“Ich starb 6840 Meter über dem Meeresspiegel…”
Der Schriftsteller Christoph Ransmayr im Gespräch über seinen Roman “Der fliegende Berg”, den Freund Reinhold Messner und das Abenteuer des Schreibens sowie die schwierige Rückkehr aus unbekannten und neu eroberten Territorien in die vertraute Welt und zu den Menschen. Heute feiert Christoph Ransmayr Geburtstag.
Im Mai und Juni 1970 nahm der Bergsteiger Reinhold Messner an einer Expedition zum Nanga Parbat teil, in deren Verlauf zum ersten Mal die so genannte Rupal-Wand durchstiegen werden sollte. Reinhold Messner brach allein vom letzten Höhenlager auf, sein Bruder Günther konnte ihm folgen. Gemeinsam standen sie am 27. Juni auf dem Gipfel. Nach einer Notbiwakierung entschlossen sie sich, nicht auf demselben Weg, sondern über die Diamir-Wand abzusteigen. Beim diesem Abstieg starb Günther Messner. Reinhold überlebte mit starken Erfrierungen. Über die Katastrophe am Nanga Parbat hat es viele Spekulationen gegeben. Bei Malik ist Messners Buch “Die rote Rakete am Nanga Parbat” erschienen. Josef Vilsmaier hat das Messner-Drama verfilmt. Der österreichische Schriftsteller Christoph Ransmayr schrieb seinen Roman “Der fliegende Berg” über das tödlich endende Abenteuer eines Bergsteiger-Brüderpaars im Transhimalaya. Ein Gespräch mit Ransmayr über den komplexen Zusammenhang zwischen Leben und Literatur.
Uwe Wittstock: Sie sind mit Reinhold Messner befreundet. In Ihrem Roman “Der fliegende Berg” erzählen Sie von zwei Brüdern, die im Transhimalaya einen unzugänglichen Gipfel besteigen. Beim Abstieg kommt einer der beiden Brüder um. Die Parallelen zum Drama um die Nanga-Parbat-Besteigung der Messner-Brüder 1970, das 2010 von Josef Vilsmaier verfilmt wurde, liegen auf der Hand. Was hat Sie gereizt an diesem Stoff, den ihr Freund Messner erlebte?
Christoph Ransmayr: Die Tragödie am Nanga Parbat war immer wieder Thema auf vielen unserer gemeinsamen Reisen, nach Tibet, Nepal, Indien und in andere Weltgegenden. Dadurch ist mir diese Geschichte so vertraut geworden, als wäre sie Teil meiner eigenen Familienchronik. Aus dieser Vertrautheit heraus ist dann auch das Bedürfnis entstanden, eine Brudergeschichte zu schreiben.
Wittstock: Sie wollten dem, was passiert ist, eine literarische Form geben?
Christoph Ransmayr: Meine erste Absicht war, eine klare, historische Darstellung der Ereignisse am Nanga Parbat zu schreiben. Mir ist aber schon bei der Vorbereitung der Schreibarbeit klar geworden, dass diese Geschichte nur einer schreiben kann, nur einer schreiben soll, nämlich Reinhold selbst. Ein Nebeneffekt meiner Vorbereitungen war aber die Entdeckung, dass unter den Menschen, die zum Rand der bekannten Welt und darüber hinausgehen, auffällig viele Brüderpaare waren – und sind. Schon im so genannten Zeitalter der Entdeckungen etwa die Brüder Corte-Real oder Nicolao und Maffeo Polo oder die Brüder Pinzón, die Columbus begleiteten und viele andere. Immer wieder brachen zwei Brüder gemeinsam auf und immer wieder geschah es, dass nur einer von ihnen zurückkam.
Wittstock: Hätte sich das Drama am Nanga Parbat anders entwickelt, wenn die beiden Bergsteiger auf dem Weg zum Gipfel keine Brüder gewesen wären?
Christoph Ransmayr: Das weiß ich nicht. Aber selbst die Geschichte der Brüder Messner ist noch mit einer weiteren Brudergeschichte verbunden: Der damalige Expeditionsleiter Karl Herrligkoffer war der Halbbruder des 1934 am Nanga Parbat umgekommenen Willy Merkl. Herrligkoffer hat mit den von ihm organisierten Expeditionen den Nanga Parbat wieder und wieder berannt, um endlich zu erreichen, zu “erobern”, wofür sein Halbbruder starb: den Gipfel. Es scheint ja, dass es bei Expeditionen ans Ende der Welt nicht ausreicht, bloß von einem Vertrauten, einem Freund begleitet zu werden, sondern dass der beste Gefährte der Bruder sein soll, ein Mensch, mit dem man nicht nur Gegenwart und die jüngste Vergangenheit teilt, sondern die ganze bisherige Lebensgeschichte bis tief in die Kindheit.
Wittstock: Anders als mit einem Freund verbindet einen mit dem Bruder aber auch eine lebenslange Rivalität, beginnend schon mit der Rivalität um die Liebe der Eltern.
Christoph Ransmayr: Diese Rivalität kann aber zu dramatisch verschiedenen Konsequenzen führen, einerseits natürlich bis zu einem Drama wie dem von Kain und Abel, andererseits aber auch über die Zähmung der Rivalität zu einer Gemeinsamkeit, die zwei Brüder etwas erreichen lässt, was für einen allein Utopie bleiben würde.
Wittstock: Das Brüderpaar Ihres Romans bricht allerdings nicht aus Südtirol auf, also aus einem Gebirge in das höchste Gebirge der Welt, dem Himalaya. Der Ausgangspunkt Ihrer Romanhelden ist eine abgelegene Insel vor Irland, also die Höhe des Meeresspiegels? Warum war diese extreme Höhendifferenz, von ganz unten – Meeresspiegel – bis ganz oben – Dach der Welt – für Sie wichtig im Roman?
Christoph Ransmayr: Ich wollte meine Helden die wahrhaft ganze Länge eines denkbaren Weges in die Höhe, ins Gebirge gehen lassen, also aus dem tiefsten Land bis in die Wolken, vom Meeresspiegel, von dem aus ja die Höhe noch des küstenfernsten Wüstengebirges aus gemessen wird, bis in die Höhen des Transhimalaya. Dabei ist aber der – erfundene – Berg, den meine beiden Protagonisten besteigen, für Tibet kein extrem hoher Berg, sondern kaum 7000 Meter hoch. Extreme Höhe kann ja durchaus subjektiv, also an den eigenen Kräften, der eigenen Erschöpfung gemessen, definiert werden. Wichtiger als die Gipfelhöhe war mir, dass der Weg dieser Brüder aus der virtuellen Realität ihrer Computer in die Wirklichkeit führen sollte, dorthin, wo Kälte, dünne Luft, die Erschöpfung und schließlich der Tod tatsächlich erlitten werden. Meine Figuren gehen ihren Weg aus der Virtualität in die Realität entlang einer vertikalen Linie, von ganz unten nach ganz oben.
Wittstock: Was einen Bergsteiger an der Eroberung eines Gipfels reizt, ist für Nicht-Bergsteiger oft nur schwer zu begreifen. Was reizt einen Schriftsteller an Menschen, die ihr Leben einsetzen, um auf eine lebensfeindliche, eisgepanzerte Felsspitze in 7000 Meter Höhe zu klettern?
Christoph Ransmayr: Solche Wege, ob sie nun in die extreme Höhe oder in die extreme Weite führen, sind immer auch Wege in die eigene Geschichte, ins Innere des Gehenden, Reisenden. Wer sich der Geschichten eines oder mehrerer Menschen annimmt, wer ihre Schicksale, Dramen, Tragödien oder Komödien erzählen will, möchte dies ja mit größtmöglicher Plausibilität und Klarheit tun. Große, “dramatische”, oft menschenleere Landschaften können dieser Klarheit sehr förderlich sein. Denn dort wird die Geschichte des Einzelnen so deutlich wie vielleicht nirgendwo sonst. Zudem erscheinen aber auch seine Begegnungen mit anderen, zunächst fremden Menschen, ihre Gesellschaft, vielleicht auch ihre Hilfe, nirgendwo kostbarer als in der Verlassenheit weit draußen.
Wittstock: Die Besteigung eines Berges ist ein spannendes Abenteuer. Wie wird daraus ein Thema für die Literatur? Abenteuergeschichten bringt man sonst eher mit Genre-Geschichten in Verbindung.
Christoph Ransmayr: Das ist für einen Erzähler keine besondere Frage. Warum sollte er sich darum kümmern, welcher Kategorie oder Schublade seine Geschichte schließlich zugeordnet wird? Auch Abenteuer-Geschichten können unzählige Ebenen haben, von denen die des reinen Geschehens bloß die einfachste und vordergründigste ist, wenn Schicht für Schicht darunter allmählich sichtbar wird, was die Protagonisten bewegt oder was sie treibt, und eine Expedition nicht nur in die Weite oder in die Höhe, sondern auch durch Seelenlandschaften führt.
Wittstock: Wie weit gehen Sie als Schriftsteller, um die Abenteuer zu erleben, von denen Sie schreiben wollen?
Christoph Ransmayr: Ich nehme die Plagen und Widrigkeiten, von denen man in Wüsten, in großen Höhen oder auf dem Meer bedrängt werden kann, nur zur Not in Kauf. Meine Leidensfähigkeit ist nicht sehr ausgeprägt. Ich bin und bleibe auch in den großen Gebirgen lieber Wanderer und Spaziergänger. Es gab zwar irgendwann den Gedanken, vielleicht einen der ganz großen Berge zu besteigen. Aber als ich dann in Tibet mit Höhen von knapp 6000 Metern konfrontiert war und die Luft dünn und dünner, die Kälte schneidend und die Windstärken umwerfend wurden, war die Einsicht nahe liegend, dass solche Weg nicht meine sind.
Wittstock: Vielleicht ist die Arbeit als Schriftsteller schon Abenteuer genug?
Christoph Ransmayr: Als Schriftsteller geht man solche Wege vielleicht bis zu einem gewissen Punkt, um dann innezuhalten und sie schreibend fortzusetzen.
Wittstock: Riskieren Schriftsteller wie die Abenteurer ihr Leben bei der Arbeit? Der erste Satz von “Der fliegende Berg” heißt: “Ich starb 6840 Meter über dem Meeresspiegel…” Und man spürt, dass dieses “Ich” als erstes Wort des Buches sehr bewusst gesetzt ist.
Christoph Ransmayr: Natürlich kann die Arbeit am Schreibtisch, an der Erzählung, an der Sprache, nicht nur zu einer sehr ernsten, sondern auch zu einer gefährlicher Angelegenheit werden, und man kann an ihr auch zugrundegehen.
Wittstock: In Ihrem ersten Roman “Die Schrecken des Eises und der Finsternis” haben Sie das Abenteuer einer Nordpolar-Expedition zum Thema gemacht. Auch hier werden von den Romanhelden unter dem Einsatz des Lebens letzte weiße Flecke auf der Weltkarte erforscht – wie der unerforschte Gipfel in “Der fliegende Berg”. Weshalb sind solche weiße Flecken unbewohnbarer Landschaft für Sie als Schriftsteller ein so wichtiges Thema?
Christoph Ransmayr: Irgendwo allein und der erste zu sein, heißt eben auch, mit allen seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten allein zu sein und zu erfahren, wozu man im Stande ist. Aber das ist nur die eine Seite. Die andere und am Ende wichtigere Seite bleibt aber die Rückkehr. Wer aufbricht ins Unbekannte, ins noch nie Erreichte, der will irgendwann nichts als zurück, nach Hause, gleichgültig ob er nun sein Ziel erreicht hat oder gescheitert ist. Das leere, unbekannte Land zeigt ja auch den Wert der Welt, die man verlassen hat. Irgendwann wird jede Expedition geradezu beseelt von dem Gedanken zurückzukehren, denn hinter jedem noch so entlegenen Ziel kommt die Sehnsucht nach dem Vertrauten zum Vorschein. Wenn alles aus dem Ruder läuft oder Sturm und Lawinen alle Absichten zunichte machen, dann wird die Sehnsucht nach dem Ort, von dem aufbrach, am größten. Nie leuchtet dieser Ort heller als in den Augenblicken, in denen er schon verloren scheint.