Wenn der Freund zum Feind wird oder: „Am Himmel graste die wolkige Einfalt.“
1951 mit gerade einmal 25 Jahren schrieb Siegfried Lenz (1926 – 2014) bereits an seinem zweiten Roman. Er hatte dafür ein denkbar heikles Thema gewählt. Aber auch nach einer Überarbeitung des Manuskripts konnte er sich mit seinem Verlag nicht einigen. 65 Jahre lang blieb das Buch unpubliziert im Archiv des Autors. In diesem Frühjahr ist der Kriegsroman „Der Überläufer“ endlich erschienen.
Proska ist Soldat und nicht zu beneiden. Im letzten Sommer des Zweiten Weltkriegs wird der Zug, der ihn aus dem Heimaturlaub zurück an die Front bringen soll, von polnischen Partisanen gesprengt. Proska, der einzige Überlebende, kann sich aus den Trümmern befreien, steht in einem riesigen Sumpfgebiet und wird von einem kleinen Wehrmachtskommando aufgegriffen, dessen Aufgabe es war, die gesprengte Bahnlinie zu bewachen.
Das verlorene Trüppchen haust in einer Art hölzerner Wehranlage, die sie mit Grassoden befestigt hat und großsprecherisch ihre „Festung“ nennt. Aber die Deutschen sind längst nicht mehr Herren der Kriegslage, aus den Jägern sind Gejagte geworden. In den umgebenden Wäldern lauern Partisanen, sie kappen die Telefonleitung, verhindern alle Nachschublieferungen und rücken langsam, aber unbeirrbar näher.
Als Siegfried Lenz an dem Roman „Der Überläufer“ um den Landser Proska schrieb, war er ein junger Mann von gerade mal 25 Jahren. Für seinen ersten Roman, „Es waren Habichte in der Luft“ (1951), hatten ihn die Zeitungen wenige Monate zuvor zwar nicht mit Lob überschüttet, aber doch mit Wohlwollen bedacht. Befeuert durch diesen Anfangserfolg, machte sich Lenz gleich nach einem kurzen Urlaub an sein nächstes Romanprojekt – und war nach gut einem halben Jahr mit der ersten Fassung fertig.
Es sollte aber 65 Jahre dauern, bis das Werk tatsächlich erscheint; Siegfried Lenz hat das nicht mehr erlebt. Er starb im Oktober 2014.
Selbstbewusst wagte sich Lenz damals an ein Thema, das so kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs überaus brisant war: Sein Held Proska durchleidet nicht nur den allmählich fortschreitenden Zerfall der Wehrmacht während des letzten Kriegsjahrs, der mit nationalistischen Durchhalteparolen kompensiert werden soll, sondern zieht radikale Konsequenzen:
Nachdem er von Partisanen gefangen genommen wird, sagt er sich zusammen mit einem Leidensgenossen von den deutschen Truppen los und schließt sich der vorrückenden Roten Armee an. Zunächst soll er bei Propagandaeinsätzen die Moral seiner ehemaligen Kameraden untergraben, aber bald schon kämpft er gegen sie mit der Waffe in der Hand. Nach Kriegsende wird er dann vom sowjetischen Besatzungsregime in einem kleinen Ort als eine Art Bürgermeister eingesetzt.
Angesichts des deutschen Überfalls auf Polen 1939 und der unfassbaren Verbrechen des Nazi-Regimes gerade in diesem Land ist Proskas Entscheidung verständlich. Man nimmt sie heute gewissermaßen mit historischer Abgeklärtheit zur Kenntnis. Doch 1951, als Lenz an dem Roman arbeitete, waren auch die Übergriffe und Verbrechen der Roten Armee während ihres Vormarschs auf Berlin im Bewusstsein der Leser sehr präsent, und die Sowjetunion, die zwei Jahre zuvor ihre erste Atombombe gezündet hatte, galt als der aktuelle Erzfeind des Westens.
Kein Wunder also, dass der Verlag an dem Manuskript dieses Nachwuchsautors namens Lenz einerseits hoch interessiert war, es aber andererseits mit Bedacht und Vorsicht behandelte. Der Verlagsleiter beauftragte einen unabhängigen Lektor, die erste Fassung mit dem Autor durchzuarbeiten, und schickte vorab erste Kapitel des Romans – die offenbar nichts von Proskas Frontwechsel erkennen ließen – an ausgewählte Zeitungsredaktionen.
Die Literaturkritiker reagierten positiv, aber die Überarbeitung des Manuskripts fiel anders aus, als Verlag und Lektor erwartet hatten. Nach rund zehn Wochen gab Lenz eine erweiterte Fassung ab, deren zweiter Teil, in dem Proska als Überläufer auf sowjetischer Seite kämpft, recht sprunghaft geschrieben ist und vieles im Dunkeln lässt.
Lenz neigte als Schriftsteller zeitlebens dazu, die Handlung seiner Geschichten auf dramatische Höhepunkte hin zu inszenieren und für sich selbst sprechen zu lassen, sie also als Erzähler nicht gleichsam aus dem Off zu kommentieren. So auch hier. Das moralische Dilemma Proskas, gegen seine ehemaligen Kameraden zu kämpfen, spitzt er in einer Szene radikal zu: Während der Besetzung seines Heimatdorfs wird Proska in ein Gefecht mit seinem Schwager verwickelt und erschießt ihn. Doch auf bewertende Sätze, wie der Leser das – oder auch Proskas spätere Arbeit für die Besatzungstruppen in der DDR – einzuordnen habe, verzichtet er fast ganz.
Literarisch war das sicherlich kein Fehler, es barg aber das Risiko politischer Missverständnisse. Der Lektor schreibt Lenz einen aufgebrachten Brief und warnt ihn: Er könne sich, sollte das Buch in der nun vorliegenden Form gedruckt werden, „maßlos schaden“. Ein Verlagsgutachten beklagt – in seltsamer Logik – den “überheblichen Individualismus“ der Figuren, „der gerade in einer Zeit, in der man den Nationalismus bekämpft, gefährlich ist“.
Also drängten Lektor und Verlag Lenz zu weiteren Überarbeitungen. Doch zu denen war der Jungautor nicht bereit, sie lägen, schreibt er in seinem sehr vornehmen, klugen Antwortbrief, jenseits seiner Möglichkeiten: „Der Sprung über die Hürde ist mir nicht geglückt.“
Die Versuchung ist groß, den Roman des 25-jährigen Siegfried Lenz gegen jeden Einwand in Schutz zu nehmen, weil wir heute wissen, welche großartigen Bücher er später schrieb. Doch manche erzählerischen oder sprachlichen Mängel des Buches sind unübersehbar – zum Beispiel, wenn der junge Lenz eine beschauliche Abendstimmung beschreiben möchte: „Am Himmel graste die wolkige Einfalt.“
Günter Berg war früher Verlagsleiter bei Hoffmann und Campe und ist heute Vorstand der Siegfried Lenz Stiftung. Er hat den Roman aus dem Archiv befreit. Ein Meisterwerk kann man es nicht nennen. Ein über weite Strecken spannendes und literatur- und zeitgeschichtlich lehrreiches Buch ist es aber allemal.