Buch&Bar 58: Castle Freeman “Männer mit Erfahrung”

Die weißen Ritter in ihren Pick-Ups

Heuie: Über heikel cowboymäßig Lesen und Trinken

Castle Freeman: "Männer mit Erfahrung." Übersetzung: Dirk van Gunsteren. Roman. Verlag Nagel & Kimche. 18,90 Euro

Annette ist eine furchtlose Frau. Aber wenn sie im Keller eine Spinne sieht, schreit Sie und verlangt, gerettet zu werden. Für mich sind das kostbare romantische Augenblicke in unserer Ehe: Ich greife den Besen, lege ihn ein wie Lancelot seine Lanze, reite auf meinem Schlachtross in den Keller und töte den Drachen.

Vielleicht die älteste Heldenstory der Welt: Mann beschützt Frau vor Monster. Aber wenn jetzt hierzulande neuerdings ängstliche Leute die Waffenläden glauben leer kaufen zu müssen, klingt sie plötzlich nicht mehr nur romantisch. Der Roman „Männer mit Erfahrung“ von Castle Freeman (Nagel & Kimche, 18,90 Euro) erzählt genau so eine Selbstjustiz-Geschichte – und zwar glänzend. Irgendwo in einer sehr ländlichen Ecke der USA wird eine junge Frau von einem echt fiesen Kerl bedroht. Doch der Sheriff kann erst helfen, wenn ihr wirklich was passiert. Also machen sich zwei Männer auf und dem Kerl den Garaus. Freeman schreibt das in bester Brüder-Coen-Manier: lakonisch, ironisch, komisch – und schwer blutisch. Denn die Erfahrung der Männer mit Erfahrung sagt: Wenn du so was anfängst, musst du es zu Ende bringen. Um jeden Preis.

Nach dem Roman kann man einen Drink gebrauchen. Da Freemans Roman letztlich ein Western ist, auch wenn die Helden hier Pick-ups und keine Pferde reiten, passt ein Whiskey dazu. Der RoughStock Pure Malt aus Montana schmückt sich mit viel Western-Flair, schmeckt aber verblüffend fruchtig und ein wenig süß nach Malzbier.

 

2014 startete BUCH & BAR. Die Kolumne ist schon deshalb absolut unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.

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Buch&Bar 57: Michaela Vieser und Irmela Schautz “Für immer und jetzt”

Hochzeit auf die harte Tour

Heute: Über heiratsnachdenkliches Lesen und Trinken

Michaela Vieser und Irmela Schautz: "Für immer und jetzt. Wie man hier und anderswo die Liebe feiert". Verlag Antje Kunsmann. 18 Euro

Zugegeben, ich habe mir bislang wenig Gedanken gemacht über das Volk der AbaGusii in Westkenia. Ein Riesenfehler. Das wurde mir klar, als ich jetzt das Buch „Für immer und jetzt“ von Michaela Vieser und Irmela Schautz (Verlag Antje Kunstmann, 18 Euro) las über allerlei exotische und mitunter herrlich unhygienische Liebesrituale der unterschiedlichsten Kulturen und Kontinente.

Denn die AbaGusii sind ein weises Volk. Wenn bei ihnen ein Paar heiraten will, versuchen das die Familien sowohl der Braut als auch des Bräutigams nach Kräften zu verhindern. Sie verzögern die nötigen Zeremonien, beschimpfen den künftigen Schwiegersohn bzw. die Schwiegertochter, ja sie lassen ein Kind mit einem Stock nach der Braut schlagen, wenn sie das Haus des Bräutigams zu erreichen versucht. Hat die Liebe der beiden alle Prüfungen tapfer bestanden, drängt sich in den ersten drei Ehenächten noch ein Mädchen im Bett zwischen sie. Erst dann lässt man sie in Ruhe.

Wir hier bei uns feiern lieber Traumhochzeiten. Alles soll sein wie im Liebesmärchen. Dummerweise müssen wir deshalb die weniger märchenhaften Anteile des Lebens auf den Ehealltag danach verschieben. Ich halte das für keinen klugen Schachzug: Das himmlische Getue zuvor kann dann später leicht wie ein falsches Versprechen wirken. Die AbaGusii dagegen lernen von Anfang an, um ihre Liebe zu kämpfen. Das dürfte deren Bedeutung auf der Werteskala der Liebenden steigern. Und die Scheidungsrate senken – wer will sich unter solchen Voraussetzungen schon der Gefahr einer zweiten Hochzeit aussetzen? Ein Sprichwort der AbaGusii lautet übrigens: „Die, die du heiratest, sind die, mit denen du streitest.“ Wie gesagt, ein weises Volk.

Ich möchte auf sie anstoßen mit dem Cocktailklassiker Margarita. Er bringt die Haltung der AbaGusii zur Heirat symbolisch auf den Punkt: Erst kommt der fiese Salzrand, dann der leckere Limettensaft (1 Teil), der süße Orangenlikör (1 Teil) und der sauscharfe Tequila (2 Teile). Aber nehmen Sie um Gottes willen einen guten alten Tequila, sonst ist am nächsten Morgen – wie nach manchen Hochzeiten – der Katzenjammer groß.

 

2014 startete BUCH & BAR. Die Kolumne ist schon deshalb absolut unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.

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Kurt Wolff – ein großer Verleger der deutschen Literatur

Aufbruch, Aufbruch, immer wieder Aufbruch

Kurt Wolff war der wichtigste Verlege des deutschen Expressionismus, einer der bedeutendsten Verleger der deutschen Literaturgeschichte. Heute könnte er seinen Geburtstag feiern, Grund genug an ihn und seine Arbeit zu erinnern, aber auch an seine Frau Helen Wolff, die mit ihm gemeinsam Großartiges geleistet hat, wenn es darum ging, deutsche Literatur nach Amerika zu vermitteln. Ein Loblied.

Ja, wenn man solche Postkarten bekommt! Da muss das Verlegerleben doch die reine Lust sein. „Sehr geehrter Verlag“, steht da in geschwungener, klarer Handschrift, „gleichzeitig schicke ich Ihnen express-rekommand das Manuskript der ‚Strafkolonie’ mit einem Brief. Hochachtungsvoll ergeben Dr. Kafka. 19/XI/18.“

Franz Kafkas Erzählung "Die Verwandlung", 1915 veröffentlicht im Verlag Kurt WolffSo bescheiden und unprätentiös eine der berühmtesten und meistgelesenen Erzählungen des 20. Jahrhunderts frei Haus geliefert zu kriegen – kann es für einen Verleger größeres Glück geben? Welche Sorgen sollten ihn da noch drücken? Doch leider sind die Realitäten des Verlagsgeschäfts andere.

Kafkas Postkarte war 2007  Teil einer Ausstellung zu Ehren Kurt Wolffs in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main. Sie war nicht zuletzt ein Resultat des Bemühens, für die Verlagsgeschichte etwas zu erreichen, was für die vor den Nazis ins Exil geflohenen Schriftsteller schon vor Jahrzehnten geleistet wurde: Sie wieder mit ihrer ganzen Lebensleistung als Teil deutscher Literaturgeschichte bewusst zu machen.

Kurt Wolff, am 3. März 1887 in Bonn geboren, wuchs in einer bildungsgesättigten Atmosphäre auf, von der man heute nur noch träumen kann. Der Vater war Professor und Musikdirektor der Stadt, die Mutter, die früh starb und dem Sohn ein Vermögen hinterließ, entstammte einer alten jüdischen Familie, die zum Freundesumkreis der Familie Goethes zählte.

Herausgeber: Barbara Weidle, Ursula Seeber: "Kurt Wolff - Ein Literat und Gentleman". Begleitbuch zur Frankfurter Ausstellung 2007. Weidle Verlag, 25 Euro

Als Wolff – gerade mal 23jährig – mit Ernst Rowohlt seinen ersten Verlag gründete, verfügte er über souveräne Kenntnissen in Musik, Kunst, Literatur, hatte bereits literaturhistorische Bücher ediert und eine kostbare 12.000 Bände zählende Bibliothek mit Erstausgaben aufgebaut.

Selbst die größten Verleger sind selten länger als zehn, zwanzig Jahre auf dem Höhepunkt ihrer Fähigkeiten. In dieser Zeit verstehen sie es, wie die Beispiele von Samuel Fischer bis Siegfried Unseld zeigen, wichtige Autoren ihrer Generation an sich zu bindenden, bevor dann die nächste Generation nachrückt, zu der sie nur selten noch fruchtbare Kontakte herstellen können.

Die Ungunst der Epoche wollte es, das Kurt Wolff diesen Gipfel seiner Ausstrahlungskraft schon früh, als noch unerfahrener Mann und dazu in wirtschaftlich katastrophalen Zeiten erreichte. Er war nur 25 Jahre alt, als er sich 1912 von Rowohlt trennte, zwei der hellhörigsten jungen Literaten der Zeit, Kurt Pinthus und Franz Werfel, als Lektoren einstellte und mit uferloser Energie über den Buchmarkt herfiel.

Wolfram Göbel: "Der Kurt Wolff Verlag". Allitera Verlag 2007. 42 Euro

Schon im ersten Jahr als alleinverantwortlicher Verleger produzierte er mehr Titel als der bislang bedeutendste Großverlag S.Fischer. Wie ein Magnet zog Wolff die wichtigsten Autoren des literarischen Expressionismus an sich. Bei ihm erschien alles, was bis heute die Literaturgeschichte dieser Zeit prägt: Werfel, Trakl, Georg Heym, Else Lasker-Schüler, Karl Kraus, Robert Walser, Arnold Zweig. Allein 1916 kamen Bücher heraus von Kafka, Carl Sternheim, Werfel, Gottfried Benn und Johannes R.Becher, dazu der Bestseller „Golem“ von Gustav Meyrink. Gleichsam auf Vorrat hatte Wolff im selben Jahr den während des Ersten Weltkriegs wegen der Zensur undruckbaren Roman „Der Untertan“ von Heinrich Mann eingekauft.

Doch so blitzartig Wolffs Aufstieg war, so rapide war sein Absturz. Die meisten seiner Autoren, darunter Kafka, fanden zunächst kaum Leser. Dennoch kaufte Wolff, wie manisch getrieben, zahlreiche andere Verlage, wechselte mehrfach den Hauptsitz seiner Firma, produzierte kostspielige Kunstbände, obwohl sich der Buchmarkt nach dem Ersten Weltkrieg und während der Inflationszeit im freien Fall befand.

Kurt Wolff: "Autoren - Bücher - Abenteuer. Betrachtungen und Erinnerungen eines Verlegers". Verlag Klaus Wagenbach 2004. 9,90 Euro

Der Rheinländer Wolff war eher zu emphatischen Aufbrüchen begabt – darin vielen seiner expressionistischen Autoren verwandt – als dazu, seinen Unternehmungen Kontinuität und Dauer zu verleihen. Schon nach 1920 publizierte er kaum noch literarische Titel und als er seinen Verlag 1930 mit Anfang Vierzig aufgeben musste, hatte er sein Vermögen und große Teile der Mitgift seiner ersten Frau aufgebraucht.

Zusammen mit seiner zweiten Frau Helen floh er 1941 vor den Nazis nach New York, und gründete dort den Verlag Pantheon Books. Zu ihnen stieß ein anderer Exilant, der in Russland geborene Jacques Schiffrin, der in Frankreich die weltberühmte Sammlung „La Pléiade“ aus der Taufe gehoben hatte, die bis heute vom Verlag Gallimard fortgeführt wird. Zusammen spezialisierten sie sich darauf, große europäische Literatur auf den amerikanischen Buchmarkt zu bringen, auch wenn die keine großen Markterfolge garantierte. „Doch wie auch immer die aktuellen Verkaufsziffern ausfielen“, schrieb später Jacques Schiffrins Sohn André, „die Büroräume des Verlags am Washington Square bildeten für die Emigranten in New York eine Oase der Glückseligkeit, stilvoll in einer der prachtvollen Stadtvillen untergebracht, die früher die Südseite des Parks begrenzten.“

Kurt Pinthus: "Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus". Rowohlt Taschenbuch Verlag. 9,90 Euro

Ökonomisch wirklich erfolgreich wurde Pantheon Books erst in den fünfziger Jahren mit einem Beststeller von Anne Morrow Lindbergh: „Muscheln in meiner Hand“ und der amerikanischen Lizenz von Boris Pasternaks Roman „Doktor Schiwago“. Dennoch wurden Kurt und Helen Wolff bald darauf aus dem Verlag gedrängt, der ihren literarischen Qualitätsvorstellungen immer weniger entsprach.

Helen Wolff ist bis zu ihrem Tod 1994 eine wer wichtigsten Vermittelrinnen europäischer Literatur nach Amerika geblieben. Sie brachte in einem speziell auf sie zugeschnittenen Imprint-Verlag unter anderem Uwe Johnson, Grass, Frisch, Jurek Becker, Walter Benjamin, Karl Jaspers und Umberto Eco heraus.

Kurt Wolff starb, wie er gelebt hatte, im Dienst der Literatur. 1963 wurde er auf dem Weg zu einer Ausstellung expressionistischer Literatur in Marbacher Schiller Nationalmuseum von einem Lastwagen überfahren. Man beerdigte ihn in Marbach, wo zwölf Jahre später auch sein alter Lektor Kurt Pinthus beisetzte wurde, dessen legendäre Anthologie „Menschheitsdämmerung“ wie keine andere den Geist der frühen Autoren Kurt Wolffs bewahrte. Doch diese Sammlung war erst 1920, also nach der kurzen, explosionsartigen Blüte von Wolffs Verlag fertig geworden – und erschien deshalb schon im Verlag seines alten Konkurrenten Rowohlt.

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Buch&Bar 56: Zora del Buono “Das Leben der Mächtigen. Reisen zu alten Bäumen”

Gespräch mit einer bescheuerten Birke

Heute: Über über echt superspirituelles Lesen und Trinken

Zora del Buono: "Das Leben der Mächtigen. Reisen zu alten Bäumen". Verlag Matthes & Seitz. 32 Euro

Zora del Buono ist zu einigen der ältesten Bäumen der Welt gereist, hat sie fotografiert, Reportagen über sie geschrieben und ein Buch daraus gemacht: „Das Leben der Mächtigen“ (Matthes & Seitz, 32 Euro). Manche der Bäume sind über 3000 Jahre alt. Eine Zitterpappel in Utah bringt es auf 80 000 Jahre! Ihnen zu begegnen soll eine tiefe spirituelle Erfahrung sein.

Ich zeigte das Buch der Birke in unserem Garten, sie war sofort sauer.

Birke: „Spirituell? Meine Fresse.“

Ich: „Warum nicht? Manche umarmen Bäume, schlafen zu ihren Füßen.“

Birke: „Füße? Siehst du hier Füße? Wehe, du fängst an, mich zu begrapschen. Finger weg! Nimm sie weg!“

Ich: „Du bist doch nur neidisch, weil du nicht 1000 Jahre alt wirst.“

Birke: „Du erst recht nicht! Von so einem gefühlsduseligen Vollpfosten wie dir muss ich mich gießen lassen. Holzkopf, dämlicher.“

Ich: „Hey, pass auf, was du sagst! Ich verheiz’ dich im Kamin.“

Birke: „Aha, das also ist deine spirituelle Tiefe! Von Uraltpappeln schwärmen, aber Durchschnittsbirken mit der Kettensäge drohen.“

Zur Versöhnung haben wir einen Wodka White Birch getrunken, einen durch und durch russischen Wodka mit englischem Namen, dem Birkensaft zugesetzt wird. Schmeckt seidig weich, ein wenig nach Sahne. „Birkensaft ist“, knarrte die Birke, “übrigens auch gut gegen Haarausfall. Von hier oben sieht’s aus, als hättest du’s bald nötig.“ Dieser Drecksbaum, dieser unspirituelle.

 

2014 startete BUCH & BAR. Die Kolumne ist schon deshalb absolut unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.
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Die Schriftstellerin Barbara Honigmann – und ihre erstaunliche Familie

Der Spion, der meine Mutter heiratete

Sie wurde in der DDR als Tochter hoher Funktionäre geboren. Aber sie wandte sich vom realen Sozialismus ab und entdeckte ihr Judentum für sich: Schon der Werdegang der Schriftstellerin Barbara Honigmann ist bemerkenswert genug. Doch was sie in ihren aufregenden Büchern über ihre Eltern, den “antifaschistischen Adel” der DDR und den Spion Kim Philby berichtet, der den Verlauf des Kalten Kriegs entschieden veränderte, ist geradezu haarsträubend – und haarsträubend gut geschrieben. Ein kleines Porträt der Schriftstellerin aus Anlass ihres Geburtstages.

Barbara Honigmann: "Das überirdische Licht". Rückkehr nach New York. Hanser Verlag. 14,90 Euro

„I come from France, but I am a German Jew“, mit diesem Satz hat sich Barbara Honigmann, so schrieb in einem Buch über ihre New Yorker Zeit, unbekannten Amerikanern gern vorgestellt. Und sie war, fügte sie hinzu, über die „Formelhaftigkeit, in der meine Existenz so ihren Ausdruck findet” regelrecht beglückt. Denn die Herkunft und den Werdegang dieser Schriftstellerin in seinen Feinheiten verständlich zu machen, ist nicht leicht.

Sie wurde 1949 in Ost-Berlin als Tochter eines kommunistischen jüdischen Ehepaars geboren, das nach dem Exil in die DDR zurückgekehrt war und dort wichtige kulturelle und politische Funktionen übernahm. Doch als Jugendliche wandte sich Barbara Honigmann entschieden gegen das politische Milieu ihrer Eltern und damit auch gegen das SED-Regime. Sie opponierte nicht nur gegen deren sozialistische, sondern auch gegen deren strikt rationalistische Grundhaltung und suchte Anschluss an die jüdische Gemeinde der DDR, in der sie die jüdische Religion überhaupt erst kennenlernte.

Zudem wurde sie Teil einer Ost-Berliner Boheme, die in Kunst, Theater, Literatur ihre Zuflucht vor den Zumutungen der Diktatur suchte – und diese „Clique lebte und bewegte sich mehr wie ein einziger, vielarmiger und mehrköpfiger Körper”, schrieb Barbara Honigmann einmal: “Mal schlief eine Freundin bei mir, mal ich bei ihr, oder wir beide schliefen bei einer dritten, oder wir schliefen zu dritt bei einer vierten, jedenfalls trugen wir immer eine Zahnbürste bei uns, weil wir ja nie wussten, wo wir aufwachen würden.“

Barbara Honigmann: "Alles, alles Liebe". Roman. dtv. 12,90 Euro

Bald schon wurden die Konflikt mit ihrem Geburtsland unüberbrückbar, sie stellte einen Ausreiseantrag und übersiedelte 1984 mit Mann und Kindern von der DDR ins französische Straßburg. Denn die Stadt verfügt nicht nur über ein reges jüdisches Leben, sondern in Frankreich hoffte sie außerdem Distanz zu dem vom Holocaust überschatteten und bis heute belasteten, oft verkrampften Verhältnis der deutschen Nicht-Juden zu den Juden zu gewinnen.

Barbara Honigmann selbst hat diese Lebensentscheidung zunächst in hohem Maße dramatisiert. Sie nannte sie pathetisch ihren „dreifachen Todessprung ohne Netz: vom Osten in den Westen, von Deutschland nach Frankreich und aus der Assimilation mitten in das Thora-Judentum hinein“. Ihre literarische Produktion blieb unterdessen spärlich und nicht ohne Schwächen. In dem Buch „Soharas Reise“ (1996) beispielsweise, das von einer arabischen Jüdin in Frankreich erzählt, macht sie die religiösen Traditionen ihrer Heldin nicht zu deren selbstverständlichem Lebenshintergrund, sondern stellt sie mit dem Eifer der Spätbekehrten aus wie Kostbarkeiten in einer Glasvitrine, was der Figur viel von ihrer Glaubwürdigkeit nimmt. Und auch in ihrem Briefroman „Alles, alles Liebe!“ (2000), in dem sie die DDR-Boheme von Prenzlauer Berg porträtiert, bleiben die Figuren vage Schemen, die sich nie zu prägnanten Charakteren formen. Eine Meisterin der Rollenprosa – von der diese beiden Bücher leben – kann man Barbara Honigmann bislang nicht nennen.

Barbara Honigmann: "Eine Liebe aus nichts". Roman. dtv. 8,90 Euro

Weitaus eindrucksvoller und unverwechselbarer waren dagegen von Beginn an ihre Reflektionen über die Vergangenheit ihrer eigenen Familie. Dies schon deshalb, weil das Schicksal ihrer Eltern in solchem Maße durch die politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts geprägt war, daß ihre Biographien wirken wie gelebte Geschichtslektionen. Ihr Vater, dem sich 1991 ihr Buch „Eine Liebe aus Nichts“ widmete, war im großbürgerlichen Milieu in Hessen aufgewachsen und arbeitete anfangs als Journalist für die „Vossische Zeitung“. Nachdem er als Jude vor den Nazis nach England fliehen mußte, bekannte er sich zum Kommunismus und Parteimitglied, lief nach Kriegsende in die „Sowjetisch besetzte Zone“ über und arbeitete dann in Ost-Berlin als ehemaliger Emigrant und Antifaschist in wichtigen Positionen am Aufbau der linientreuen Presse der DDR mit.

Der Essay „Ein Kapitel aus meinem Leben“ (2004) ist ein Pendant zu diesem Vater-Buch, er behandelt die Biographie der Mutter. Doch obwohl sie weniger exponierte Ämter bekleidete als ihr Mann, ist ihr Lebensweg geschichtlich weitaus signifikanter und in seinem entscheidenden „Kapitel“ historisch von geradezu dramatischer Bedeutung. Dies Buch ist ein kleines Wunderding: Ein schöner, kluger, überaus eindringlicher Essay, in dem Barbara Honigmann lauter Gegensätze zusammenzwingt, die sonst fast unvereinbar sind. Sie berichtet über Ungeheuerlichkeiten von buchstäblich historischer Dimension – rückt sie den Lesern aber in ihrer alltäglichen, unsensationellen Erscheinungsform vor Augen. Sie betreibt Familienforschung der persönlichsten Art – läßt dabei jedoch Konflikte, Sehnsüchte, Bitterkeiten zweier ganzer Generationen aufscheinen. Sie schreibt ausschließlich über Vergangenes – und macht dennoch Entscheidendes im geistigen Klima unserer Gegenwart spürbar.

Barbara Honigmann: "Ein Kapitel aus meinem Leben". dtv. 10,90 Euro

Barbara Honigmanns Mutter Lizzy Kohlmann, geboren 1910, wuchs als Tochter gläubiger Juden zunächst in einem ungarischen Dorf, später in Wien auf. Von ihrem ersten Ehemann trennte sie sich, als der seine Auswanderung nach Palästina plante und schloß sich statt dessen der kommunistischen Partei Österreichs an. Sie war mehr als ein einfaches Mitglied, in ihrer Dreizimmerwohnung fanden mitunter ZK-Sitzungen der KPÖ statt. Die Wiener Arbeiteraufstände von 1934 erlebte sie an der Seite eines talentierten englischen Marxisten, den sie bald darauf heiratete und mit dem sie vor den Nachstellungen der österreichischen Polizei nach Großbritannien auswich.

Dieser zweite Ehemann war kein anderer als Kim Philby, der legendäre Doppelagent, der während und nach den Zweiten Weltkrieg den KGB mit entscheidenden Militärgeheimnissen des Westens versorgte und damit nicht zuletzt zur atomaren Aufrüstung der Sowjetunion beitrug. Es ist wohl nicht übertrieben zu sagen, ohne ihn hätte der Kalte Krieg einen anderen Verlauf genommen.

Lizzy Kohlmann war seit 1935 in die Spionagearbeit Philbys eingeweiht, strickte mit an seiner Tarnung gegenüber der britischen Abwehr und erfüllte Verbindungsaufgaben zwischen dem KGB und Philby. Der perfekte Stoff für einen Polit-Thriller. Den hat Barbara Honigmann allerdings nicht geschrieben. Statt auf die inzwischen bekannt gewordenen Tatsachen, die vermutlich ohnehin den beteiligten Geheimdiensten gründlich manipuliert wurden, konzentriert sich auf ihr Verhältnis zu ihrer Mutter. Lizzy Kohlmann ließ sich noch in England von Philby scheiden, heiratete den deutschen Emigranten Georg Honigmann und folgte ihm am Ende des Zweiten Weltkriegs nach Ost-Berlin. Dort wurde 1949 Barbara Honigmann geboren, die dann, wie so viele Kinder höherer Funktionäre, von Jugendbeinen an in eine solide Gegnerschaft zum sozialistischen Regime hineinwuchs.

Obwohl sich Mutter und Tochter äußerlich ähneln und zeit Lebens ein herzliches Verhältnis pflegen, reichen die Unterschiede zwischen ihnen tief. Lizzy Kohlmann ist ein Kind des Bürgertums, das auf bürgerliche Bindungen keinen Wert legt: Sie läßt ihr Judentum ebenso leichten Herzens hinter sich, wie ihre österreichische Heimat, trennt sich weitgehend schmerzarm von ihren insgesamt drei Ehemännern und diversen Liebespartnern, fühlt sich an der Seite Philbys England gegenüber, dessen Kultur sie bewundert und das ihr vor den Nazis Zuflucht gewährte, zu keiner Loyalität verpflichtet, ja verläßt schließlich sogar als fast Fünfundsiebzigjährige abrupt mit der DDR die marxistische Welt und kehrt nach Wien zurück. Ihre Leben ist von einem radikalen Drang nach Unabhängigkeit und zugleich nie versiegender politischer Leidenschaft geprägt.

Die Tochter dagegen ist ein Kind des Sozialismus, das an die sozialistischen Glücksversprechen nicht glauben kann: Sie fühlt sich heimatlos im ungeliebten Staat und wünscht sich schon deshalb nichts dringender als eine rundum bejahte Bindung und Zugehörigkeit. So beginnt sie die jüdische Tradition ihrer Vorfahren, mit der ihre Eltern gebrochen hatten, mühevoll für sich zu rekonstruieren – und beantragt schließlich die Ausreise aus der DDR, um sich in der großen jüdischen Gemeine Straßburgs zu verwurzeln.

Amir Eshel und Ylaat Weiss (Hrsg.): "Kurz hinter der Wahrheit und dicht neben der Lüge". Zum Werk von Barbara Honigmann. Verlag Wilhelm Fink. 25,90 Euro

Barbara Honigmanns Buch bietet Einblicke in das Leben des „antifaschistischen Adels“ der DDR, die allen Klischees von den unüberbrückbaren Systemgegensätzen des Kalten Krieges zuwiderlaufen. Lizzy Kohlmann, die engagierte Kommunistin, fährt alljährlich von Ost-Berlin nach Wien zur Sommerfrische, sie schickt ihre Tochter zuerst als Schülerin zu Freunden ins bewunderte (und verratene) England, später als Studentin nach Moskau – wo sie in der Wohnung russischer Dissidenten (!) dem Engländer Donald Maclean begegnet, der gemeinsam mit Philby für den KGB gearbeitet und sich aus den USA in die Sowjetunion abgesetzt hatte.

Man könnte meinen: Was für ein exotisches Milieu, was für ein unvergleichliches Schicksal. Doch da Barbara Honigmann nicht die Thriller-Story, sondern eben die alltäglichen Aspekte im Leben ihrer Mutter in den Mittelpunkt des Essays stellt, erweist sich manches an ihrer Biographie und an der Biographie der Tochter als durchaus exemplarisch. Denn die Radikalität mit der sich Lizzy Kohlmann von ihrer Herkunft lossagte, stets alles fortwarf, nie etwas bewahrte, konsequent nur in der Gegenwart lebte, war zugleich abgefedert durch zutiefst bürgerliche Bildung, Umgangformen, Stilsicherheit, auf die sie sich immer verlassen konnte.

Aber gerade ein solches kulturelles Fundament fehlt den Nachgeborenen, fehlt den nach den Zivilisationsbrüchen des 20. Jahrhunderts Geborenen. Während die Mutter, ihrer selbst ganz und gar gewiß, mit Identitäten spielt, ringt die Tochter darum, überhaupt erst zu einer Identität zu finden – und sucht sie schließlich im Judentum. „Nicht wir halten Schabbes“, schrieb sie einmal, „sondern Schabbes hält uns. Sagt der Talmud. Die Wahrheit dieser Weisheit kann ich bestätigen.“

Ratlos wie viele ihrer Generation schaut Barbara Honigmann in diesem Buch auf Eltern, die rigoros eine Menge der Traditionen zerstörten, um deren Rekonstruktion sich viele heute bemühen. Eine Ratlosigkeit, in die sich mitunter insgeheim auch ein wenig Neid mischt auf jene alten Revolutionäre, die in sich die Kraft und das Selbstbewußtsein spürten, die Welt aus den Angeln zu heben, und die, wie Philby die Welt tatsächlich – allerdings nicht zu ihrem Guten – veränderten. Wie viele innerfamiliäre Abrechnungen sind in den letzten Jahren veröffentlicht worden, wie viele Bücher über die Wege von Großvätern, Vätern, Müttern oder älteren Brüdern durch eine zerrissene Epoche. Doch wie wenige von ihnen sind so klar und klug geschrieben, so federnd leicht und zugleich erfahrungssatt wie dieses von Barbara Honigmann.

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Buch&Bar 55: Oscar Wilde “Lord Arthur Saviles Verbrechen”

Ein Gentleman mordet vor der Hochzeit

Heute: Über die heilige Pflicht zu lesen und zu trinken

„Die rechte Grundlage für eine Ehe“, schrieb Oscar Wilde, „ist gegenseitiges Missverstehen.“

Oscar Wilde: "Lord Arthur Saviles Verbrechen". Übersetzt von Christine Hoeppener, mit Zeichnungen von Michael Schroeder. Verlag Edition Faust. 18 Euro

Der Reiz von Missverständnissen wird ja stark unterschätzt. Dabei sind sie ungeheuer fantasieanregend. Ich spreche gern mit Leuten, von deren Sprache ich keinen blassen Schimmer habe. Selten hört man so genau hin und versucht noch die versteckteste Regungen des anderen zu entschlüsseln. Gibt es Besseres für eine Ehe?

Auch der Titelheld in Oscar Wildes Erzählung „Lord Arthur Saviles Verbrechen“ (edition Faust, 18 Euro) wäre mit Missverstehen besser bedient gewesen als mit Verstehen. Ein Mann, der ihm die Zukunft aus der Hand lesen soll, erbleicht plötzlich und stottert statt einer Erklärung nur Belanglosigkeiten. Lord Arthur will das nicht hinnehmen, sondern alles wissen – und erfährt schließlich, er werde einen Mord begehen.

Natürlich ist Lord Arthur ein Gentleman und möchte seiner Verlobten nicht zumuten, dass ihr zukünftiger Mann beim Morden geschnappt werden könnte. Also sieht er es als heilige Pflicht an, das blutige Geschäft noch rasch vor der Hochzeit zu erledigen, um dann beruhigt in den Ehehafen einlaufen zu können. Und Tante Clementina ist doch eh schon so alt…

Der Dandy Oscar Wilde sah es als heiligste Pflicht an, es sich so gut gehen zu lassen wie irgend möglich. Also brach er Champagner-Flaschen das Genick, wann, wo und wie oft er nur konnte. Selbst vor Gericht ließ er sie sich angeblich während der Verhandlung servieren. Verbürgt ist seine Antwort auf die Frage des gegnerischen Anwalts, ob er in einer verfänglichen Situation Champagner getrunken habe: „Eisgekühlter Champagner ist mein Lieblingsgetränk – strikt gegen die Anordnungen meines Arztes.“ Als er völlig verarmt mit nur 46 starb, hob er das Champagnerglas und hinterließ der Welt den Satz: „Ich sterbe wie ich gelebt habe: über meine Verhältnisse.“

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Gespräch mit Martin Mosebach über Charles Dickens

 ”Vor allem: keine Psychologie!”

Ein Gespräch mit dem Erzähler Martin Mosebach über den gigantischen Erfolg des Erzählers Charles Dickens, der heute Geburtstag hat: Weshalb seine Romane das Vorbild für Entenhausen sind, warum er zwar die Kinderarbeit seiner Zeit anprangerte, aber über die Kinderprostitution kein Wort verlor und wieso er die Gesetze der kapitalistischen  Gesellschaft besser verstanden hatte als Karl Marx

Uwe Wittstock:   Dickens’ Erfolg ist gigantisch. Seine Bücher haben eine Gesamtauflage von mehreren hundert Millionen. „Oliver Twist“ wurde mehr als 20-mal verfilmt, noch häufiger die Weihnachts-Geistergeschichte um den herzlosen Scrooge. Was macht diese literarische Anziehungskraft aus?

Hans-Dieter Gelfert: "Charles Dickens, der Unnachahmliche". Eine Biografie. Verlag C.H. Beck, 14,95 Euro

Martin Mosebach:   Die berühmten Romane „Oliver Twist“ und „David Copperfield“ oder auch die „Weihnachtsgeschichte“ haben den Welterfolg des Genres Jugendliteratur erst eigentlich möglich gemacht. Ihr Rezept: eine klare Trennung zwischen bösen und guten Charakteren und dazu einen jungen Helden, der sich als Identifikationsfigur anbietet. Jeder Jugendliche, der sich einsam, unverstanden und also unglücklich fühlt – wie man das als junger Mensch gelegentlich tut -, findet in diesen Romanen ein literarisches Gegenüber, in das er sich einfühlen kann. Und am Schluss siegt das Gute. Der junge Held triumphiert, die Sehnsucht junger Leser nach Anerkennung und Größe erfüllt sich. Die zahllosen jugendlichen Helden in den Jugendbüchern des 20. Jahrhunderts sind Enkel und Urenkel von Oliver Twist.

Wittstock:   Zugleich sind Dickens’ Romane sehr komisch.

Mosebach:   Ja, das bunte Personal, das die Helden in Dickens’ Romanen umgibt, ist immer wieder hinreißend. Dickens hat die Figuren der italienischen Commedia dell’Arte und der altenglischen Weihnachtspantomime in die Prosaliteratur eingeführt und mit dem Gesellschaftsroman verschmolzen. Er hatte eine unerschöpfliche Fantasie, wenn es darum ging, kauzige, kuriose, witzige Nebenfiguren zu erfinden. Aber auch gruselige, erschreckende, beängstigende Gestalten. Er hat damit ein bis in unsere Gegenwart vielfach benutztes Erzählmodell entwickelt. Ganze Comic-Welten wie Disneys Entenhausen oder das Springfield der Simpsons folgen diesem Muster: Um eine Zentralfigur schart sich ein Ensemble von drolligen, leicht wiedererkennbaren Typen, die in bunter Folge auf- und wieder abtreten und so ein komisches Milieu erschaffen. Vor allem: keine Psychologie! Stattdessen: Typen- und Maskentheater! Auch „Harry Potter“ geht letztendlich auf Charles Dickens zurück: der jugendliche Held, umgeben von einer schier unüberschaubaren Menge bizarrer oder eben schauerlich-fantastischer Nebenfiguren.

Charles Dickens: "David Copperfield". Fischer Taschenbuch Verlag, 9,50 Euro

Wittstock:   Anders als J. K. Rowling war Dickens ein ausgesprochen sozialkritischer Autor. Das Bild von der Not der Arbeiter im Manchester-Kapitalismus ist maßgeblich von Dickens mitgeformt worden.

Mosebach:   Dickens hatte die Schattenseiten seiner Zeit am eigenen Leib erfahren. Er erlebte den sozialen Abstieg seiner Familie, als sein Vater ins Schuldgefängnis kam und er als Zwölfjähriger für zehn Stunden täglich zur Arbeit in eine Schuhwichsfabrik geschickt wurde. Er sah die gnadenlose Welt der Armen mit den Augen des abgestiegenen Bürgerlichen, der diesen Abstieg als Schande empfindet. Die Erinnerung an diesen realen Albtraum hat ihn zeitlebens nicht verlassen.

Wittstock:   Hat Dickens mit seinen Büchern zur Einschränkung der Kinderarbeit beigetragen?

Mosebach:   Nicht nur mit seinen Büchern. Er polemisierte in zahllosen Zeitungsartikeln gegen die Lasten, die man in seiner Zeit den Kindern auflud. Andererseits hat er in seinen Romanen bestimmte Themen konsequent ausgespart: Die ganze Welt der Erotik und des Sexus zum Beispiel kommen bei ihm nicht vor. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts gab es in England ja nicht nur das Elend der Arbeitshäuser, in denen Oliver Twist fast umkommt. Vollständig wäre das Bild der Epoche erst, wenn Dickens auch die aus der Armut geborene Kinderprostitution beschrieben hätte, die damals an der Tagesordnung war. Dostojewski hat das gewagt. Doch die viktorianische Gesellschaft war zu prüde, um so etwas offen zur Sprache zu bringen. Auch damals gab es Sextourismus: Allerdings musste der Gentleman der englischen Middle Class nicht auf andere Kontinente reisen, sondern nur in die Armenviertel Londons.

Wittstock:   Aber Dickens war kein Ideologe. Er hätte Karl Marx im London seiner Zeit treffen können, aber marxistische Ideen waren im völlig fremd.

Martin Mosebach: "Schöne Literatur". Essays. dtv. 9,90 Euro

Mosebach:   Die gesellschaftliche Ordnung wird in seinen Romanen nie in Frage gestellt. Letztlich war das soziale Elend viel größer, als er es schilderte. Dickens war kein Zola, er beschrieb das Elend so abgemildert, dass seine Leser es gerade noch ertragen konnten. Und die Lösung seiner Romane ist immer, dass zum guten Ende wohlhabende, gütige Menschen den Armen helfen und ihnen ihr Los erleichtern, nachdem vorher viele hartherzig weggeschaut haben. Auf diese Weise hat Dickens an das Gewissen seiner Leser appelliert. Man darf nicht vergessen: Marx rechnete fest mit einer proletarischen Revolution in England. Dickens’ Romane dagegen zielten darauf, das soziale Verantwortungsgefühl der bürgerlichen Leser zu schärfen. Er ist das literarische Pendant zum Tory-Premierminister Disraeli und seinem konservativen Paternalismus. Allerdings hatten die Engländer damals Kolonien, in die sie einen Teil ihrer sozialen Probleme verlagern konnten.

Wittstock:   War Dickens also ein Moralist?

Mosebach:   Er glaubte fest an eine Kombination aus Vernunft und gutem Herzen. Man kann das naiv nennen. Aber es lag in diesem Glauben, so wie Dickens ihn in seinen Romanen ausgesprochen hat, zweifellos eine Kraft – auch politisch. Die Doktrin, die er erzählend propagiert hat, lautete: Gutsein lohnt sich. Man darf ihn deshalb wohl einen Moralisten nennen, denn er warb eben nicht für utopische Ziele, sondern für eine Linderung konkreter Leiden, die letztlich im Interesse der gesamten Gesellschaft lag. Rückblickend könnte man sagen: Dickens hat die Gesetze der kapitalistischen Gesellschaft besser verstanden als Karl Marx.

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Buch&Bar 54: F.Scott Fitzgerald “Die Strasse der Pfirsiche”

Der Tag, an dem Methusalem platzte

Heute: Über wachholderfeuriges Reisen, Lesen und Trinken

F.Scott Fitzgerald: "Die Strasse der Pfirsiche". Übersetzt von Alexander Pechmann. Aufbau Verlag. 16,95 Euro

Ja jetzt, im nebelnieselnassen Winter, wenn Sonne und Farben Trübsal blasen, ist der richtige Moment gekommen für die „Straße der Pfirsiche“ (Aufbau, 16,95 Euro). F.Scott Fitzgerald war erst 23, aber schon ein gefeierter Bestsellerautor als ihm das Sauwetter in Connecticut auf die Nerven ging und ihn beim Frühstück die erregende Erinnerung an die Biscuits und Pfirsiche Alabamas überwältigte. Also stand er vom Tisch auf, packte einen Haufen Geld sowie die frisch geheiratete Drama-Queen Zelda ins Auto und machte sich auf den 1200 Meilen weiten Weg gen Süden.

Im Jahr 1920! Will sagen: Selbst in USA waren noch nicht alle Straßen asphaltiert und die Lebenserwartung des gebrechlichen Wagens der Fitzgeralds, ein Marmon 34, schätzte das schmierölverschmierte Fachpersonal an den Tankstellen allenfalls noch nach Tagen. Tatsächlich wurde das Auto während der Fahrt vom eigenen Rad überholt, befreite sich die Karosserie mehrfach vom Fahrgestell, sprang die Batterie verzweifelt über Bord und platzen die Reifen so oft, dass Fitzgerald sie auf vielsagende Namen wie Lazarus und Methusalem taufte. Zugegeben, als Mechaniker war er eine Niete, aber ich kenne niemanden, der seine Unfähigkeit mit so viel Charme, Anmut und radikaler Offenheit beschreibt, wie er in diesem Reisebericht.

In den USA herrschte damals Prohibition. Also nennt Fitzgerald, den Gin, der ihm auf den langen Etappen in den Süden neues Feuer verlieh, hier „Wacholderöl“. Es gehört auch zu dem stilvollen Cocktail, der nach ihm benannt wurde. Zwei Teile Gin, ein Teil Zitronensaft, ein Teil Zuckersirup und zwei Spritzer Angostura gut durchgeschüttelt nennt man in den Bars dieser Welt einen Fitzgerald. Ein flüssiger Gedenkstein für einen großen Schriftsteller. Er war erst 44, als ihn der Gin umbrachte.

 

2014 startete BUCH & BAR im Focus. Die Kolumne ist schon deshalb absolut unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.

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Buch&Bar 53: Ilja Trojanow und Susann Urban “Durch Welt und Wiese”

Vom Zufußgehen in Zeiten des Billigfliegens

Heute: Über vielseitig bewandertes Lesen und Trinken

Klar, Essen ist auch wichtig. Aber in dieser Kurz-Kolume BUCH & BAR geht es nur um Lesen und Trinken. Warum? Weil beides, in richtiger Qualität und Dosierung, einen kostbaren Fingerbreit über die klägliche Wirklichkeit hinausheben kann.

Ilja Trojanow und Susann Urban: "Durch Welt und Wiese oder: Reisen zu Fuß". Andere Bibliothek, Berlin 2015. 42 Euro

Karneval kommt jetzt rasend schnell. Nächste Woche ist er da. Nach den Flüchtlingsmärschen von Sommer wird die Frage: „Wolle mer se rein lasse?“ ganz anders klingen. Bin gespannt, was manche Närrinnen und Narrhalesen in diesem Jahr so als Antwort rufen werden.

Flüchtlinge kommen in der Anthologie „Durch Welt und Wiese oder: Reisen zu Fuß“ (Andere Bibliothek, 42 Euro) allerdings nur am Rande vor. Stattdessen haben Ilija Trojanow und Susann Urban Geschichten von freiwillig wandernden oder flanierenden Schriftstellern gesammelt. Was dem fabelhaft schön gemachten Buch so einen lustvollen Weltgenießer-Sound mitgibt. Zugegeben, ich bin nicht sicher, ob Johann Gottfried Seumes Behauptung, „dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge“ zutrifft – der Mann nannte selbst seinen Marsch von Sachsen nach Syrakus einen Spaziergang. Aber sicher ist, zu Fuß kriegt man mehr mit von der Welt. „Wer ausschreitet, der lernt mit der ganzen Körper sehen“, schreibt Trojanow. Vermutlich haben im Sommer also die Flüchtlinge am meisten über Europa gelernt.

Den Kalauer, als Drink zu diesem Buch Johnnie Walker zu empfehlen, spare ich mir. Vor einer beschwingten Kurzwanderung (zur nächsten Tanzkneipe) hat mir kürzlich Lillet Blanc gut geschmeckt, ein Aperitif aus Wein, Zitruslikör und Chinarinde. Und gemischt mit Sekt ist er leicht genug, nicht zu Wegfindungsstörungen zu führen.

 

2014 startete BUCH & BAR im Focus. Die Kolumne ist schon deshalb absolut unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das,  worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.

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Martin Walser

Ein Gespräch mit Martin Walser über den Tod, die Flüchtlinge, Angela Merkel und sich selbst als Roman sowie “Ein sterbender Mann”.

Das Interview aus dem heute erschienenen, aktuellen Heft des FOCUS

„Was Angela Merkel gemacht hat“, sagt der Schriftsteller Martin Walser im Gespräch mit dem Nachrichtenmagazin FOCUS zur Flüchtlingskrise: „war großartig. Ganz großartig. In Deutschland wurde zum ersten Mal weltbewegend menschlich reagiert“. In seinem neuen Buch „Ein sterbender Mann“ habe er nicht widerstehen können, seinen Romanhelden einen „Bericht an die Regierung“ schreiben zu lassen, in dem er vorschlägt, jeder deutsche „Hausbesitzer solle einen Flüchtling aufnehmen: eine Million Hausbesitzer bringen eine Million Flüchtlinge unter.“

Angela Merkels Satz „Wir schaffen das!“ stimmt Walser ausdrücklich zu: „Es ist doch klar, wir haben doch gar keine andere Möglichkeit mehr, als es zu schaffen. Alles andere wäre viel schlimmer. Wir haben nach 1945 viel mehr schaffen müssen und wir haben es geschafft in einer viel, viel schlechteren wirtschaftlichen Lage.“ Das Wort „Integration“ bezeichnet Walser als „widerlich“ und berichtet von einer Farbigen, die er kennenlernte: „Sie telefonierte und sprach ein wundervolles Deutsch. Sie hat lauter Worte und Wendungen benutzt, die man nur benutzt, wenn man in Deutschland ganz und gar zu Hause ist. Zu Hause ist! Ihre Heimat ist hier. Wer so in der Sprache angekommen ist wie diese Frau, ist ein Einheimischer.

Walser betrachtet sich als sehr heimatverbundenen Schriftsteller, den seine Geburtsstadt Wasserburg am Bodensee igeprägt hat. Aber: „Mein Wasserburg gibt es nicht mehr“, die Veränderungen der Zeit seien unaufhaltsam: „Heute ist Wasserburg die Heimat anderer Menschen, und die haben ein Recht darauf, es zu ihrer Heimat zu machen, so wie ich damals Wasserburg zu meiner machte.“ Sich dagegen zu sperren, habe keinen Sinn: „Wenn es heute heißt, unser Land wird sich verändern, kann ich nur antworten: Aber ja. Es hat sich immer verändert und wird sich immer weiter verändern.“

Ganz entschieden plädiert Walser für die Chancen, die sich dem Land durch die zuwandernden Flüchtlinge eröffnen: „In 20 Jahren wird es Romane und Gedichte dieser Menschen geben in einer deutschen Sprache, die es zuvor noch gar nicht geben konnte, und das wird ein Reichtum sein! Es ist ein Reichtum, der uns bevorsteht, und keine Beraubung!“

Das Interview mit Walser ist erhältlich bei Blendle unter:

https://blendle.com/i/focus/das-bin-ich-als-roman/bnl-focusde-20160129-125792_das_bin_ich_als_roman

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