Siegfried Lenz “Der Überläufer”

Wenn der Freund zum Feind wird oder: „Am Himmel graste die wolkige Einfalt.“

1951 mit gerade einmal 25 Jahren schrieb Siegfried Lenz (1926 – 2014) bereits an seinem zweiten Roman. Er hatte dafür ein denkbar heikles Thema gewählt. Aber auch nach einer Überarbeitung des Manuskripts konnte er sich mit seinem Verlag nicht einigen. 65 Jahre lang blieb das Buch unpubliziert im Archiv des Autors. In diesem Frühjahr ist der Kriegsroman „Der Überläufer“ endlich erschienen.

Proska ist Soldat und nicht zu beneiden. Im letzten Sommer des Zweiten Weltkriegs wird der Zug, der ihn aus dem Heimaturlaub zurück an die Front bringen soll, von polnischen Partisanen gesprengt. Proska, der einzige Überlebende, kann sich aus den Trümmern befreien, steht in einem riesigen Sumpfgebiet und wird von einem kleinen Wehrmachtskommando aufgegriffen, dessen Aufgabe es war, die gesprengte Bahnlinie zu bewachen.

Siegfried Lenz: "Der Überläufer". Roman. Verlag Hoffmann und Campe. 25 Euro

Das verlorene Trüppchen haust in einer Art hölzerner Wehranlage, die sie mit Grassoden befestigt hat und großsprecherisch ihre „Festung“ nennt. Aber die Deutschen sind längst nicht mehr Herren der Kriegslage, aus den Jägern sind Gejagte geworden. In den umgebenden Wäldern lauern Partisanen, sie kappen die Telefonleitung, verhindern alle Nachschublieferungen und rücken langsam, aber unbeirrbar näher.

Als Siegfried Lenz an dem Roman „Der Überläufer“ um den Landser Proska schrieb, war er ein junger Mann von gerade mal 25 Jahren. Für seinen ersten Roman, „Es waren Habichte in der Luft“ (1951), hatten ihn die Zeitungen wenige Monate zuvor zwar nicht mit Lob überschüttet, aber doch mit Wohlwollen bedacht. Befeuert durch diesen Anfangserfolg, machte sich Lenz gleich nach einem kurzen Urlaub an sein nächstes Romanprojekt – und war nach gut einem halben Jahr mit der ersten Fassung fertig.

Es sollte aber 65 Jahre dauern, bis das Werk tatsächlich erscheint; Siegfried Lenz hat das nicht mehr erlebt. Er starb im Oktober 2014.

Selbstbewusst wagte sich Lenz damals an ein Thema, das so kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs überaus brisant war: Sein Held Proska durchleidet nicht nur den allmählich fortschreitenden Zerfall der Wehrmacht während des letzten Kriegsjahrs, der mit nationalistischen Durchhalteparolen kompensiert werden soll, sondern zieht radikale Konsequenzen:

Nachdem er von Partisanen gefangen genommen wird, sagt er sich zusammen mit einem Leidensgenossen von den deutschen Truppen los und schließt sich der vorrückenden Roten Armee an. Zunächst soll er bei Propagandaeinsätzen die Moral seiner ehemaligen Kameraden untergraben, aber bald schon kämpft er gegen sie mit der Waffe in der Hand. Nach Kriegsende wird er dann vom sowjetischen Besatzungsregime in einem kleinen Ort als eine Art Bürgermeister eingesetzt.

Angesichts des deutschen Überfalls auf Polen 1939 und der unfassbaren Verbrechen des Nazi-Regimes gerade in diesem Land ist Proskas Entscheidung verständlich. Man nimmt sie heute gewissermaßen mit historischer Abgeklärtheit zur Kenntnis. Doch 1951, als Lenz an dem Roman arbeitete, waren auch die Übergriffe und Verbrechen der Roten Armee während ihres Vormarschs auf Berlin im Bewusstsein der Leser sehr präsent, und die Sowjetunion, die zwei Jahre zuvor ihre erste Atombombe gezündet hatte, galt als der aktuelle Erzfeind des Westens.

Bislang gibt es keine ausführliche Biographie zu Siegfried Lenz. Erich Maletzke nennt sein nicht sehr umfangreiches Buch "Siegfried Lenz" im Untertitel vorsichtig eine "biographische Annäherung". Es ist als Ebook erhältlich im zuKlampen Verlag, 8,99 Euro

Kein Wunder also, dass der Verlag an dem Manuskript dieses Nachwuchsautors namens Lenz einerseits hoch interessiert war, es aber andererseits mit Bedacht und Vorsicht behandelte. Der Verlagsleiter beauftragte einen unabhängigen Lektor, die erste Fassung mit dem Autor durchzuarbeiten, und schickte vorab erste Kapitel des Romans – die offenbar nichts von Proskas Frontwechsel erkennen ließen – an ausgewählte Zeitungsredaktionen.

Die Literaturkritiker reagierten positiv, aber die Überarbeitung des Manuskripts fiel anders aus, als Verlag und Lektor erwartet hatten. Nach rund zehn Wochen gab Lenz eine erweiterte Fassung ab, deren zweiter Teil, in dem Proska als Überläufer auf sowjetischer Seite kämpft, recht sprunghaft geschrieben ist und vieles im Dunkeln lässt.

Lenz neigte als Schriftsteller zeitlebens dazu, die Handlung seiner Geschichten auf dramatische Höhepunkte hin zu inszenieren und für sich selbst sprechen zu lassen, sie also als Erzähler nicht gleichsam aus dem Off zu kommentieren. So auch hier. Das moralische Dilemma Proskas, gegen seine ehemaligen Kameraden zu kämpfen, spitzt er in einer Szene radikal zu: Während der Besetzung seines Heimatdorfs wird Proska in ein Gefecht mit seinem Schwager verwickelt und erschießt ihn. Doch auf bewertende Sätze, wie der Leser das – oder auch Proskas spätere Arbeit für die Besatzungstruppen in der DDR – einzuordnen habe, verzichtet er fast ganz.

Literarisch war das sicherlich kein Fehler, es barg aber das Risiko politischer Missverständnisse. Der Lektor schreibt Lenz einen aufgebrachten Brief und warnt ihn: Er könne sich, sollte das Buch in der nun vorliegenden Form gedruckt werden, „maßlos schaden“. Ein Verlagsgutachten beklagt – in seltsamer Logik – den “überheblichen Individualismus“ der Figuren, „der gerade in einer Zeit, in der man den Nationalismus bekämpft, gefährlich ist“.

Also drängten Lektor und Verlag Lenz zu weiteren Überarbeitungen. Doch zu denen war der Jungautor nicht bereit, sie lägen, schreibt er in seinem sehr vornehmen, klugen Antwortbrief, jenseits seiner Möglichkeiten: „Der Sprung über die Hürde ist mir nicht geglückt.“

Die Versuchung ist groß, den Roman des 25-jährigen Siegfried Lenz gegen jeden Einwand in Schutz zu nehmen, weil wir heute wissen, welche großartigen Bücher er später schrieb. Doch manche erzählerischen oder sprachlichen Mängel des Buches sind unübersehbar – zum Beispiel, wenn der junge Lenz eine beschauliche Abendstimmung beschreiben möchte: „Am Himmel graste die wolkige Einfalt.“

Günter Berg war früher Verlagsleiter bei Hoffmann und Campe und ist heute Vorstand der Siegfried Lenz Stiftung. Er hat den Roman aus dem Archiv befreit. Ein Meisterwerk kann man es nicht nennen. Ein über weite Strecken spannendes und literatur- und zeitgeschichtlich lehrreiches Buch ist es aber allemal.

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Gespräch mit Peter Frisch über seinen Vater Max Frisch

»Fahr zur Olympiade und hol Gold«

Kürzlich war der 105. Geburtstag von Max Frisch zu feiern. Sein Sohn Peter Frisch ist Segelsportler und als Händler von Segelzubehör ein erfolgreicher Unternehmer in München. Ich sprach mit ihm über seinen Vater, dessen Wunsch etwas Großes zu machen und etwas Besonderes zu sein sowie darüber, wie es der Sohn lernte sich aus dem Schatten des berühmten Vaters zu befreien.

Uwe Wittstock: Was ist Ihre früheste Erinnerung an Max Frisch?

Peter Frisch: Das Klappern seiner Schreibmaschine oben in der Mansarde über unserer Wohnung. Und der Kran, den er aus dem Märklin-Baukasten mit mir zusammen baute. Das konnte er sehr gut – da merkte man den Architekten.

Wittstock: Es heißt, Ihr Vater hat Ihnen das Segeln beigebracht. Stimmt das?

Peter Frisch: Ja, aber er war kein großer Segler. Er nahm mich ab und zu mit dem Boot eines Freundes mit auf den Zürichsee. Erst hat er mir das Prinzip des Segelns an einem kleinen Modell erklärt. Das konnte er gut. Ich habe das später bei meinen Kindern auch so gemacht, das ist gar nicht so leicht. Aber beim praktischen Segeln, bei der Bedienung des Bootes, war mein Vater nur mäßig.

Wittstock: War das Segeln so etwas wie die verbindende Gemeinsamkeit zwischen Vater und Sohn?

Peter Frisch: Nein, das nicht. Sicher, er hat mit mir bei einem Urlaub auf Sylt mal ein Boot gebastelt, ganz primitiv, aus einem Brett und einer Handtuchstange. Es kippte sofort um und war nicht zu gebrauchen. Am Segeln interessierte ihn das Meer, die Weite, das Offene. Verbunden hat uns das Segeln nicht, eher im Gegenteil: Er fand das seltsam, dass der Sohn so viel segeln geht und nichts Gescheites macht. Als ich ihm erklärte, Segeln sei mein Sport, meinte er: Gut, dann fährst du zur Olympiade und holst die Goldmedaille. Er hatte sehr hohe Ansprüche. Was man macht, musste man in seinem Augen ganz und gar machen.

Wittstock: Sie wurden tatsächlich ein exzellenter Segler: 1976 Deutscher Meister im Flying Dutchman.

Peter Frisch: Das ist immer die Frage nach den Maßstäben. Ich war ganz gut, aber nicht gut genug, um ein Leben, einen Beruf darauf aufzubauen. Eine Goldmedaille habe ich nicht gewonnen.

Wittstock: Was sagte Ihr Vater, als Sie Deutscher Meister wurden?

Peter Frisch: Ich bin mir nicht sicher, ob er dazu viel gesagt hat. Der Titel fiel in eine schwierige Zeit unseres Verhältnisses. Er war ja nicht der große Kinder-Vater. Seine Hauptsorge war: Macht der Junge was Vernünftiges, etwas, von dem er leben kann? Als ich dann Segelzubehör zu verkaufen begann, sah er das nur als kleines Zubrot. Das war es zu Anfang auch. Er hatte in seinem Beruf das höchste Niveau erreicht, und er wollte, dass ich in meinem genauso viel erreiche.

Wittstock: Sie haben – wie Ihr Vater und Ihr Großvater – Architektur studiert.

Peter Frisch: Und jetzt studiert mein Sohn ebenfalls Architektur: An der ETH Zürich, wie sein Großvater Max.

Wittstock: Eine Architekten-Dynastie. Warum entschieden Sie sich für die Architektur?

Peter Frisch: Meine Mutter war ja auch Architektin. Ich war oft im Büro meines Vaters, sah seine Entwürfe, ging mit ihm auf die Baustellen. Die Arbeit begann mich zu interessieren, und sie hat ja auch etwas sehr Schönes: Man sitzt vor einem weißen Blatt Papier, man weiß, was entstehen soll, und muss dafür die beste und attraktivste Form finden.

Wittstock: Klingt wie die Arbeit eines Schriftstellers.

Peter Frisch: Kreativität gibt es ja auf ganz verschiedenen Ebenen. Auf dem leeren Blatt kann ein Roman entstehen, ein Haus oder ein Marketingkonzept. Bei all dem geht es darum, sich etwas Komplexes auszudenken, das in sich stimmig und hoffentlich schön ist und das die Menschen überzeugt. Die Architektur ist dafür eine gute Schule.

Wittstock: Was sagte Ihr Vater, als Sie sich entschieden, Ihren Beruf als Architekt aufzugeben?

Peter Frisch: Das war eine ziemliche Enttäuschung für ihn. Er glaubte nicht, dass ich aus meiner kleinen Segelfirma etwas Richtiges machen könnte, etwas, das über das reine Geldverdienen hinausging. Eine Sache richtig zu machen, etwas Großes zu machen und deshalb etwas Besonderes zu sein, stand für ihn immer im Mittelpunkt. Geld war für ihn eher unwichtig. Wenn er mit seiner Arbeit Geld verdiente, dann hat er das gern genommen, aber das war nicht das Entscheidende. Seine Freude über meine Firma kam erst sehr spät. Er war schon sehr, sehr alt, als er sagte, es sei schon wahnsinnig gut, dass ich mit Erfolg in einem Beruf arbeite, der vor den Gesetzen der Realität standhalten muss, während alle anderen in der Familie sich damit selten beschäftigten.

Wittstock: Warum haben Sie sich gegen die Architektur entschieden?

Peter Frisch: Ich war gerade mit dem Studium fertig, als mir mein Professor einen ersten Auftrag vermittelte: Der Bildhauer Bernhard Heiliger hatte ein Grundstück im Tessin gekauft, nicht weit von dem Haus meines Vaters in Berzona. Heiliger wollte dort ein Haus bauen, ich sollte es ihm entwerfen. Ich war ein naiver Student und stolz, dass ich, Peter Frisch, diesen Auftrag erhielt. Doch dann las ich in einer Zeitung: Bernhard Heiliger baut im Tessin ein Atelierhaus, und der Architekt ist der Sohn von Max Frisch. Das hat mich wahnsinnig geärgert. Ich wollte da lesen: Der Architekt ist Peter Frisch. Da wurde mir klar, dass ich in jedem künstlerischen Beruf immer der Sohn meines Vaters bleiben würde.

Wittstock: Haben Sie sehr darunter gelitten?

Peter Frisch: Gelitten nicht. Ich habe ein dickes Fell gehabt. Aber genervt hat es schon. In der Schule hat der Deutschlehrer was Besonderes erwartet, wenn er Aufsätze von mir las, oder der Französischlehrer hat mich als Grammatikübung den Titel „Mein Name sei Gantenbein“ übersetzen lassen. Konnte er sich nicht was anderes einfallen lassen?

Wittstock: Haben Sie trotz allem ein Lieblingsbuch von Max Frisch?

Peter Frisch: Natürlich, aber das wechselt. Zurzeit ist mir „Stiller“ das liebste. Überhaupt, die Romane mag ich sehr, weil sie seine Sprechweise einfangen, weil ich ihn beim Lesen reden höre. Wenn man im Tessin zusammengesessen hat am Abend, dann kam es immer zu Gesprächen, die an die Themen seiner Romane erinnerten. Wobei die Gespräche immer von meinen Geschichten weggingen hin zu seinen Geschichten. Das war schon interessant: Ich versuchte, eine Geschichte zu erzählen, und er nahm sie auf, drehte sie um, und es war seine Geschichte. Großartig und sehr lehrreich, aber es war nicht mehr meine Geschichte.

Wittstock: So ist das oft bei Schriftstellern.

Peter Frisch: Er war eine dominante Ich-Person. Nicht nur mir gegenüber. Allen Freunden ging es so, wenn sie mit ihm zusammen waren.

Ursula Priess: "Sturz durch alle Spiegel. Eine Bestandsaufnahme". btb, 8,99 Euro

Wittstock: Ihre Schwester Ursula hat 2010 ein Buch über ihr Verhältnis zum Vater geschrieben. Werden Sie irgendwann einmal ein Buch über Max Frisch schreiben?

Peter Frisch: Nein, ganz sicher nicht. Das Schreiben ist nicht meine Stärke.

Wittstock: Ihre Schwester war verletzt wegen eines Satzes Ihres Vaters: “. . . die schlichte Nachricht, dass ein Kind gezeugt worden ist, hat mich gefreut: der Frau zuliebe . . .“ Was denken Sie über den Satz Ihres Vaters?

Peter Frisch: Das ist ein typischer Satz meines Vaters. Er lässt mich völlig unberührt. Das verletzt mich überhaupt nicht. Wir Kinder hatten oft Spaß mit ihm, aber er war nicht der Kinder-Papa. Ich kann das verstehen: Als ich jünger war, spielten Kinder für mich keine so große Rolle wie später. Mit 30 Jahren war ich noch viel mehr mit mir selbst beschäftigt, ich wollte etwas aus mir machen. Das Kind war ja gut versorgt bei der Mutter. Es war nett, ein Kind zu haben, aber es hatte nicht diese Wichtigkeit. Als ich 30 war, war es mir wichtiger, Deutscher Meister als Vater einer einjährigen Tochter zu sein. So war das bei ihm auch: Ihm war wichtig, wie kommt der nächste Roman an, wie die nächste Theaterpremiere – und, ach ja, Kinder habe ich auch noch.

Wittstock: Sind Sie Ihrem Vater ähnlich? Erkennen Sie an sich Züge, die Sie an ihn erinnern?

Peter Frisch: Ja. Es gibt viele Ähnlichkeiten. Nur nicht das Schreiben. Aber zum Beispiel die Stimme: Am Telefon ist meine der seinen offenbar zum Verwechseln ähnlich. Dann meine Sehnsucht nach Großzügigkeit, nach offenen, freien Räumen. Er hat gern und sehr gut gekocht. Ich koche auch gern. Und hoffentlich gut.

Wittstock: Aber auch Ihre Direktheit und Klarheit erinnert an Ihren Vater. Zum Beispiel der Satz eben: Mit 30 sei es für Sie wichtiger gewesen, Deutscher Meister als Vater zu sein.

Peter Frisch: Ich glaube, es ist nicht egoistisch, wenn man mit 30 unbedingt Deutscher Meister sein will. Es ist nur ehrlich, wenn man das zugibt und ausspricht. Man darf darüber aber nicht rücksichtslos werden anderen gegenüber.

Wittstock: War Max Frisch nach der Scheidung von Ihrer Mutter oft für Sie da?

Peter Frisch: Wir waren regelmäßig an Wochenenden bei ihm. Und dann hat er sich sehr um uns gekümmert. Dann waren wir in den Bergen, und er hat Wasserräder am Bach mit uns gebaut oder Ähnliches. Einmal hat er eine kleine Modellbühne gebastelt, um sich Gedanken für das Bühnenbild seines nächsten Theaterstücks zu machen. Und ich habe ihm geholfen und kleine Stühle für die Bühne gemacht. Vielleicht habe ich auf diese Weise sogar mehr von meinem Vater gehabt als mancher andere. Denn wenn er in die Verantwortung genommen wurde, hat er sich sehr bemüht. Das war typisch für ihn: Wenn er etwas machte, dann machte er es richtig.

Wittstock: In jedem Verhältnis zwischen Eltern und Kindern gibt es gelegentlich Streit. War das bei Ihnen und Ihrem Vater genauso?

Peter Frisch: Streit gab es eigentlich selten. Das lag sicher auch daran, dass wir uns nur jedes zweite Wochenende sahen. In dieser kurzen Zeit kann man Streit leichter vermeiden, als wenn man immerzu zusammenlebt. Zu Konflikten kam es, als er mir klarzumachen versuchte, ich müsse einen richtigen Beruf haben, nicht dieses bisschen Segeln da. Das war die Zeit, in der wir uns wenig gesehen haben. Ich habe ihn wohl zwei Jahre lang nicht besucht, er hat sowieso nie angerufen – bis er dann mal einen Brief geschrieben hat.

Wittstock: Ist Ihr Vater ein Vorbild für Sie?

Peter Frisch: In vielen Punkten ist er ein Vorbild. Ich will etwas ganz Banales sagen: sein Auftreten zum Beispiel. Er wusste, wie man, ohne zu protzen, großzügig ist. Er konnte sehr gut umgehen mit Menschen, er hatte Charme. Er war ein Grandseigneur.

Wittstock: Ihr Vater war ein Mann der Frauen. Er hatte viele Partnerinnen, viele Geliebte. Hat das Ihr Verhältnis zu Ihrem Vater beeinflusst?

Peter Frisch: Eher positiv. Natürlich war es schmerzhaft, dass er nicht mehr mit meiner Mutter zusammen war, aber daran hat man sich irgendwann gewöhnt. Und mit den späteren Partnerinnen meines Vaters bin ich durchweg gut zurechtgekommen. Vor allem mit Marianne, seiner zweiten Ehefrau, habe ich mich sehr gut verstanden, sie war nicht viel älter als ich. Das war eine tolle Frau. Auch als ich mich eine Zeit lang nur schlecht mit meinem Vater verstand, hat eine seiner Frauen dafür gesorgt, dass der Kontakt zwischen uns beiden wieder aufgenommen wurde.

Wittstock: Sie haben mal gesagt, die Liebe zur Schönheit hätten Sie von Ihrem Vater geerbt. Ist diese Liebe Genuss oder Last für Sie?

Peter Frisch: Last? Warum sollte das eine Last sein? Schöne Dinge anzuschauen ist doch ein Genuss

Wittstock: Aber es gibt so wenig davon.

Peter Frisch: Nein, das finde ich nicht. Das ist doch eine Frage des Blickwinkels: Schaue ich aus dem Fenster und suche nach den hässlichen Sachen, werde ich eine Menge finden. Schaue ich hinaus und konzentriere mich auf die schönen Dinge, die es auch gibt, habe ich die Möglichkeit, sie zu genießen. Zum Genussmenschen gehört halt, dass er sich die Dinge sucht, die er genießen kann.

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Buch & Bar 71: Matthias Heine “Seit wann hat ‘geil’ nichts mehr mit Sex zu tun?”

Haben Sie sich heute schon verändert?

Heute: Über krass hammerendgeiles Lesen und Trinken

Matthias Heine: "Seit wann hat 'geil' nichts mehr mit Sex zu tun? 100 deutsche Worte und ihre erstaunlichen Karrieren". Hoffmann und Campe. 16 Euro

Tief im Herzen sind wir alle Reaktionäre. Wir wissen: Die Welt verändert sich. Aber wir wollen uns nicht mitändern, sondern an dem festhalten, was uns mal gut gefallen hat. Alexander Gauland zum Beispiel will, dass Deutschland so bleibt wie es war in den Grenzen der jüngeren Steinzeit. Jogi Löw, dass die Nationalmannschaft in den Grenzen bleibt des mittleren Schweinsteiger und frühen Götze. Und ich? Ich will, dass das Wort „geil“ in den Grenzen des Schlafzimmers bleibt, und nicht alle überall damit um sich werfen. Warum? Weil ich das geiler finde.

Aber das ist unmöglich. Und Matthias Heine erklärt in „Seit wann hat ‚geil’ nichts mehr mit Sex zu tun“ (Hoffmann und Campe, 16 Euro) anhand von 100 Worten haargenau warum das nicht geht. Denn Worte und Welt verändern sich nicht nur heute, sondern haben sich schon immer verändert. Es gibt gar keinen Ursprung, zu dem wir zurückgehen können, sondern nur Veränderung. „Geil“ zum Beispiel war nie nur aufs Schlafzimmer beschränkt. Mal bedeutete es „übermütig“, dann hatte es vorübergehend mit Sex zu tun, und heute – ich kann’s nicht ändern – heißt es eben „toll, super“.

Sogar die Welt der Cocktails ändert sich. Ein neuer Trend ist White Whiskey, er wird nicht in Fässern gelagert, sondern wie in der Prohibitionszeit sofort nach dem Brand abgefüllt. Georgia Moon zum Beispiel wird deshalb stilgerecht in Einmachgläsern verkauft, wie das zu Zeiten Al Capones üblich war. White Whiskey erinnert an Wodka, schmeckt aber irgendwie schärfer, süßer, nach Mais. Ich fand es, offen gestanden, nicht so geil.

 

2014 startete BUCH & BAR. Die Kolumne ist schon deshalb absolut unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.

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Rudyard Kipling: “Über Bord” und “Von Ozean zu Ozean”

Der Sturz ins andere Leben

Über achtzig Jahre nach seinem Tod wird der „Dschungelbuch“-Autor und Nobelpreisträger Rudyard Kipling in Deutschland mit hierzulande wenig bekannten Büchern neu entdeckt: mit einem Abenteuerroman und wilden Reportagen

Rudyard Kipling: "Über Bord". Roman. Übersetzt von Gisbert Haefs. Mareverlag, 18 Euro

Harvey ist erst 15, aber schon ein mustergültiger Schnösel. Sein Vater, ein amerikanischer Eisenbahn-Baron des 19. Jahrhunderts, scheffelt Geld säckeweise. In New York hat sich Harvey nach Europa eingeschifft, um sich dort den letzten gesellschaftlichen Schliff verpassen zu lassen – und zum „perfekten Ekel“ heranzuwachsen, wie ein genervter Mitreisender voraussieht.

Doch in einer Nebelnacht vor Neufundland zieht Harvey zu tief an einer Zigarre, gleitet im Nikotinschwindel über die Reling und landet im eiskalten Nordatlantik. Ein Sturz in den Tod – wenn er nicht schon Augenblicke später von einem Kabeljau-Schoner entdeckt und gerettet würde. Doch nun muss der verwöhnte Harvey für Monate als Schiffsjunge Dienst tun unter rauen Seeleuten, die es sich nicht leisten können, ihn während der Fischfang-Saison nach New York zurückzubringen.

1897 erschien der Roman “Über Bord“ zum ersten Mal. Sein Autor Rudyard Kipling (1865-1936) war zuvor schon mit dem „Dschungelbuch“ weltberühmt geworden – und erhielt 1907 mit 42 Jahren den Literaturnobelpreis als jüngster Schriftsteller aller Zeiten. Jetzt ist “Über Bord“, Kiplings zweiter großer Erfolg, der sich in Deutschland aber nie richtig durchsetzen konnte, in exzellenter Übersetzung von Gisbert Haefs neu vorgelegt worden (Mareverlag, 18 Euro).

“Über Bord“ ist vieles zugleich. Ein Erziehungsroman, der zeigt, wie Harvey als Schiffsjunge zu einem geläuterten, respektvollen jungen Mann heranwächst. Ein Abenteuerroman, denn den Kurs des Kabeljau-Schoners kreuzen Stürme, übellaunige Wale und riesige Dampfer. Und schließlich ist das Buch zugleich eine historische Sozialreportage, die das damalige brutale Arbeitsleben der Fischer anschaulich vorführt.

Heute würde man “Über Bord“ wohl ein All-age-Buch nennen. Es zeugt von erzählerischer Perfektion und präziser Kenntnis der Fakten – schließlich hatte Kipling sein Schreibhandwerk als Journalist gelernt. Zugleich aber kann er die pädagogischen Tendenzen seines Romans nie verleugnen: Es braucht nur etwas redliche Arbeit unter redlichen Leuten, um Harvey den Kopf zurechtzurücken.

Rudyard Kipling: "Von Ozean zu Ozean. Unterwegs in Indien, Asien und Amerika". Übersetzt von Alexander Pechmann. Mareverlag. 48 Euro

Wie genau Kiplings Blick für die Realitäten des einfachen Lebens seiner Epoche war, zeigt auch der aufwendig gestaltete Band „Von Ozean zu Ozean“ (Mareverlag, 48 Euro), der Reiseberichte aus Indien, Asien und Amerika enthält. Er erzählt von Bordellen und Opiumhöhlen in Kalkutta oder vom Alkoholismus der Arbeiter in den USA. Gegen Ende seiner Amerikareise begegnete Kipling sogar seinem großen Schriftsteller-Vorbild Mark Twain (1835-1910), der ihm für die literarische Arbeit den unersetzlichen Rat gab: „Sammeln Sie Ihre Fakten, um sie dann nach Lust und Laune zu verdrehen.“

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Judith Hermann: “Lettipark”

„Die Unsicherheiten bleiben, nichts Wichtiges wird einfacher“

Judith Herrmann kenne ich lange, aber wir haben uns nur selten gesehen. 1998 betreute ich als Lektor im S.Fischer Verlag ihren Debüt-Band “Sommerhaus, später”. Als junge Autorin brachte sie damit einen neuen poetischen Ton in die deutsche Literatur. Nun, 18 Jahre später, hat sie wieder einen Band mit kurzen Erzählungen geschrieben, den ich sehr mag. Ich bat sie um einen Spaziergang und ein Gespräch.

Jeder Park ist auch ein Versprechen. Das Versprechen der Ruhe, das Versprechen, sich sammeln zu können und zumindest für einen Augenblick zu sich selbst zu kommen. Vielleicht war es schon deshalb unvermeidlich, dass ein Park in den Büchern Judith Hermanns, die zum Schönsten gehören, was die deutsche Literatur der letzten 20 Jahre zu bieten hat, dass ein Park irgendwann einmal eine besondere Rolle spielen würde.

Judith Herrmann: "Lettipark". Erzählungen. S.Fischer Verlag, 18,99 Euro

Der Lettipark ist auf keiner Karte Berlins verzeichnet. Es gibt ihn, und es gibt ihn nicht. Rheinsteinpark ist sein amtlicher Name, aber die Ämter scheinen es nicht gut mit ihm zu meinen: ein struppiges Grün tief im Osten Berlins, eingezwängt zwischen Häuserblocks, ein paar graffitibeschmierte Bänke, eine Bronzeplastik, ein lieblos bepflanztes Rondell. Das ist schon alles. Ist wirklich jeder Park ein Versprechen?

„Der Name“, erzählt Judith Hermann, während wir auf einer der Bänke neben dem Rondell sitzen, „ist, soweit ich weiß, für diesen Park eher umgangssprachlich. Ich fand den Klang des Wortes schön und rätselhaft – und ich möchte, dass das ein realer und zugleich unauffindbarer Ort ist, eine Fiktion.“ Denn den Lettipark, der Judith Hermanns neuem Erzählungsband den Titel gegeben hat, gibt es letztlich nur in der Fantasie, in der Literatur.

Die Titelgeschichte handelt von einer zufälligen Begegnung zwischen zwei nicht mehr jungen Frauen an der Kasse einer Markthalle. Die eine von ihnen war früher eine Schönheit, stolz, kühl, ungebunden, auch sie so etwas wie ein Versprechen: auf ein pralles, kompromissloses Leben. Die andere war ihre Bewundererin aus der Ferne, die beobachtete, wie sie Männern mitleidlos das Herz brach, darunter auch einem Sonderling, der für sie ein ganzes Fotoalbum des Lettiparks und zu den Bildern Gedichte anfertigte.

Nun, 20 Jahre später an der Markthallenkasse, ist nicht nur die Schönheit verblasst – das wäre eine banale Geschichte. Sondern auch von dem einst bewunderten Stolz, von der radikalen Ungebundenheit kann die Beobachterin nichts mehr entdecken. Und fragt sich plötzlich – typische Wende einer Judith-Hermann-Geschichte -, was aus den eigenen Hoffnungen ihrer Jugend, aus den eigenen Plänen für ein pralles Leben geworden ist.

Eine Frage, die ich auch Judith Hermann stelle, während wir ein paar Schritte über die staubigen Wege des Parks gehen. 18 Jahre ist es jetzt her, dass sie ihren ersten Erzählungsband „Sommerhaus, später“ veröffentlichte. Ich war damals ihr Lektor im S. Fischer Verlag. Im „Café Einstein“, Kurfürstenstraße, trafen wir uns zum ersten Mal, ich erinnere mich gut an ihre Scheu. Aber auch an ihren Ernst, sobald wir über ihre Geschichten sprachen.

Das Buch wurde mit einer Auflage von über 600 000 Exemplaren zu einem so unerwarteten Erfolg, dass manche Kritiker sie zur poetischen Stimme ihrer Generation erklärten und verklärten, zu einer Art role model der damaligen Mittzwanziger. Viele junge Autoren hätten sich geaalt im Licht der Scheinwerfer, die sich auf sie richteten. Doch ihr war das nicht möglich.

„Ich habe mich nie als Stimme meiner Generation gefühlt“, sagt sie, „und ich hätte auch gar nicht die Kapazität gehabt, um diese Rolle auszufüllen.“ Von der plötzlich aufbrandenden öffentlichen Aufmerksamkeit war sie überfordert und außerdem zu sehr in Selbstzweifel verstrickt, als dass sie zur Generationsvordenkerin getaugt hätte. „Ich habe meine Kraft fürs Schreiben gebraucht, fürs faktische Schreiben und fürs Nachdenken darüber. Das ist anstrengend – es kostet Nerven. Und Zeit.“

Den tänzelnden, federleichten und doch melancholischen Ton, der ihre Leser in „Sommerhaus, später“ sofort hingerissen hat, trifft sie auch in ihrem neuen Buch. Doch ihre Figuren sind mit ihr älter geworden. Es ist nicht mehr von den Hoffnungen und Verzagtheiten des Jungseins die Rede, sondern von den ersten Zwischenbilanzen des Lebens, die zur eigenen Überraschung nicht mehr so entschieden ausfallen, wie man es von sich erwartet hätte.

Judith Hermann (Berlin, Februar 2014) Foto: Andreas Labes

Die unabwendbaren Enttäuschungen des Älterwerdens? „Ja, auch. Aber vielleicht nicht nur das“, sagt Judith Hermann. „Früher habe ich angenommen, die Standpunkte würden sich irgendwann klären, die Unsicherheiten würden weniger werden – man käme bei sich selber an. Aber die Unsicherheiten bleiben, nichts Wichtiges wird einfacher.“

Vielleicht ist das die Lehre, die Judith Hermanns Geschichten bereithalten: Das endlose Spiel der Möglichkeiten, für das unsere Zeit oft gefeiert wird, ist, genau betrachtet, gar nicht lustig, sondern verdammt mühevoll und ernst. Ihre Figuren kennen zahllose Standpunkte, sie probieren sie durch. „Sich so ein Leben vorstellen“ hieß das in einer ihrer frühen Erzählungen. Und ihre Heldinnen spielten das Spiel mit wilder Begeisterung. Doch wenn alles möglich ist, ist nichts verpflichtend. Das Spiel kommt zu keinem Ende, die Suche geht immer weiter.

Vielleicht musste ein Park schon allein deshalb irgendwann zu einem Fixpunkt von Judith Hermanns Literatur werden. Als Sehnsuchtsort und als Hoffnungsbild. Als der Wunschtraum, irgendwann doch noch bei sich ankommen zu können. Und vielleicht ist der Lettipark, dieses nur halb reale, halb unauffindbare Grün dafür genau der richtige Platz.

 

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Buch&Bar 70: Eric Ambler “Die Maske des Dimitrios”

Ein Glas voll Tränen des Dichters

Heute über: Angst vor großen Portionen beim Lesen und Trinken

Eric Ambler: "Die Maske des Dimitrios". RomN. Übersetzung: Matthias Fienbork. Hoffman und Campe, 22 Euro

Der Thriller-Autor Eric Ambler (1909-1998) ist ein ernstes Problem für mich. Ich habe alle seine Bücher und habe sie alle gelesen. Doch sobald ich in einem davon blättere und die ersten Absätze lese, kann ich nicht mehr aufhören, bevor ich die letzte Seite erreicht habe. Kürzlich schickte mir der freundliche Verlag eine Neuausgabe zu von Amblers Klassiker „Die Maske des Dimitrios“ (Hoffmann und Campe, 22 Euro). Wie nett von denen, dachte ich, schlug das Ding auf und fand mich am nächsten Morgen übernächtigt und unrasiert in meinem Lesesessel wieder, den Schlusssatz vor Augen.

Schon klar, in Thrillern von heute werden ganze Städte oder Staaten ausradiert. Bei Ambler ist das Morden noch Handarbeit. Sein Dimitrios ist ebenso clever wie brutal, ein Mann ohne moralische Kategorien, dessen Geld- und Machtgier keine Grenzen kennt. Amblers Roman erschien 1939 wenige Tage bevor Hitler, dessen moralische Grundsätze denen des Dimitrios zum Verwechseln ähnlich sahen, aus Machtgier den Zweiten Weltkrieg vom Zaun riss. Selten hat ein Buch die finstere Atmosphäre seiner Zeit so genau eingefangen wie dieses.

Als ich Ambler einmal in London traf, vergnügte er sich mit einem großen Glas Whiskey pur, ohne Eis. Er bot mir das gleiche an. Ich fürchtete nach so einer Portion dem Gespräch mit ihm nicht mehr gewachsen zu sein und wählte Tee. Dafür erhebe ich heute ein kleines Glas irischen Whiskey „Writer’s Tears Copper Pot“ auf ihn, würzig und doch mild. Natürlich pur, ohne Eis.

 

2014 startete BUCH & BAR. Die Kolumne ist schon deshalb absolut unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.

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10. Todestag von Robert Gernhardt

Die Seele ist wund

Heute vor 10 Jahren starb Robert Gernhardt. Er war ein umfassend begabter Künstler und Schriftsteller und darüber hinaus ein großartiger Mensch. Ich halte es für ein Versagen der Deutschen Akademie und einen bleibenden Makel des Büchner-Preises, das Robert Gernhardt ihn nie erhalten hat. Sportreporter bejubeln manche Profis als „vollständige“ Spieler, weil sie über jede Schlag- oder Schusstechnik ihrer Disziplin perfekt verfügen. In diesem Sinne war Gernhardt ein vollständiger Lyriker: Er beherrscht alle Formen und Tonfälle, schreibt philosophische Gedichte ebenso wie melancholische, ironische wie elegische, Heine’sche wie schweinische.
Als Erinnerung an Robert Gernhardt hier mein Bericht über seine Trauerfeier 2006 in Frankfurt.

Robert Gernhardt: "Gesammelte Gedichte 1954 - 2006". S.Fischer verlag, 16 Euro

Es war einer dieser strahlenden Sommertage, hell und leuchtend, wie Robert Gernhardt sie geliebt hat. Hunderte von Trauergästen versammelten sich auf dem Frankfurter Hauptfriedhof, um sich von ihm, der das Licht zeitlebens so blendend besungen und gemalt hat, endgültig zu trennen.

Trost gab es da kaum. Allenfalls in den Zeilen seines Dichterkollegen Gottfried Benn: „Am schlimmsten: / nicht im Sommer zu sterben, / wenn es hell ist / und die Erde für Spaten leicht.“ Dieses Schlimmste blieb Gernhardt erspart.

Aber ist das ein Trost? Sie waren alle, alle da, um einen der Größten aus ihrem Kreis zu verabschieden. Frankfurt ist heute, hat Gernhardt einmal geschrieben, „der Ort mit der größten Satirikerdichte Deutschlands“. Angelockt nicht zuletzt durch die hier angesiedelten Satiremagazine „Pardon“ und „Titanic“ haben sich in dieser Stadt mehr Autoren und Zeichner mit Talent zur Komik niedergelassen als irgendwo sonst im Land.

Der Ruhm der „Neuen Frankfurter Schule“, dieser lockeren Vereinigung unterschiedlichster Künstler-Temperamente im Zeichen von Witz und Spott und Ironie ist bundesweit längst legendär. Wenn Frankfurt heute so etwas wie eine literarische Seele hat, dann ist sie machtvoll geprägt durch diese Komik-Fachpersonal.

Robert Gernhardt: "Reim und Zeit". Gedichte. Reclam Verlag. 5 Euro

Doch die Seele in wund. Und das nicht erst seit Gernhardts Tod vor gut einer Woche. Die komische Literatur und Kunst aus Frankfurt und Umgebung erlebt eine Schwarze Serie ohnegleichen. In den vergangenen vier Jahren starben der Kabarettist Matthias Beltz, der Jazzgitarrist und Cartoonist Volker Kriegel, die Gründungsmitglieder der Neuen Frankfurter Schule Chlodwig Poth und F.K.Waechter, der Cartoonist und Maler Bernd Pfarr und die Pianistin und Kabarettistin Anne Bärenz. Und sie starben ausnahmslos vor ihrer Zeit, allzu viele erlebten nicht einmal ihren sechzigsten Geburtstag.

Der Tod hat schrecklich reiche Ernte gehalten unter Leuten, denen die Herzen zuflogen, weil sie Kritik und Komik, Geist und Gelächter, Poesie und Pointen zu verbinden verstanden zu einer lebenssteigernden, weil Gedanken, Gefühle und Gelüste ihres Publikums intensivierenden Mixtur.

Nicht zuletzt das macht den Abschied von ihnen so schwer: Denn in ihrem Witz lag immer auch ein utopisches Moment, ihr Witz barg immer auch eine Erinnerung daran, welche Lust das Leben sein könnte. Und wer versteht sich schon darauf, von solcher Utopie Abschied zu nehmen?

Natürlich wäre es zuviel gesagt, wollte man behaupten, daß eine ganze Stadt derzeit Trauer trägt um Robert Gernhardt. Frankfurt hat sich in den vergangenen Tagen der Euphorie der Fußball-WM hingegeben so wie das ganze Land. Doch mischte sich bei einem großen Teil der Bürger dieser Stadt seit der Nachricht von Gernhardts Tod in die Festtagstimmung das Empfinden, einen ganz persönlichen Verlust erlitten zu haben.

Man hat Gernhardt, der über vierzig Jahre in Frankfurt lebte, nicht nur auf Lesungen gehört, man ist ihm auch auf Straßen, in Kneipen oder Cafés begegnet. Es ist verblüffend, wie viele Menschen, die sich keineswegs zum Literaturbetrieb zählen, Gedichte von ihm liebend gern auswendig hersagen und einige seiner Zeilen regelrecht zu ihrer intimen Bewußtseins-Ausstattung zählen. Welcher Schriftsteller sonst könnten heute Ähnliches von sich und seinem Werk behaupten?

Robert Gernhardt: "In Zungen reden" 2 Audio-CDs. Der Hörverlag, 10,99 Euro

An Gernhardts Sarg sprachen Bernd Eilert über ihn als Dichter, F.W. Bernstein über ihn als Zeichner, Peter Knorr über ihn als Satiriker und Petra Roth, die Frankfurter Oberbürgermeisterin, dankte dem Toten im Namen der Stadt. Niemand konnte Gram und Schmerz in den Reden seiner drei Weggefährten überhören, niemand aber auch diesen unvergleichlichen Ton aus Intelligenz, Eleganz und Witz, der selbst die Trauergemeinde einiges Lachen entlockte.

Gernhardt und seine Freunde haben diesen Ton, der so herrlich leicht ist und so schwer zu treffen, in die Literatur und damit ins Leben ihrer Leser gebracht. Und er wird so schnell nicht wieder verschwinden, denn er ist nicht zuletzt aufgehoben in Gernhardts Gedichten und Erzählungen. Vielleicht ist das der beste, der einzige Trost an solchen ebenso strahlenden wie trostlosen Tag. Es ist mit Gernhardt etwas in die Welt gekommen, das ihr bleibt. Man kann, auch wenn er tot ist, dem Geist Gernhardts begegnen, sobald man eines seiner Bücher aufschlägt.

„Sicher“, sagte Bernd Eilert, der zusammen mit Gernhardt und Peter Knorr unter anderem Texte und Drehbücher für Otto Waalkes schrieb, „sicher“, sagte Eilert, sie hätten gelegentlich im Schatten Gernhardts gestanden, „aber ich habe mich gesonnt in diesem Schatten“.

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Sibylle Berg: “Der Tag, als meine Frau einen Mann fand”

„Apropos – haben Sie jetzt Angst vor mir?“

Ist sie die Fachfrau des Brutalen in der Literatur? Oder ein scheues Reh? Sibylle Berg erzählt in ihrem Roman “Der Tag, als meine Frau einen Mann fand” mit grellen Worten eine grelle Dreiecksgeschichte

Eine Begegnung auf den Höhen des Prenzlauer Bergs

Sie ist die Meisterin des Spotts, eine Virtuosin der Verachtung und des Zorns. Ihre Romane leben von Polemik, nicht von Poesie. Sie kultiviert einen kalten Blick auf Menschen und spaltet das Publikum damit zuverlässig in zwei Lager: zarte Gemüter, die erschauern vor der Wucht ihres Grimms, und in Abgebrühte, die ihren Furor genießen.

Sibylle Berg: "Der Tag, an dem meine Frau einen Mann fand". Roman. Hanser Verlag. 19,90 Euro

Wir sind in einem Café in Berlins Prenzlauer Berg verabredet: Trödlermöbel, gepflegte Stillosigkeit, Wohnküchenflair. Sibylle Berg betritt den Raum, scheu wie ein Reh, das sich in der Mondnacht auf eine Lichtung vortastet. Dann kuschelt sie sich auf eins der Sperrmüllsofas, zieht noch die Füße hoch aufs Polster, schmiegt den Kopf an die Rückenlehne. Jetzt wirkt sie wie ein Kätzchen, das sich genussvoll auf ein Kissen drapiert. Wird sie gleich schnurren? Sie schnurrt nicht.

Schon als ich den Verlag ihres neuen Romans bat, das Treffen mit ihr zu arrangieren, hieß es, manche Journalisten hätten regelrecht Angst vor ihr. Doch Angst brauche man nicht zu haben. „Es ist schwer, gegen Kategorisierungen anzugehen“, sagt Sibylle Berg. „Am besten spart man sich die Mühe. Wenn Journalisten schreiben: Frau Berg ist nett, die Bücher auch, wird das ja kein spannender Artikel. Also beschreiben sie mich als die Fachfrau des Bösen, Brutalen. Ist Literatur, die nicht brutal ist, interessant? Apropos – haben Sie jetzt Angst vor mir?“

Ihr neuer Roman heißt „Der Tag, als meine Frau einen Mann fand“. Er erzählt von einer vertrauten, um nicht zu sagen von einer steinalten Erfahrung: Die erste Leidenschaft der Liebe bleibt nicht lange frisch. Rasmus und Chloe sind in Sibylle Bergs Buch seit fast 20 Jahren ein Paar, von der Glut, die sie einst aneinanderschmiedete, ist nur noch Asche geblieben.

Für romantische Illusionen lässt der Roman keinen Raum. Auf der ersten Seite lernen wir Rasmus beim Onanieren kennen und sehen zu, wie er sein Sperma tölpelhaft auf der Computertastatur verschmiert. Chloe masturbiert lieber unter der Dusche und ist froh, dass die beiden immer seltener miteinander schlafen, denn mehr als einen „kleinen Schmerz“ empfindet sie nicht dabei. „Ich hatte früher“, sagt Chloe, „nichts gegen Sex. Falls es rhetorisch korrekt ist, würde ich sagen, dass ich theoretisch gerne ficke. Aber nicht mit Rasmus.”

Sibylle Berg: "Der Tag, an dem meine Frau einen Mann fand". 5 Audio-CDs. Gesprochen von Katja Riemann und August Zirner. Audio Media Verlag. 19,99 Euro

Doch trennen wollen oder können sich die beiden nicht. Zu tief stecken sie in ihren Gewohnheiten. Sie haben weder den Wunsch noch die Kraft, allein oder gemeinsam zu neuen Ufern aufzubrechen: „Schlafen, essen, ficken, kacken. Das ist es, bitte schön, worum es geht“, resümiert Rasmus.

„Kann es sein“, frage ich die malerisch ins Sofa geschmiegte Sibylle Berg, „dass Sie die Helden Ihres Romans nicht mögen?“

„Ist es für einen Roman nicht uninteressant, ob ich tiefe Gefühle für die von mir erdachten Menschen aufbringe? Die meisten Menschen, mich selbst eingeschlossen, rühren mich, weil sie an ihren zu großen Erwartungen ans Leben scheitern.“

Haben nicht alle Leute zu große Erwartungen ans Leben?

„Ich nicht.“ Sie schüttelt den Kopf. „Ich habe nur sehr kleine, niedliche Erwartungen.“

Sagt sie. Dabei könnte sie große Erwartungen haben. Sie ist gut im Geschäft, eine Erfolgsautorin: Auf ihrer Website verzeichnet sie elf Bücher und 18 Theaterstücke, die zusammen in 26 Sprachen übersetzt worden sind. Ihr Stück „Und jetzt: die Welt!“ wurde vom Fachblatt „Theater heute“ zum Stück des Jahres 2014 gewählt.

Sibylle Berg: "Vier Stücke" (Helges Leben. Ein schönes Theaterstück / Wünsch Dir was! Broadwaytaugliches Musical / Schau, da geht die Sonne unter. Ein Spaß ab 40 / Das wird schon. Nie mehr Lieben!) Reclam Verlag. 8,90 Euro

Es geht ihr also besser als ihrem Helden Rasmus, denn der hat seine Karriere als Regisseur an die Wand gefahren. Zum ehelichen Elend kommt nun noch ein finanzielles. Doch nicht nur das: Chloe verliebt sich in einem schmuddeligen Tropenort in einen Masseur namens Benny. Er folgt ihr nach Europa, sie quartiert ihn in der gemeinsamen Wohnung ein, überlässt Rasmus das Schlafzimmer und zieht zu Benny auf die Couch. Mit ihm hat sie nun überall Sex: „Natürlich auf dem Ehebett, ein Wort, in dem Pflichterfüllung mitschwingt, natürlich in der Küche, während des Essens, im Bad selbstredend.“

Sibylle Bergs Augen stehen erstaunlich schräg. Man sieht das noch genauer, wenn man ihr auf Sofalänge gegenübersitzt. In Kitsch-Romanen würden sie wohl außerdem noch „mandelförmig“ genannt. Das verleiht ihr einen irritierenden, irgendwie schnittigen Blick. Sie unterstützt diese Wirkung nach Kräften mit den Tricks der Kosmetik. Sie scheint diese Wirkung zu genießen.

„Die liebenswerteste Figur ist wohl Benny“, sagt sie. „Er wird erst von Chloe, dann von Rasmus ausgenutzt. Aber bei Dreierbeziehungen bleibt meist einer auf der Strecke. Wir verraten noch nicht, wer das in meinem Roman ist.“

Früher einmal, in den angeblich guten alten Zeiten, in denen es schon als politische Protestform galt, wenn Männer lange Haare trugen, gab es noch das Wort vom „Bürgerschreck“. Sibylle Berg gefällt sich in der Rolle eines literarischen Bürgerschrecks. Sie provoziert gern ein bisschen, sie redet oder schreibt gern ein bisschen zu schrill über Sex und benutzt ein bisschen zu häufig Worte, die feine ältere Damen für wenig salonfähig halten könnten.

Das wirkt gelegentlich ein wenig pennälerhaft, zugegeben. Aber hinter dieser Attitüde, hinter diesem Markenzeichen macht sich fast immer noch etwas anderes bemerkbar: eine scharfe Verzweiflung darüber, wie brutal das Leben mit unseren Träumen und Idealen umspringt. Wie bitter es ist, dabei zuzuschauen, wenn die eigenen Leidenschaften verwehen. Wie die Zeit uns in einen gnadenlosen Abnutzungskampf zwingt, den wir nicht gewinnen können.

Zynismus, so soll der italienische Schauspieler Alberto Sordi einmal gesagt haben, entstünde, wenn ein heißes Gefühl zu kalt geduscht wird. Manche der galligen Spitzen, die Sibylle Berg in ihre Romane packt, sind billige Effekthascherei. Sie neigt zur Selbstinszenierung, mal als böse Domina der deutschen Literatur, mal als scheues Reh oder als Kätzchen mit wildem Blick. Doch wenn man genau hinschaut, entdeckt man hinter ihren diversen Masken ein heißes Herz unter einer zu kalten Dusche.

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Michael Köhlmeier: “Zwei Herren am Strand”

Zwei Genies in Not

Der Tramp und der Premierminister: Michael Köhlmeier hat einen hinreißenden Roman über die ungewöhnliche Freundschaft zwischen Charlie Chaplin und Winston Churchill geschrieben. Die Handlung von “Zwei Herren am Strand” ist angesiedelt in der Halbwelt zwischen Fakten und Fiktionen.

Eine Begegnung mit Köhlmeier in Bregenz am Bodensee

Es ist, als würde er Scheinwerfer einschalten. Michael Köhlmeier gehört nicht zu den auffälligen Menschen. Er ist weder groß noch laut, noch fuchtelt er rum. Wenn er nicht redet, kann man ihn leicht übersehen. Aber sobald er erzählt, sobald er eine Geschichte beginnt, Figuren auftreten lässt, Handlungsfäden aufnimmt und fortstrickt: Dann ist es, als knipste jemand das Licht an, das Licht auf einer Bühne, die man nur mit inneren Augen sieht und auf der Köhlmeier ein kleines Welttheater dirigiert. Zu einem auffälligen Menschen macht ihn das allerdings noch immer nicht. Im Gegenteil, er verschwindet dann ganz und gar hinter seiner Geschichte.

Michael Köhlmeier: "Zwei Herren am Strand". dtv. 9,90 Euro

In seinem neuen Roman „Zwei Herren am Strand“ (Hanser) erzählt Köhlmeier von zwei Genies. Von Winston Churchill und Charlie Chaplin und ihrer erstaunlichen Freundschaft. Beide bekämpften denselben Feind: Hitler. Churchill als Premierminister Großbritanniens, Chaplin als Regisseur seines Meisterwerks „Der große Diktator“. Beide rangen aber auch mit dem gleichen inneren Feind, denn beide litten an Depressionen.

Für Churchill war es der „schwarze Hund“, der ihn zeitlebens bedrohte, ihn oft an den Rand des Selbstmords trieb und den er mit Alkohol betäubte. Chaplin war vor allem gefährdet, wenn er Filme fertiggestellt hatte und von der Vorstellung geplagt wurde, sie erfüllten seine Ansprüche nicht und seien misslungen.

Der Roman hält sich nicht in allen Punkten an die biografischen Tatsachen. Köhlmeiers Lust am Fabulieren ist viel zu groß, als dass er nur von dem erzählte, was die Historiker über seine zwei Helden in Erfahrung bringen konnten. Bei ihm lernen sich die beiden bei einer Schauspielerin in Santa Monica kennen, machen einen Strandspaziergang und schließen einen geheimen Pakt: Wann immer, wo immer einer von ihnen akuten Beistand braucht gegen die Depression, soll der andere alles stehen und liegen lassen und ihm zu Hilfe eilen.

Einfach haben sie es mit ihrer Freundschaft nicht. Beide sind sie, auch wenn sie einen Diktator bekämpfen, selbst Diktatoren: Der eine am Filmset, der andere in seiner Partei. Klug zeigt Köhlmeier, wie schwer es ihnen fällt, ein anderes, ähnlich großes Genie in ihrer Nähe zu akzeptieren.

Charles Chaplin und Winston Churchill

Wunderbar ist die Szene, in der Churchill mit seiner Saufleidenschaft im Begriff ist, Chaplin endgültig zu verprellen. Bis sich Churchills kleine Tochter Sarah zu ihnen setzt und Chaplin in den dem dröhnenden Machtmenschen Churchill plötzlich den zärtlich besorgten Vater entdeckt. Was ihn mit dessen Charakterschwächen sofort versöhnt.

Köhlmeier und ich haben uns ebenfalls zu einem Strandspaziergang verabredet, in Bregenz am Bodensee. Leider regnet es, und wir beschränken uns notgedrungen darauf, unter Schirmen die Uferpromenade entlangzubummeln. „Es gibt Figuren in der Literatur“, sagt Köhlmeier, „die jeder kennt, wie Romeo und Julia, wie Huckleberry Finn oder Don Quijote, Figuren, die selbst den Leuten bekannt sind, die nie die Geschichten gelesen haben, für die sie erfunden wurden.“

Köhlmeier nennt sie: mythische Figuren. Sie haben ihre Bücher verlassen, den Buchdeckel hinter sich zugeschlagen und einen Platz direkt im kollektiven Bewusstsein der Menschen gefunden. Autoren mit solcher Erfindungskraft bewundert er maßlos. „Ich würde“, sagt er „einen Finger dafür geben, eine solche Figur zu erfinden.“ Dann lacht er: „Ach was, eine ganze Hand würde ich geben.“

Chaplin hat das geschafft. „Sein kleiner Tramp ist längst ein Mythos“, meint Köhlmeier. „Jeder erkennt ihn, jeder liebt ihn. Seine Eleganz, seinen Witz, seinen Kampf als David gegen all die Goliaths dieser Welt.“ Bei Churchill ist es ähnlich. Als Politiker mit Charisma hat er sich selbst zu einer Art Kunstfigur stilisiert: Das Foto vom unbeugsamen Mann mit Anzug und Zigarre, der zwei Finger zum Victory-Zeichen gespreizt in die Kamera hält, wurde zur Ikone des Widerstands gegen Hitler.

Köhlmeiers Roman erzählt von dem Preis, den beide für ihre enorme Begabung zahlten, von der seelischen Finsternis, in die sie gelegentlich stürzten. Und von dem Beistandspakt zwischen diesen zwei so ungleichen Männern. Churchill, der dem höchsten Adel Englands, Chaplin, der dem hoffnungslosesten Elend Londons entstammte.

Es ist eine ungeheuer suggestive Geschichte, die auf einem schmalen Grat zwischen Fakten und Fiktionen entlangbalanciert. Sie strickt fort an den Mythen von Chaplin und Churchill. Vielleicht ist nicht alles genau so gewesen, wie Köhlmeier es erzählt. Aber er erzählt es so gut und glaubwürdig, dass man in seiner Geschichte mehr Wahrheit findet als in den nackten Tatsachen.

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Buch&Bar 69: David Grossmann “Kommt ein Pferd in die Bar”

Das verletzte Lachen über die Gesunden

 Heute über:  Lustvoll beleidigendes Lesen und Trinken

David Grossman: "Kommt ein Pferd in die Bar". Übersetzung: Anne Birkenhauer. Hanser Verlag, 19,90 Euro

Bei Buch & Bar war bislang noch nicht von Jan Böhmermann die Rede. Diese peinliche Lücke der deutschen Presselandschaft kann ich jetzt schließen, nachdem ich Ayran probiert habe. Das ist der Joghurt-Drink, den Erdogan zum türkischen „Nationalgetränk“ erhoben hat. Er schmeckt wie leicht gesalzene Dickmilch. Ich mochte ihn – und das ist gut für mich. Denn die Eisteefirma Caykur fand Ayran zum Einschlafen und wurde von Erdogans Handelsministerium prompt wegen Beleidigung bestraft. Merke: Redest du von Erdogan, / dann ruf schon mal den Anwalt an.

Zugegeben, manche Witze der Böhmermänner dieser Welt zeugen eher von Zorn als von Geschmack. In dem Roman „Kommt ein Pferd in die Bar“ lässt David Grossman (Hanser Verlag, 19,90 Euro) so einen wutschnaubenden Comedian auftreten und einen Abend lang von seinem Leben erzählen. Seine Pointen sind bissig, blutig, böse oder, wie die Kanzlerin wohl sagen würde, bewusst verletzend. Aber diese Wut hat ihre Gründe. Das Leben ist nämlich oft auch ziemlich bissig, blutig, böse. Und die Leute, denen das nie was ausmacht, weil sie mit allem prächtig zurechtkommen, ja sogar Präsidenten, Machthaber, Diktatoren werden findet Grossmans Comedian schlichtweg zum Kotzen. Mir leuchtet das ein, und ich glaube, aus Grossmans Buch etwas über des Seelenleben von Satirikern des Böhmermann-Kalibers gelernt zu haben, was anderweitig nicht zu lesen war. Ein fabelhafter Roman ist es außerdem.

 

2014 startete BUCH & BAR. Die Kolumne ist schon deshalb absolut unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.

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