Er ist wieder da. Ein Hausbesuch bei Thilo Sarrazin
In seinem neuen Buch „Wunschdenken“ rechnet er mit den größten Fehlern der Politik ab. Übersieht er dabei seine eigenen? Eine Nahaufnahme von Uwe Wittstock
Man könnte es sich einfach machen mit Thilo Sarrazin. Und man müsste sich nicht einmal dafür schämen, denn Thilo Sarrazin macht es sich selbst einfach mit den Menschen. Aber richtig wäre es trotzdem nicht.
Das fängt schon bei der Begrüßung an. In den knapp sechs Jahren, die seit Sarrazins Streitschrift „Deutschland schafft sich ab“ vergangen sind, ist er zu einer echten Berühmtheit geworden, die auf offener Straße erkannt wird. Allein an Buchhonoraren dürfte ihm sein Verlag 3,5 bis vier Millionen Euro überwiesen haben. Es gibt Autoren, denen solche Erfolge zu Kopf steigen.
Doch als Sarrazin uns die Tür im Berliner Westend öffnet, ist er unzeremoniell, offen, zugewandt. Er führt den Fotografen und mich durch sein Haus, als wären wir Nachbarn, die nur mal auf einen Sprung vorbeigekommen sind. Zeigt uns Arbeitszimmer, Lesesessel, Bücherwände, viele Bücherwände. Bringt uns in den akkurat gepflegten Garten, den Rasen hat er selbst vor ein paar Tagen vertikutiert, „das Moos“, brummt er, „musste raus“.
Sogar in den Keller führt er uns, wo die Bronzebüsten stehen, die seine Mutter, eine Bildhauerin, von seiner Frau, seinen beiden Söhnen und ihm geschaffen hat, beeindruckende Arbeiten. Sein Vater schrieb Gedichte, Sarrazin stammt aus einer musischen Familie. Schließlich amüsiert er sich über sich selbst, als er uns seine Armbanduhr präsentiert: eine Rolex, die ihm seine Frau zum 70. Geburtstag geschenkt hat, die aber, so bat er es sich von ihr aus, möglichst genauso aussehen müsse wie die vertraute 100-Euro-Quarzuhr, die er vorher trug. Es ist lustig, wie er das erzählt, wir lachen.
Nein, Thilo Sarrazin ist kein Ungeheuer.
Doch dann, als ich mit ihm zusammensitze, um über sein neues Buch „Wunschdenken“ zu sprechen, kommt mir so vieles an seiner Gedankenwelt wieder so ganz und gar ungeheuerlich vor.
Sarrazin, der begabte Provokateur und Polemiker, kann an der heiß gelaufenen Flüchtlingsdebatte naturgemäß nicht vorübergehen. Auf schwierige Fragen gibt er einfache Antworten: Europa sei den Krisenstaaten und Entwicklungsländern anderer Kontinente nichts schuldig. Mauern zu bauen, Zäune zu ziehen, Europa in eine Festung zu verwandeln sei für alle das Beste. Wer nicht wolle, dass Migranten im Mittelmeer ertrinken, müsse konsequent dafür sorgen, dass sie gar nicht erst Richtung Europa aufbrechen, weil sie wissen, dass sie dort niemals Aufnahme finden werden.
Er sagt das und schreibt das in aller Klarheit. Und ohne jedes Bedauern.
Ob es denn, setze ich ihm zu, nicht grauenvoll sei, dass Europa künftig vielleicht vor derartige Entscheidungen gestellt sein könnte? Gefühle, entgegnet er, tun nichts zur Sache.
Aber wäre es nicht humaner und auch klüger, hake ich nach, wenn er in seinem Buch wenigstens einen Funken Mitgefühl mit Menschen in Not erkennbar werden ließe? Das Foto des ertrunkenen Jungen an der türkischen Küste habe ihn, den Vater zweier Söhne, doch sicher erschüttert? Seine emotionale Entscheidung sei, erwidert Sarrazin, das Beste für Deutschland zu wollen, und hinter dieses Ziel müsse er alle anderen Fragen zurückstellen.
Kein Mitleid, kein Erbarmen.
Man könnte es sich, wie gesagt, einfach machen mit Thilo Sarrazin. Vor allem nach solchen Sätzen. Man könnte schreiben, wie sehr es einen fröstelt, während man mit dem vielleicht kaltherzigsten Mann Europas in einem Zimmer sitzt.
Aber richtig wäre das nicht, denn es wäre nicht die ganze Wahrheit. Sarrazin sagt das alles nicht aus Übermut. Er denkt Fragen mit schauriger Konsequenz und Engstirnigkeit zu Ende, die andere lange Zeit nicht einmal zu stellen wagten.
Als er vor sechs Jahren „Deutschland schafft sich ab“ veröffentlichte, schnitt er darin haargenau die Themen an – Zuwanderung, mangelnde Integration -, die in den vergangenen Monaten unsere Gesellschaft aufwühlten bis zur Hysterie und Rechtspopulisten jetzt zweistellige Wahlergebnisse eintrugen.
Der Schwindel erregende Erfolg Sarrazins hätte ein früher Alarmruf für die etablierten Politiker sein können, wie viel wutbürgerlicher Unmut da im Schatten brodelt, um den sie sich kümmern müssen. Doch statt Sarrazin als Minenhund zu nutzen, begegneten sie ihm mit Empörung, mit Ausgrenzung und dem Kanzlerinnenwort, sein Buch sei „nicht hilfreich“.
Dabei hätte es doch hilfreich sein können – als Warnsignal. Ein Beispiel: Schon vor Jahren wurde von den grauenvollen Zuständen in den Flüchtlingslagern rund um Syrien berichtet, internationale Hilfe kam aber nur ebenso zögerlich wie kärglich in Gang. Als das Elend dann unerträglich geworden war und die Notleidenden leibhaftig an Europas Türen klopften, wurde alles viel schwieriger, gefährlicher, teurer. Hätte die Politik die indirekte Warnung ernst genommen, die von Sarrazins Triumphzug bei anderthalb Millionen Lesern ausging, und rechtzeitig Geld für die Lager organisiert, wäre den Deutschen viel Streit und den Flüchtlingen viel Leid erspart geblieben.
Sarrazin war lange Zeit seines Lebens Beamter, Staatsdiener, er ist ein Mann der Ordnung, der strengen Regeln und der geraden Linien. Für das krumme Holz, aus dem viele Menschen geschnitzt sind, hat er wenig Sinn und in seinem Buch keinen Platz.
Bei den türkisch-arabischen „Kopftuchmädchen“ sieht er nur das Kopftuch, nicht die sexy geschminkten Augen oder hautenge Jeans, die signalisieren, wie sich auch ihre Kultur verändert und dass aus dem kreativen Chaos des Ost-West-Gemenges längst neue Hybrid- und Mischkulturen entstehen.
Sein Buch „Wunschdenken“ ist vernarrt in die ganz, ganz großen Gedanken und möchte gern ein ambitioniertes Stück politischer Philosophie sein. Der Arbeitstitel lautete lange Zeit „Vom guten Regieren“, verrät Sarrazin im Gespräch. Er beginnt sein Buch mit der Entwicklung des Menschen (fünf Seiten) und der Entwicklung der Zivilisation (acht Seiten), streift Intelligenzforschung, Staatstheorie, Demografie, Religionswissenschaften, Vererbungslehre, Umwelt- und Bildungspolitik, verkündet „Zehn Regeln für den guten Regenten“ oder „Wie ich die Weltlage sehe“ und hat offenbar gar kein Gespür für die intellektuelle Großmannssucht all dessen.
Andererseits muss man Sarrazin in manchen Details einfach Recht geben: Natürlich braucht unser Land seit Jahrzehnten ein modernes Einwanderungsgesetz, ein radikal neues, zeitgemäßes Schulsystem oder eine gründliche Steuerreform mitsamt einem Familiensplitting statt des Ehegattensplittings.
Die Unfähigkeit der politischen Klasse, solche unbestreitbaren Notwendigkeiten umzusetzen, ist tatsächlich ernüchternd. Als Ministerialbeamter dürfte er dieses Versagen oft genug aus nächster Nähe beobachtet haben. Vielleicht wären, denkt man, während man sein Buch liest, ein paar neue Regeln fürs Regieren ja doch ganz schön.
Aber schon auf der nächsten Seite durchzuckt es mich wieder, wenn ich lese, welche Gefühlskälte Sarrazins Gedanken lenkt. In gewisser Hinsicht erinnert er an Alexander Gauland, den Vizechef der AfD. Auch der ein hoch kultivierter, hoch belesener Konservativer mit dem moralischen Verantwortungsgefühl eines Kleiderbügels.
Aber wofür, frage ich mich in Sarrazins Gästesessel, wofür all dieser Bildungseifer und diese endlosen Bücherwände, wenn dabei nichts anderes herauskommt als rhetorisch glänzend verpackte Mitleidlosigkeit. Einer der deutschen Klassiker, auf die sich Sarrazin und Gauland so gern berufen, hieß Friedrich Schiller. Er glaubte fest an die “ästhetische Erziehung des Menschen“, also daran, dass Kunst und Bildung die Leute nicht nur zu klugen, sondern auch zu guten, zu mitfühlenden, Anteil nehmenden Zeitgenossen machen.
Offenbar können auch Klassiker sich irren.