere wird für seine Fehler gelobt?

Mann: Junger Mann, Ihr Vorwurf lässt Ihre Ahnungslosigkeit erkennen. Man muss an dieser Stelle begreifen, dass es eine objektive Erkenntnis im Reiche der Kunst überhaupt nicht gibt, sondern nur eine intuitive.

Heine (fixiert den Moderator): Natürlich verzeihe ich meinen Feinden. Aber erst an dem Tag, an dem ich sie hängen sehe.

Mann (fixiert den Moderator): Vergessen Sie nicht junger Mann: Ein Künstler muss in derselben Verfassung an sein Werk gehen, in der der Verbrecher seine Tat begeht.

Goethe (fixiert den Moderator): Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent.

Moderator (schwitzt, seine Karteikarten fallen ihm aus der Hand, hektisch): Vielen Dank, ich freue mich, dass Sie in unserer Sendung waren.

Bei Abschrift der Sendung fiel mir auf, dass die Herren Goethe, Heine, Mann in ihren Antworten wörtlich auf Gedanken ihrer Essays zurückgriffen. Um die übernommenen Sätze kenntlich zu machen, haben ich die Zitate kursiv gedruckt.

Aufgezeichnet von Uwe Wittstock

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David Grossman: “Kommt ein Pferd in eine Bar”

Über die Lust an tierisch bösen Pointen

Kleine nachträgliche Überlegung zu David Grossmans fabelhaftem Roman “Kommt ein Pferd in eine Bar”. Man kann viel aus diesem Buch lernen – nicht zuletzt auch manches über die spezielle Bewusstseinslage des komischen Künstlers. Bei der extrem hochtourigen Debatte um Jan Böhmermann und seine satirische Gedicht-Kunst hätte das vielleicht nützlich sein können.

David Grossman: "Kommt ein Pferd in eine Bar". Roman. Übersetzung: Anne Birkenhauer. Hanser Verlag, 19,90 Euro

Im “Literarischen Quartett” vom 29. April hatte ich bereits Gelegenheit, ein paar Gedanken zu David Grossmans großartigem neuen Roman auszubreiten. (Die Sendung ist in der ZDF Mediathek zu finden unter: http://www.zdf.de/ZDFmediathek/hauptnavigation/sendung-verpasst#/beitrag/video/2727238/Das-Literarische-Quartett-vom-2904.2016

Hier möchte ich gern eine zusätzliche Überlegung hinterherschicken.

Es gibt viele Künstlerromane, also Romane, in denen Biographie und berufliche Probleme von Künstlern oder Schriftstellern ausgebreitet werden. Alles in allem ist das ein bei Autoren, aber erstaunlicherweise auch bei Lesern recht beliebtes Genre. Viel selten aber gibt es ein Romane über den Werdegang und die Arbeit von dezidiert komischen Künstlern. Zu denen aber zählt der Held Dovele Grinstein in Grossmans Roman.

Das soll nicht so klingen, als wären Künstler und Künstler mit den besonderen Talent für Komisches zwei grundsätzlich unterschiedliche Naturen. Im Gegenteil. Dennoch gibt es naturgemäß ein paar Spezifika, die den einen Künstler eher ins komische Fach treiben, den anderen eher ins tragische oder elegische. Grossman beschreibt in seinem Roman aus meiner Sicht sehr glaubwürdig die Voraussetzungen, unter denen seine Hauptfigur ihre besonderen komischen Talente entwickelt: und diese Talente zielen keineswegs auf einen sanftmütig heitern sondern auf einen aggressiven, provozierenden, Verletzungen in Kauf nehmenden Witz.

In den ersten drei Aprilwochen wurde hierzulande exzessiv über den aggressiven Witz von Jan Böhmermanns debattiert.  Ob sein Erdoğan-Gedicht nötig / klug / von der Kunstfreiheit gedeckt / noch der Satire zuzurechnen / eine Beleidigung / menschenverachtend / volksverhetztend u.v.a.m. gewesen sei. (Inzwischen werden wieder andere Themen durchs Debattendorf getrieben. Wenn ich alles richtig mitgekriegt habe, ist derzeit die Rente dran. Oder ist die auch schon wieder vorbei?)

Während ich Grossmans Roman über Kindheit und Jugend des Standup-Comedian Dovele Grinstein las, über seinen Zorn auf die Welt und auf nicht wenige Menschen, glaubte ich, die Quelle von Böhmermans komischer und/oder polemischer Energie mit einem Mal genauer verstehen zu können. Großen Einfluss auf die juristischen Bewertung seines Erdoğan-Gedicht hat das zwar nicht, aber Böhmermanns Lust an der Provokation, an die Zuspitzung von Widersprüchen und ausgeprägter Bissigkeit von Pointen wurden mir verständlicher.

Oliver Maria Schmitt: "Anarchoshnitzel schieen sie. Ein Punk-Roman für die besseren Kreise". Rowohlt Verlag. eBook. 8,49 Euro

Kurz: Ich möchte den Roman dem literaturempfänglichen Teil des Publikum nicht nur deshalb ans Herz legen, weil es schicht ein großartiger Roman ist. Sondern auch, weil man hier meines Erachtens eine Menge lernen kann über die Antriebe, Motive und Ziele der komischen Kunst. Als Nachtrag zur Böhmermann-Debatte ist das in meinen Augen sehr reizvoll.

Gestern hatte ich Gelegenheit mit Oliver Maria Schmitt, Ex-Chefredakteur der Titanic und Autor einiger zauberhaft böser komischer Romane (“Anarchoshnitzel schreen sie”und Sammelbände, ein paar Minuten über Grossmans neuen Roman zu sprechen. Ich bat ihn, sich das Buch anzuschauen und meinen Eindruck zu überprüfen. Er gehört zweifellos zu den Leuten, die etwas von scharfer Komik und aggressivem Witz verstehen. Ich bin gespannt.

 

 

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Buch&Bar 66: Roland Schimmelpfennig “An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts”

 Wo sich Fuchs und Wolf Guten Tag sagen

Heute: Über märchenhaft cooles Lesen und Trinken

Roland Schimmelpfennig: "An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts". Roman. Rowohlt Verlag. 19,99 Euro

Wenn ich morgens zum Tiergarten jogge, um zu gucken, was die Berliner Hasen da so treiben, kommt mir beim Potsdamer Platz oft ein Fuchs entgegen. Er reckt den Kopf, spitzt seine Spock-Ohren und kontrolliert, was bei uns Menschen so los ist. Wir beide, er und ich, sind halt gern gut informiert. Ich mag ihn. Nur auf High Five im Vorüberlaufen steht er nicht.

In Roland Schimmelpfennigs Roman „An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts“ ist es kein Fuchs, sondern ein Wolf, der von Osten her Berlin ansteuert und sich in der Hauptstadt umschaut. Auch der versetzt niemanden in Panik, von einem Kiosk-Besitzer einmal abgesehen, der sich schwachsinnigerweise bewaffnet, aber natürlich nie zu Schuss kommt. Diese schulterzuckende Gelassenheit der Leute in dem Buch hat mir gut gefallen: „Ist ja nur ein Wolf“, scheinen sie zu denken, „ich habe andere Sorgen. Warum aufregen, solange nicht ein ganzes Rudel auftaucht.“ Cool.

Wo ein Wolf ist, ist naturgemäß auch ein Rotkäppchen nicht weit. In ausgewählten Läden nicht nur Berlins wird neuerdings das Label „Fräulein Brösels Schnapserwachen“ angeboten: Eine zierliche Österreicherin, die man sich gut im Wald mit Körbchen in der Hand vorstellen kann, brennt Haselnuss-, Marillen-, Johannisbeer- und Vogelbeer-Geister mit milden 33 bis 38 % vol. Den Haselnussgeist habe ich probiert, sehr lecker, sehr nussig, jeder der Nutella mag, wird ihn lieben.

 

2014 startete BUCH & BAR. Die Kolumne ist schon deshalb absolut unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.

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Buch&Bar 65: Heinz Drügh “Ästhetik des Supermarkts”

Kunst und Knusper-Panade

Heute: Über supergeil interpretierendes Lesen und Trinken

Heinz Drügh: "Asthetik des Supermarkts". Konstanz University Press. 19,90 Euro

Wer sich superschöne und supergut gearbeitete Dinge anschauen will, der soll nicht ins Museum gehen, sondern in den Supermarkt, rät Kulturwissenschaftler Wolfgang Ullrich. Denn die Künstler, die heute Furore machen, denken oft nur ans Geld und liefen Schrott. Das Warenangebot dagegen wird von klugen Designern, Psychologen, Sozialforschern gestaltet, um uns zum Kauf zu verführen. Wenn wir deren Gedanken analysieren, können wir viel mehr über uns lernen als durch Kunstwerke.

Heinz Drügh führt das in seinem unterhaltsamen Buch „Ästhetik des Supermarkts“ (Konstanz University Press, 19,90 Euro) vor. Er nimmt sich Friedrich Liechtensteins Edeka-Werbevideo „Supergeil“ unter die Lupe als hätte es die Goldene Palma von Cannes gewonnen. Oder interpretiert eine Packung „Ostsee-Dorsch in Knusper-Panade“ so millimetergenau wie ein Gemälde. Was nicht nur Spaß, sondern auch schlauer macht.

Natürlich habe ich mich beim nächsten Einkauf gleich mal vors Getränkeregal gestellt und geschaut, was es da so zu interpretieren gibt.

Offen gestanden, ich hab nichts Superoriginelles gefunden. Liegt bestimmt an mir. Traditionsmarken lieben Vintage-Etiketten. Klarer Schnaps kommt in klaren Flaschen. Was in den abschließbaren Glasvitrinen steht, kommt einem gleich wertvoller vor. Alles ziemlich banal. Klasse fand ich allerdings die französische Destillerie, die für ihren Wodka naturgemäß einen russisch klingenden Namen haben wollte, und sich mit superfeiner Ironie für „Boris Jelzin“ entschieden hat. Zum auf-den-Panzer-steigen lustig.

 

2014 startete BUCH & BAR. Die Kolumne ist schon deshalb absolut unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.

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