Der Sturz ins andere Leben
Über achtzig Jahre nach seinem Tod wird der „Dschungelbuch“-Autor und Nobelpreisträger Rudyard Kipling in Deutschland mit hierzulande wenig bekannten Büchern neu entdeckt: mit einem Abenteuerroman und wilden Reportagen
Harvey ist erst 15, aber schon ein mustergültiger Schnösel. Sein Vater, ein amerikanischer Eisenbahn-Baron des 19. Jahrhunderts, scheffelt Geld säckeweise. In New York hat sich Harvey nach Europa eingeschifft, um sich dort den letzten gesellschaftlichen Schliff verpassen zu lassen – und zum „perfekten Ekel“ heranzuwachsen, wie ein genervter Mitreisender voraussieht.
Doch in einer Nebelnacht vor Neufundland zieht Harvey zu tief an einer Zigarre, gleitet im Nikotinschwindel über die Reling und landet im eiskalten Nordatlantik. Ein Sturz in den Tod – wenn er nicht schon Augenblicke später von einem Kabeljau-Schoner entdeckt und gerettet würde. Doch nun muss der verwöhnte Harvey für Monate als Schiffsjunge Dienst tun unter rauen Seeleuten, die es sich nicht leisten können, ihn während der Fischfang-Saison nach New York zurückzubringen.
1897 erschien der Roman “Über Bord“ zum ersten Mal. Sein Autor Rudyard Kipling (1865-1936) war zuvor schon mit dem „Dschungelbuch“ weltberühmt geworden – und erhielt 1907 mit 42 Jahren den Literaturnobelpreis als jüngster Schriftsteller aller Zeiten. Jetzt ist “Über Bord“, Kiplings zweiter großer Erfolg, der sich in Deutschland aber nie richtig durchsetzen konnte, in exzellenter Übersetzung von Gisbert Haefs neu vorgelegt worden (Mareverlag, 18 Euro).
“Über Bord“ ist vieles zugleich. Ein Erziehungsroman, der zeigt, wie Harvey als Schiffsjunge zu einem geläuterten, respektvollen jungen Mann heranwächst. Ein Abenteuerroman, denn den Kurs des Kabeljau-Schoners kreuzen Stürme, übellaunige Wale und riesige Dampfer. Und schließlich ist das Buch zugleich eine historische Sozialreportage, die das damalige brutale Arbeitsleben der Fischer anschaulich vorführt.
Heute würde man “Über Bord“ wohl ein All-age-Buch nennen. Es zeugt von erzählerischer Perfektion und präziser Kenntnis der Fakten – schließlich hatte Kipling sein Schreibhandwerk als Journalist gelernt. Zugleich aber kann er die pädagogischen Tendenzen seines Romans nie verleugnen: Es braucht nur etwas redliche Arbeit unter redlichen Leuten, um Harvey den Kopf zurechtzurücken.
Wie genau Kiplings Blick für die Realitäten des einfachen Lebens seiner Epoche war, zeigt auch der aufwendig gestaltete Band „Von Ozean zu Ozean“ (Mareverlag, 48 Euro), der Reiseberichte aus Indien, Asien und Amerika enthält. Er erzählt von Bordellen und Opiumhöhlen in Kalkutta oder vom Alkoholismus der Arbeiter in den USA. Gegen Ende seiner Amerikareise begegnete Kipling sogar seinem großen Schriftsteller-Vorbild Mark Twain (1835-1910), der ihm für die literarische Arbeit den unersetzlichen Rat gab: „Sammeln Sie Ihre Fakten, um sie dann nach Lust und Laune zu verdrehen.“