Wie das Kind eines Dämons
Nach seinem Welterfolg „Der Circle“ legt Dave Eggers im vergangenen Jahr gleich den nächsten politischen Roman vor. Er trägt den alttestamentarischen Titel “Eure Väter, wo sind sie? Und die Propheten, leben sie ewig?”. Es geht um einen Kidnapper, der mit Gewalt gegen Gewalt kämpft. Der Dialog-Roman ist jetzt als Taschenbuch erschienen – und lohnt die Lektüre. Eine Leseempfehlung.
“Wieso? Weshalb? Warum? Wer nicht fragt, bleibt dumm.“ Die Welt ist ein Rätsel, keineswegs nur für Kinder. Aber die „Sesamstraße“, jenes große Bildungserlebnis unserer frühen Jahre, weiß, wie das Rätsel zu lösen ist: Irgendwo da draußen sind Antworten. Wir müssen halt fragen, fragen, fragen. Dann werden wir sie bekommen. Dann werden wir Bescheid wissen.
Thomas glaubt fest daran. Er ist ein ratloser, nicht mehr ganz junger Mann, der an Amerikas Westküste aufwuchs und inständig um eine Richtung für sein Leben ringt. Deshalb schreibt er Briefe mit Fragen an Prominente oder Politiker. Doch sie antworten nicht. Also entschließt er sich, sie zu entführen und an entlegenem Ort anzuketten, um sich endlich in Ruhe mit ihnen zu unterhalten. Um Antworten zu bekommen.
Dave Eggers ist in den letzten Jahren zum heißesten und zugleich coolsten unter Amerikas Schriftstellerstars aufgestiegen. Jahr für Jahr legt er Romane vor, die auf die politischen Kernfragen der Gegenwart zielen: 2013 erzählte er in dem jetzt mit Tom Hanks verfilmten „Ein Hologramm für den König“ von der weltweiten Wirtschaftskrise, die dem Mittelstand den Boden unter den Füßen wegzieht, und 2014 in „Der Circle“ von den unabsehbaren Gefahren der allgegenwärtigen Überwachung aller Lebensäußerungen durch IT-Konzerne.
Den Titel seines letztjährigen Romans hat Eggers dem Alten Testament entlehnt: „Eure Väter, wo sind sie? Und die Propheten, leben sie ewig?“ Das Buch handelt von einer geradezu alttestamentarischen Wahrheitssuche: Vordergründig geht es um einen Fall mühsam vertuschter Polizeigewalt, wie sie spätestens seit den Toten von Ferguson die amerikanische Gesellschaft spaltet. Im Hintergrund aber um den Verlust zukunftsweisender politischer Visionen in der westlichen Welt und um die letzten Fragen des Daseins. Um das große Wieso, Weshalb, Wozu des Lebens.
Der Roman besteht nur aus Dialogen: Kidnapper Thomas spricht, diskutiert, streitet 220 Seiten lang mit seinen entführten Opfern, darunter ein Astronaut, ein ehemaliger Kongressabgeordneter, ja sogar Thomas’ eigene Mutter. Eggers kann sich das leisten, denn seine Dialoge sind brillant geschrieben, spannend, witzig, temporeich. Wie in einem Gerichtsverhör klären sie nach und nach nicht nur den Polizeieinsatz, bei dem ein Freund von Thomas erschossen wurde, sondern enthüllen zugleich die charakterlichen Stärken und Schwächen der Beteiligten.
Eggers hatte das alles nicht so geplant. Aber bei der Arbeit am Roman wurden die Dialoge immer mächtiger, bis sie schließlich alles Übrige aus der Geschichte herausdrängten. „Mehr als bei jedem anderen Buch, das ich zuvor geschrieben habe, hat dieses Buch sein Eigenleben entwickelt“, sagt Eggers. „Es fühlt sich seltsam und wild an, nicht wie etwas, das ich jederzeit unter Kontrolle hatte. Es ist wie das Kind eines Dämons.“
Wer den Roman mit kühlem Kopf liest, merkt das. Manches an ihm wirkt ungebändigt, fast ungeordnet. Mittendrin findet sich ein Plädoyer gegen die Hysterie, mit der heute selbst gemäßigte, angeblich unschädliche Formen von Pädophilie verfolgt werden. Sebastian Edathy würde es wohl mit Vergnügen lesen. Auch kommt Thomas der Wahrheit über den Polizeieinsatz, der seinem Freund das Leben kostete, nur auf Grund eines haarsträubenden Zufalls näher, wie ihn sich kein Thriller-Autor leisten könnte, der Wert auf Glaubwürdigkeit seiner Geschichte legt.
Doch das ändert wenig an der Faszinationskraft dieses Buches. Eggers hat ein erstaunliches Talent, die politischen Debatten der Gegenwart in mitreißende Geschichten zu verwandeln. Er liefert dabei kaum je neue, bislang unbekannte Argumente oder Einsichten. Aber er macht die oft abstrakt gewordenen Streitthemen wieder anschaulich und lebendig.
Kein Wunder, dass Eggers, 46, heute zu den Lieblingserzählern gerade des liberalen Amerika gehört. Er war gerade 22, als seine Eltern kurz hintereinander an Krebs starben und er seinen achtjährigen Bruder allein aufziehen musste – worüber er seinen ersten Roman schrieb: “Ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität”. Er gründete einen unabhängigen Verlag, mehrere Literaturzeitschriften und die Non-Profit-Organisation “826 Valencia“, die Kindern Creative-Writing-Kurse anbietet.
Je unlösbarer und überwältigender die Probleme einer Epoche erscheinen, desto größer wird die Neigung, Antworten von den Dichtern, von den vermeintlich weisen und erleuchteten Menschen der Zeit zu erhoffen. Da sich Eggers zudem stark für soziale Hilfsprojekte engagiert, ist offenbar die Versuchung groß, ihn zu einer Art Mutter Teresa der Literatur zu stilisieren.
Doch Dave Eggers scheint, und das macht ihn besonders sympathisch, an dieser Rolle des Gurus wenig Freude zu haben. Denn Thomas, der verwirrte Held seines neuen Romans, ist zugleich die Karikatur eines typischen Gefolgsmanns, der flehentlich auf der Suche ist nach einem Vordenker, dem er ergeben alle seine Fragen stellen kann, ohne ihn je in Frage zu stellen.