Der Pate von Rio
Nach der EM ist vor Olympia: In den nächsten Wochen werden eine Menge Sport-Touristen nach Rio des Janeiro aufbrechen und den Glanz dieser Stadt genießen. Für jeden, der mehr über sie erfahren will, als die Reiseführer verraten, ist Misha Glennys “Der König der Favelas” das richtige Buch: Der britische Journalist schildert am Beispiel des Lebens eines Drogenbosses namens Nem die Schattenseiten Rios jenseits des Glamours und gibt einen Einblick in die Skandale der brasilianischen Politik der letzten Jahre. Ein überaus spannendes Buch ist es außerdem, denn Nems Biographie macht soziale Verhältnisse erkennbar, die weit jenseits europäischer Vorstellungen liegen. Im Januar hatte ich Gelegenheit, Misha Glenny in Berlin zu treffen und mit ihm über Nem und sein Buch zu sprechen.
Für Gangster ist eine Verhaftung üblicherweise ein Missgeschick. Für António Bonfim Lopes, genannt Nem, war seine Verhaftung so etwas wie ein Kunstwerk. Der Kokain-Capo aus Rio de Janeiro konnte sich nicht stellen – weil man ihn für einen Verräter gehalten und umgebracht hätte. Er konnte nicht fliehen – weil man ihn unweigerlich gefunden und umgebracht hätte. Er konnte sich nicht von einer der zahlreichen konkurrierenden brasilianischen Polizeitruppen verhaftet lassen – weil ihn jede davon mit Freuden umgebracht hätte.
Nems Uhr lief ab, er wusste das. Einmal hatte er bereits vergeblich seinen Tod vorgetäuscht, um die Fahnder von sich abzulenken. Wochenlang arbeitete er mit Beratern und Rechtsanwälten an einer Version seiner Verhaftung, bei der er eine Chance hätte, mit dem Leben davonzukommen. Gelingen konnte es nur, wenn im Augenblick seiner Festnahme Angehörige unterschiedlicher Polizeitruppen anwesend wären, die einander so gründlich misstrauten, dass keiner es wagen würde, Nem zu töten, weil sie alle anderen dabei zu Zeugen werden ließen.
Misha Glenny, britischer Journalist und Spezialist für das organisierte Verbrechen, hat die Karriere des Drogenbosses Nem und die Affäre um seine Verhaftung akribisch recherchiert. Sein Buch „Der König der Favelas“ zeigt die Schattenwelt der Glitzerstadt Rio de Janeiro, die im Sommer die Olympischen Spiele ausrichten wird, und liest sich zugleich streckenweise wie ein Krimi.
Nem ist 23 Jahre alt und ein unbescholtener Zeitungshändler, als seine Tochter von einer seltenen Krankheit befallen wird. Um die teuren Medikamente bezahlen zu können, macht er Schulden beim Oberhaupt der Drogengang der Favela Rocinha, in der er lebt. Im Gegenzug muss er für dessen Organisation arbeiten. Er steigt rasch auf in der Hierarchie, weil er intelligent ist, einen kühlen Kopf hat und organisieren kann. Nachdem sein Chef von der Polizei erschossen wird, obwohl er unbewaffnet war, übernimmt Nem dessen Rolle als „Don“ – als Pate seiner Favela und damit als Herr über Leben und Tod.
Und diese Rolle ist, so wie Nem sie verstand, überaus verantwortungsvoll: Ein „guter“ Don ist gleichsam der Bürgermeister, Polizeichef und oberste Richter seiner Favela in einer Person. Weil Nem weiß, dass seine Geschäfte in friedlichen sozialen Verhältnissen besser laufen, sorgt er für Ordnung.
„Nachdem Nem die Macht übernommen hatte“, erzählt Misha Glenny, „senkte er die Kriminalitätsrate. Er verkaufte nur Marihuana und Kokain, das tödliche Crack verbannte er. Die Zahl der Morde ging zurück. An Feiertagen bezahlte er Feste für die Bewohner. Noch heute erinnern sie sich an seine Herrschaft als ein goldenes Zeitalter.“
Rocinha wurde zur Vorzeige-Favela. Obwohl die Gesetze dort trotz allem nur sehr eingeschränkte Gültigkeit hatten, galt sie als so sicher, dass sogar Staatspräsident Lula da Silva sie besuchte. Und was in Brasilien vielleicht noch mehr zählt: Fast alle Spieler der Fußball-Nationalmannschaft und viele der Pop-Stars des Landes feierten dort Partys. „Rocinha galt als cool. Es war salonfähig geworden“, sagt Glenny. „Vor allem bei den Kindern reicher und superreicher Familien. Sie haben dort Unsummen für Kokain ausgegeben. Ein Irrsinnsgeld.“
Im Gegensatz zum Don und seiner Gang wird die Polizei von den Bewohnern einer Favela nicht als Ordnungs-, sondern als Besatzungsmacht wahrgenommen. Denn das soziale Gefüge ist ihr gleichgültig, sie ist außerhalb stationiert, betritt eine Favela fast nur in militärisch bewaffneten Kommandounternehmen, führt den jeweiligen Auftrag aus und verschwindet wieder.
„Die Polizei“, erklärt Glenny, „vertritt im Drogenkrieg vor allem ihr eigenes Interesse. Und das ist: Schmiergeld.“ In 20 bis 30 Prozent der Favelas von Rio haben aktive oder ehemalige Angehörige der Polizei das Drogengeschäft und die Rolle der Gangs selbst übernommen. Sie erpressen Schutzgelder fast so, als wären es zusätzliche Steuern. Sogar an den Strom- und Gaslieferungen für die Bewohner verdienen sie mit. „Selbst an der Post“, erzählt Glenny. „Wer beispielsweise eine Postkarte bekommt, muss zehn Centavos extra zahlen, damit sie ihm ausgehändigt wird.“
Vor Fußball-WM und Olympischen Spielen wurden einige der Favelas in Rio „befriedet“: Die Polizei bemühte sich, die Gangs zu entwaffnen, eröffnete feste Kommandoposten und setzte nunmehr angeblich die rechtsstaatliche Ordnung durch.
Damit musste auch die Herrschaft Nems in Rocinha enden. Er sah die „Befriedung“ kommen, seine Zeit wurde knapp. Tatsächlich schaffte er es, seine Verhaftung zu überleben. Nach endlosen Verhandlungen gelang es ihm, in Anwesenheit von gleich drei Rechtsanwälten durch Militärpolizei und Zivilpolizei gleichzeitig gestellt zu werden. Die Ordnungshüter waren untereinander derart zerstritten, dass sie bei der Festnahme vorübergehend ihre Waffen gegeneinander gerichtet haben sollen.
Im Gefängnis versucht Nem nun nachzuholen, was ihm ein Leben lang fehlte: eine Ausbildung. Er studiert, wie könnte es anders sein, Jura.