Interview zu “Hitler übersetzen”

Verworren, brüchig, inkohärent

Über die endlosen Schwierigkeiten, Adolf Hitlers Buch “Mein Kampf” ins Französische zu übersetzen. Eine Gespräch mit Olivier Mannoni, der acht Jehre lang an einer fast unlösbaren Aufgabe gearbeitet hat

Olivier Mannoni ist ein herausragender Übersetzer, der deutsche Bücher ins Französische bringt. Er hat zahllose literarische Bücher, aber auch Sachbücher übersetzt. Vor allen Bücher von Historikern oder zu historischen Themen. Eins seiner großen Projekte war eine Übersetzung von Hitlers “Mein Kampf”. Über die Erfahrungen beim Übersetzen dieses so oft erwähnten, aber selten gelesenen und letztlich hundsmiserablen Buchs hat er dann selbst ein Buch geschrieben, das jetzt seinerseits ins Deutsche übersetzt wurde. Sein Fazit: »Hitler zu übersetzen, bedeutet auch, sich gegen seine zeitgenössischen Epigonen zu wappnen.« Ich habe mich mit ihm in Lyon über sein Buch unterhalten.

Uwe Wittstock: Sie haben Hitlers „Mein Kampf“ ins Französische übersetzt. Wie lange haben Sie dafür gebraucht?

Olivier Manonni: Acht Jahre.

Warum so lange?

Das deutsche Buch hat achthundert eng bedruckte Seiten. Meine erste Übersetzung war nach zwei Jahren fertig, zählte 1200 Manuskriptseiten und wurde vom ersten Herausgeber sehr gelobt. Doch dann brachte der neue wissenschaftliche Herausgeber Florent Brayard einen unerwarteten, aber wichtigen Einwand vor. Normalerweise versucht man als Übersetzer einen Text so verständlich und flüssig wie möglich in die andere Sprache zu übertragen. Das hatte ich auch in diesem Fall getan. Doch Brayard war dagegen. Er wollte Hitlers Buch genauso im Französischen, wie Hitler es im Deutschen geschrieben hatte: voller syntaktischer Fehler, endloser Sätze, zwanghafter Wiederholungen. Nur so, sagte Brayard, könnte die Übersetzung den gleichen Eindruck vermitteln, den das Original beim Erscheinen 1925/26 auf den deutschen Leser hatte. Das leuchtete mir ein und ich habe noch einmal sechs Jahre gebraucht, um Hitlers miserables Deutsch in ein ebenso miserables Französisch zu bringen.

Was war für Sie das größte Problem bei der Arbeit?

Olivier Mannoni: "Hitler übersetzen. Über die Sprache des Faschismus und ihre unheilvolle Wirkmacht". HarperCollins, 19,99 Euro

Olivier Mannoni: “Hitler übersetzen. Über die Sprache des Faschismus und ihre unheilvolle Wirkmacht”. Übersetzung: Nicola Denis. HarperCollins, 19,99 Euro

Viele der Originalsätze Hitlers sind verworren, brüchig, inkohärent. Das ist eine riesige Herausforderung. Es ist ungeheuer schwer, unverständliche Sätze so genau wie möglich in einer anderen Sprache nachzubilden. Daneben gibt es in dem Buch auch klare Formulierungen, zumeist wenn es um das geht, was Hitler heftig ablehnt, die Juden zum Beispiel. Sie spielen die Rolle des Feindes, daran lässt er keinen Zweifel. Manchmal übernehmen diese Rolle auch die Franzosen oder die Intellektuellen. Hitlers Sprache ist wie ein Morast, mir fällt kein besseres Wort ein, ein Morast, in dem man keinen richtigen Halt findet. Die einzigen klaren Haltepunkte sind die Stellen, in denen er vom Hass auf seine Feinde spricht.

Der erste Teil von „Mein Kampf“ ist eine Art Autobiografie: Hitler beschreibt seinen Werdegang zum Politiker und mischt unter die Fakten lauter Unwahrheiten und Verfälschungen. Ist es nicht eine Geschichtsklitterung, das heute wieder zu veröffentlichen?

Ich habe den Auftrag zur Übersetzung nur übernommen, weil ich wusste, dass der übersetzte Text zusammen mit den Kommentaren hervorragender Historiker gedruckt wird, die jede Lüge Hitlers analysieren und die Leser mit den historischen Wahrheiten konfrontieren. Zusammen ist das ein sehr großformatiger Band geworden, fast vier Kilo schwer, der 100 Euro kostet und den Titel „Historiciser le mal“ trägt, also „Das Böse historisieren“. Der Name Adolf Hitler kommt also nicht einmal auf dem Umschlag des Buches vor.

Es gibt kaum jemanden, der die Sprache eines Buchs so genau durchleuchtet, wie ein Übersetzer, der sie in einer anderen Sprache nachbilden muss. Welche Eigenheiten haben sie an Hitlers Sprache festgestellt?

Sie ist schwülstig, konfus, mit einer wackeligen Grammatik. Er benutzt entsetzlich viele Adverbien, was immer ein Zeichen für schlechten Stil ist. Er hat eine Neigung zu abgedroschenen und klischeehaften Bildern und Begriffen. Hinzu kommt seine auffällige Vorliebe, Adjektive wie „unbarmherzig“, „rücksichtslos“ oder „fanatisch“, die gewöhnlich immer in einem negativen Zusammenhang benutzt werden, mit einer scheinbar positiven Wertung zu versehen. Er hielt es für eine gute Sache, die Juden „unbarmherzig auszurotten“ oder betrachtete einen „fanatischen Nationalsozialisten“ als einen guten Mann. Außerdem stopft er seine Sätze voll mit Füllworten, die für die Aussage gar keine Funktion haben und des Satz schwerfällig, wenn nicht unverständlich machen.

Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?

Ich muss Sie warnen, die Sätze Hitlers sind wie Bandwürmer. Endlos.

Ich gehe das Risiko ein.

Im Kapitel 9 des zweiten Teils unterscheidet Hitler zwischen den drei Klassen der besten, mittleren und schlechtesten Menschen einer Gesellschaft: „Der Krieg hat nun in seinem viereinhalbjährigen blutigen Geschehen das innere Gleichgewicht dieser drei Klassen insofern gestört, als man – bei Anerkennung aller Opfer der Mitte – dennoch feststellen muss, dass er zu einer fast vollständigen Ausblutung des Extrems des besten Menschtums führte.“ Hier bleibt der Zusammenhang zwischen dem ersten und zweiten Satzteil unklar: Logisch müsste auf die anfängliche Behauptung, der Krieg habe das innere Gleichgewicht gestört, eine Art Beweisführung folgen. Stattdessen setzt Hitler ein „dennoch“ ein, das sich auf den Einschub „…bei Anerkennung…“ bezieht und so die Argumentation völlig zerfasern lässt.

Der Satz ist dunkel, fast unverständlich. Nietzsche hat mal gesagt, manche Autoren „trüben ihre Gewässer, damit sie tief scheinen“.

Hitlers Prosa ist tatsächlich trüb. Den gleichen Grad von Trübheit im Französischen zu erzeugen, war eine Aufgabe zum Haareausraufen.

Es ist eine alte Idee, man könne am Sprachstil eines Menschen, seinen Charakter erkennen. Schopenhauer nannte den Stil die Physiognomie des Autors. Welche Rückschlüsse erlaubt Hitlers Sprachstil auf die Persönlichkeit Hitlers?

Die konfuse Sprache lässt zunächst einmal auf ein konfuses Denken schließen. Aber das ist nicht alles. Hitler war ein Hassprediger. Immer wieder entlädt sich in „Mein Kampf“ ein unglaublicher Hass. Er geht wie eine Lawine auf den Leser nieder. Für Hitler war die Welt strikt in Freund und Feind geteilt. Es gab für ihn nur getreue Anhänger oder Feinde, die er hasste: Juden, Sozialisten, Kommunisten, Homosexuelle, Zigeuner und Arbeitsscheue, wie man damals sagte.

Wie kann es sein, dass ein Mensch, der eine so unklare, schwer verständliche Sprache spricht, politisch so erfolgreich war?

Olivier Mannoni: "Traduire Hitler". Éditions Héloïse Ormesson. 15 Euro

Olivier Mannoni: “Traduire Hitler”. Éditions Héloïse Ormesson. 15 Euro

Zumindest in seinem Hass war Hitler immer glasklar. Da hat er keinen Zweifel aufkommen lassen. Mit diesem Denken in simplen Kategorien von Freund und Feind hatte er tatsächlich große politische Breitenwirkung. Aber die ersten Reaktionen auf „Mein Kampf“ nach dem Erscheinen Mitte der zwanziger Jahre waren katastrophal. Sogar die Nazi-Zeitungen stellten entsetzt die Frage, ob denn ein Mann, der keine vernünftigen zwei Sätze schreiben könne, fähig sei, die Partei zu leiten. Das Buch hat sich zunächst ganz schlecht verkauft.

Ihre Übersetzung von „Mein Kampf“ ist nicht die erste. Schon 1934 wurde das Buch erstmals in Französische übertragen.

Ja, das war eine geglättete Fassung, die Hitlers Sprache viel klarer und einleuchtender erscheinen ließ, als sie es tatsächlich war. Absurderweise wurde diese Ausgabe von Adolf Hitler selbst verboten und zwar aus kommerziellen Gründen – er erhielt aus dem Verkauf in Frankreich keine Tantiemen. Aber auch aus politischen Gründen wollte er nicht, dass das

Buch in Frankreich erscheint.

Sie haben ein Buch geschrieben über Ihre Erfahrungen bei der Arbeit an „Mein Kampf“. Es ist jetzt in Deutschland erschienen …

… übersetzt von einer großartigen Kollegin, von Nicola Denis…

… und darin beschreiben Sie erstaunliche Parallelen zwischen der Sprache Hitlers und der heutiger Rechtspopulisten.

Da ist zunächst einmal die Neigung zur autobiografischen Lüge. Jordan Bardella, der Vorsitzende der rechtsextremen Partei Frankreichs „Rassemblement National“, hat im vergangenen Jahr ein Buch veröffentlicht, in dem er behauptet, als Kind armer Eltern im Elend aufgewachsen zu sein. Journalisten haben jedoch recherchiert, dass ihm sein Vater bereits im Alter von 20 Jahren eine Wohnung und ein Auto schenkte und dass er als Student niemals für seinen Lebensunterhalt arbeiten musste.

Donald Trump, ebenfalls ein Rechtspopulist, hat niemals behauptet, im Elend gelebt zu haben.

Richtig. Aber in seinem Leben gibt es so viele Unwahrheiten und Lügen, dass die amerikanischen Zeitungen aufgehört haben, sie zu zählen. Viel wichtiger sind jedoch zwei andere Punkte. Auch Trumps Sprache ist eine Sprache des Hasses. Er will mit seinen politischen Gegnern nicht zu einem Kompromiss kommen. Er will sie unterwerfen, oder besser noch vernichten. Und auch er denkt in den einfachen Kategorien von Freundschaft und Feindschaft. Er hat nur zwei große Themen: Unser Land ist kaputt, wir müssen es wieder groß machen. Und: Ich bin der Erlöser, der diese Aufgabe bewältigen kann. Mit solchen einfachen Formeln kann man offenbar Wahlkämpfe gewinnen.

Sie schreiben, auch für die Verschwörungstheorie des „Großen Austauschs“, also die Vorstellung, die deutsche beziehungsweise französische Bevölkerung solle gegen Muslime ausgetauscht werden, gäbe es bereits ein Vorbild in „Mein Kampf“?

Nicht unter diesem Namen, aber der Idee nach sehr wohl. Im 11. Kapitel des ersten Teils erläutert Hitler seine Vorstellungen zu „Volk und Rasse“. Darin behauptet er, die Deutschen würden förmlich von den Juden an den Rand geschoben und aus dem eigenen Land verdrängt. Die Juden besäßen alle großen Unternehmen und die wichtigsten Zeitungen. Diesen Einfluss würden sie nutzen, um allein die Juden zu fördern und die Nicht-Juden zu benachteiligen. Das höchste Ziel der Juden sei es zudem, junge deutsche Frauen zu verführen und zu schwängern, um so die deutsche „Rasse“ zu schänden und gewissermaßen genetisch auszulöschen. Auch in seinem rassistischen Wahn drohte also ein Großer Austausch.

Allerdings werden in der Verschwörungstheorie von heute die Migranten an die Stelle der Juden gerückt.

Unterschätzen Sie den Antisemitismus der Rechtspopulisten nicht! In Deutschland mag das bei der AfD noch nicht so deutlich sichtbar sein. Aber beim französischen „Front National“ war der Judenhass ein stark spürbares Element. Der Gründer der Bewegung, Jean-Marie le Pen, hat den Mord an den Juden in den Gaskammern hartnäckig als ein Detail der Geschichte abgetan – und ist dafür mehrfach verurteilt worden.

In den deutschen Debatten spielt heute nicht die Klimakrise, nicht die Kriegslust Putins oder die die Zerstörung der Demokratie durch die Sozialen Medien die Hauptrolle, sondern die Migration.

Ja, der Flüchtling ist zum Ahasver gemacht geworden, zum „Ewigen Juden“, zum Sündenbock, der angeblich an allem die Schuld trägt. Auch hier ist zu spüren, wie dieses toxische Buch „Mein Kampf“ bis heute Einfluss auf das Denken rechtsextremer Menschen nimmt. Diese Wirkung hat nie aufgehört, sie war einige Jahrzehnte lang nicht so deutlich zu bemerken, aber jetzt ist sie wieder da und hochgefährlich.

Olivier Mannoni: „Hitler übersetzen“. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Verlag HaperCollins. 19,99 Euro

 

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Statt eines Nachrufs auf den großen Germanisten Peter von Matt

Was wollen uns die Küsse sagen?

Eine Eloge auf Peter von Matt, seinerzeit geschrieben zu seinem 80. Geburtstag – und jetzt als Nachruf aus vollem Herzen

Peter von Matt lernte ich vor über dreißig Jahren auf einer germanistischen Tagung in Bochum kennen. Damals war ich verblüffenderweise jünger als heute und wohl auch selbstgewisser. Ich arbeitete bei einer Zeitung, fühlte mich als Literaturkritiker, und meine Skepsis gegenüber der Literaturwissenschaft erreichte ihren Höhepunkt. Als Entschuldigung darf ich vielleicht anführen, dass ich zu jener Zeit an meiner Dissertation schrieb und deshalb gezwungen war, eine Überdosis germanistischer Spezialstudien zu meinem kleinen Forschungsgebiet zu mir nehmen. Für mich hatte sich der Eindruck verfestigt, nirgendwo auf der Welt werde uneleganter, kleinkarierter, kunstverständnisloser formuliert und argumentiert als ausgerechnet in der Germanistik. Und diese Tagung würde meine Überzeugungen vollauf bestätigen, so viel war sicher.

Peter von Matt: "Sieben Küsse. Glück und Unglück in der Literatur". dtv, 12,90 Euro.

Peter von Matt: “Sieben Küsse. Glück und Unglück in der Literatur”. dtv, 12,90 Euro.

Doch dann hielt Peter von Matt den Eröffnungsvortrag, es ging um „Spiele des Lachens“ in der Literatur, und ich war von meiner Skepsis kuriert. Er formulierte elegant, mit weitem intellektuellen Zuschnitt und einem beneidenswerten Fingerspitzengefühl für die Antriebskräfte der Schriftsteller. Er sprach über „Spiele des Lachens“ und brachte sein Publikum dabei zumindest zum Lächeln, und was er sagte, schärfte nicht nur den Blick auf die Literatur, sondern auch aufs Leben.

Peter von Matt erzählte, ja wirklich: er erzählte unter anderem von Caroline Schlegels Reaktion auf ein zu ihrer Zeit frisch erschienenes, heute längst zum Monument erstarrtes Stück deutscher Lyrik, und von dem schönen Satz, den sie an einen ihrer Briefpartner schrieb: „Über ein Gedicht von Schiller, das Lied von der Glocke, sind wir gestern Mittag fast von den Stühlen gefallen vor Lachen.“ Und tatsächlich war, wie Peter von Matt leichthändig zeigte, die aus formal perfekten, idealistischen, todernsten Versen erbaute Welt der Schiller-Glocke schreiend komisch, sobald man sie mit den Augen eines Menschen anschaute, der an der keineswegs so perfekten und idealen Einrichtung der realen Welt litt wie Caroline Schlegel. Peter von Matt sprach, wenn ich mich heute, dreißig Jahre danach noch richtig entsinne, von dem „verharmlosenden Ernst“, zu der die Literaturwissenschaft bei der Betrachtung von Literatur neige und von der radikalen Sprengkraft der Komik, die mit literaturwissenschaftlichen Begriffen so schwer zu fassen ist.

Durch allerlei dreiste Manöver gelang es mir, bei dem Mittagessen, das auf seinen Vortrag folgte, einen Platz neben Peter von Matt zu ergattern. Ich weiß nicht, wie sehr ich ihm mit meinem Versuch, von meiner Bewunderung für seine Arbeit zu reden, beim Essen auf die Nerven gegangen bin. Scham überkommt mich, wenn ich daran denke. Aber eines weiß ich noch genau: Irgendwann ließ Peter von Matt seinen Blick über den Mittagstisch wandern, jenen Blick, mit dem er immer wieder entscheidende, zuvor übersehene Details in den Werken der Schriftsteller entdeckte, um sie seinem staunenden Publikum vorzulegen, Peter von Matt also ließ seinen Blick über unseren Tisch wandern, ergriff einen der kleinen Löffel, die bei den Tellern der Mittagsgäste lagen, hielt ihn hoch und fragte mich: „Was bedeutet das?“ Ich hatte keinen blassen Schimmer. Woraufhin Peter von Matt vorfreudig lächelte und sagte: „Das bedeutet: Wir kriegen noch Nachtisch.“

Seither zählt Peter von Matt zu meinen Stars der Germanistik. Seine Bücher sind eine Leselust, er ist ein Stilist von Gnaden, ein weiser Mann der Literatur, der sein enormes Wissen mit Charme und Witz, mit intellektueller Präzision und tänzerischer Leichtigkeit austeilt. Sein jüngstes Buch „Sieben Küsse“ ist ein prachtvolles Beispiel für diese seine Kunst, der Sprache der Schriftsteller nachzulauschen und das, was sie sagen, deutlicher ins Bewusstsein zu heben.

Denn die Literatur hat, schreibt er, ihren eigenen Blick auf die Welt. Sie ist ein uraltes System der Welterklärung ebenso wie Wissenschaft, Philosophie oder Religion. Die Schriftsteller denken in Szenen, so wie die Philosophen in Begriffen und Theorien denken. Für die Literatur zählt immer nur der lebendige Einzelfall, das konkrete Detail – aber sie vermag den Einzelfall, das Detail symbolisch aufzuladen und ihnen so zu überlebensgroßer Bedeutung zu verhelfen. Denn die Literatur, sagt von Matt, „hat sich, im Unterschied zu den andern Systemen, nie ganz abgelöst vom Blick des Kindes. Für das Kind gibt es noch keine Ordnung der Dinge. Alles kann riesig sein oder wie nicht vorhanden. Ein Stein auf dem Weg ist kostbar wie der Rubin in der Königskrone. Er ist sogar lebendig wie ein Tier.“

Und weil, so von Matt, Literatur Wege zeigt, die aus den üblichen Hierarchien und Ordnungsmuster hinausführen, kann sie verschollene, ins unbewusste abgesunkene Erfahrungen wachrufen, „Erfahrungen aus den Urzeiten des eigenen Lebens oder Erfahrungen aus den Urzeiten der Menschheit“. Natürlich wird auch in der Literatur über solche Erfahrungen nachgedacht, aber da diese Erfahrungen in Szenen vergegenwärtigt werden, nicht in Begriffen oder Theorien, bleibt in ihnen immer ein unausdeutbarer Rest, etwas, das man erahnen, aber nicht ganz und gar erklären kann. Wie immer man sich über dieses Denken in Szenen „innerhalb oder außerhalb des Textes den Kopf zerbricht, zu einem vollständig in Sprache übersetzten Verständnis gelangt man nie.“

Wie aber, fragt von Matt, geht das Welterklärungssystem Literatur mit der Sehnsucht nach dem Glück um? Das ist das Forschungsprojekt seines neuen Buches „Sieben Küsse“. Da die Literatur in Szenen denkt, spricht sie auch von dieser Sehnsucht in Szenen und eine der Urszenen des Glückes ist der Kuss. Also spürt von Matt sieben großen Kussszenen der Weltliteratur nach, Küssen, mit denen das Leben ein anderes wird für die küssenden Geschöpfe der Literatur, Küsse, in denen sich das verdichtet, was die Schriftsteller zur Sehnsucht nach dem Glück zu sagen haben.

Er findet diese Szenen im „Großen Gatsby“ des Amerikaners F.Scott Fitzgerald, im Roman „Mrs Dalloway“ der Engländerin Virginia Woolf, in Erzählungen des Schweizers Gottfried Keller und des Österreichers Franz Grillparzer, in der „Marquise von O.“ des unpreußischen Preußen Heinrich von Kleist, in einem Kurzroman der Französin Marguerite Duras und einer Shortstory des Russen Anton Tschechow. Wie gesagt, Peter von Matts Horizont ist niemals eng, er klammert sich weder an Epochen- noch an Sprachgrenzen. Und ihm gelingt immer wieder, was in der Literaturwissenschaft häufig genug nicht einmal versucht wird: Er macht neugierig, ja regelrecht gierig auf die Bücher, über die er schreibt. Das liegt zum einen daran, dass er, der über die Kunst des Erzählens schreibt, zugleich eine Kunst des Nacherzählens beherrscht, und keine Mühe scheut, seinen Lesern die Geschichten, von denen er spricht, auch vor Augen zu rücken. Zum andern liegt es an seiner Fähigkeit, diese Geschichten eben nicht als bloße Objekte der Analysen zu behandeln, sondern als kunstvolle Versuche der Schriftsteller, Erfahrungen zur Sprache zu bringen, die auf anderem Weg schwer oder gar nicht zu formulieren sind.

Literatur ist nämlich für Peter von Matt kein Spaß – auch wenn es ein großes Vergnügen ist, seinen Argumentationen zu folgen. Wenn er schreibt, dass Literatur ein Versuch der Welterklärung ist, dann ist das auch so zu verstehen, dass die Welt der Erklärung bedarf, dass wir oft vor Rätseln stehen, die uns nicht selten quälen, und wir froh sein dürfen, diesen Rätseln mit der Macht der Literatur zu Leibe rücken zu können. Literatur hat nicht immer Recht, warnt von Matt ausdrücklich. Aber unausgesprochen liegt in dieser Warnung das Versprechen, manchmal habe sie eben doch Recht und könne dabei helfen, das rätselvolle Leben etwas weniger rätselhaft machen und uns in ihm ein bisschen heimischer.

Dazu muss man Literatur allerdings genau lesen und zu verstehen versuchen, was in dem Text steht, und nicht die Theorien in ihn hineinlesen, die man ohnehin schon im Kopf hat. In Kleists „Marquise von O.“ zum Beispiel gibt ein Vater seiner verloren geglaubten, aber für ihn dann doch geretteten Tochter einen Kuss, der kein einfacher Kuss mehr ist, sondern eine wahre Kussorgie. Die feministische Literaturtheorie interpretiert diese skandalöse Szene gern als patriarchalischen Gewaltakt, als inzestuöse Beinahe-Vergewaltigung der zu Anfang der Novelle bereits vergewaltigten Marquise. Doch von Matt zeigt, dass diese Interpretation nicht aufgehen kann, wenn man liest, was Kleist tatsächlich geschrieben hat, und diese Szene ein Skandal extremer Gefühle bleibt, die sich üblichen Deutungsmustern nicht fügt.

Peter von Matts Grundüberlegung in diesem Buch, die Literatur denke in Szenen, ist selbstverständlich nicht als absolute Maxime gedacht. Niemand muss von Matt erklären, dass es unszenische Formen von Literatur gibt, denen man Gedankenarmut gleichwohl nicht nachsagen kann. Dennoch verstehe ich von Matts Lehrsatz auch als einen klugen Hinweis auf die besonderen Qualitäten des Erzählens, von dem manche Parteigänger der literarischen Moderne so gern behaupten, es sei längst überlebt und im Rahmen eines ernsthaften ästhetischen Nachdenkens nicht mehr satisfaktionsfähig. Wer heute an die erzählerischen Traditionen des Denkens in Szenen anknüpft, fesselt sich deshalb noch lange nicht an billige literarische Konventionen – auch das ist in von Matts fabelhaftem Buch über „Sieben Küsse“ zu lernen.

Für mich persönlich hat Peter von Matt nur einen Nachteil. Er lebt in Zürich. Und Zürich liegt, aus welchen Zufällen auch immer, unglücklicherweise weitab von meinen Reisepflichten. Wäre das anders, hätte ich längst wieder einmal allerlei dreiste Manöver unternommen, um ihn zu einem Essen und einem Gespräch über Literatur zu gewinnen. Zu einem Essen samt kleinem Löffel, der ihm von Anfang an verspricht: „Wir kriegen noch Nachtisch.“

Titelbild Peter von Matt: Sieben Küsse. Glück und Unglück in der Literatur.
Carl Hanser Verlag, München 2017.
288 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783446254626
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Ein fabelhaften Familienroman: “Gewässer im Ziplock” von Dana Vowinckel

Familie ist eine Chance

Laudatio auf Dana Vowinkel und ihren Roman “Gewässer im Ziplock”

Am 11. November wurde der Buchpreis für Familienroman des Siftung Ravensburger Verlag 2024 in Berlin an Dana Vowickel verliehen. Sie erhielt die Auszeichnung für ihren Roman “Gewässer im Ziplock”. Ich durfte die Laudatio halten. Leider war Dana Vowincken in New York aus familiären Gründen (und welche Hinderungsgründe könnten bei einem Preis für Familienroman wichtiger sein!) verhindert und konnte an der Preisverleihung nur per Videoschalte teilnehmen. Hier meine Rede:

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Dana Vowinckel im fernen New York

Was eigentlich ist Familie? Wovon sprechen wir, wenn wir von Familie sprechen? Eine naheliegende, sehr soziologische Antwort auf diese Frage lautet: Familie ist eine durch Partnerschaft, Heirat, Abstammung oder Adoption begründete Lebensgemeinschaft, die meist aus Eltern und Kindern bzw. Enkeln besteht, aber auch andere, weiter gefasste Verwandtschaftsverhältnisse mit einbeziehen kann.

Dana Vowinckel: "Gewässer im Ziplock". Roman. Suhrkamp Verlag. Handcover: 23 Euro, Taschenbuch 13 Euro

Dana Vowinckel: “Gewässer im Ziplock”. Roman. Suhrkamp Verlag. Handcover: 23 Euro, Taschenbuch 13 Euro

Das ist eine sehr formale Definition, der jede emotionale Dimension fehlt. Diese emotionale Dimension aber ist im alltäglichen Leben das eigentlich entscheidende. Gehört man noch zu einer Familie, wenn man sie verlassen hat? Wenn man den Kontakt zu den anderen Familienmitgliedern abgebrochen hat? Juristisch gehört man sicherlich noch dazu, aber eben kaum im Sinne einer gefühlsmäßigen Bindung. Solche Bindungen aber machen letztlich den Kern einer Familie aus. Familie ist eine Chance. Familie bietet die Chance, das eigene Leben mit den Leben anderer so eng zu verbinden, dass man das eigene Leben und das der anderen kaum noch unterscheiden kann, dass man das Schicksal des anderen ebenso ernst nimmt wie das eigene – oder in extremen Fällen vielleicht sogar ernster als das eigene. Familie ist eine Chance, über sich hinauszuwachsen.

Marsha, die Mutter der fünfzehnjährigen Margarita in Dana Vowinckels Roman, hat diese Chance nicht genutzt. Sie hat ihren Mann und ihre Tochter verlassen, als Margarita im Kindergartenalter war. Sie gibt für diese Entscheidung gleich mehrere Gründe an. Sie ist eine ambitionierte Sprachwissenschaftlerin und fand in Deutschland keine Arbeit, was für sie unerträglich war. Sie hatte geglaubt, so lautet eine andere Begründung, der Familie nur voranzureisen nach Amerika, um ihr so den letzten, den ultimativen Anstoß zu geben, ihr zu folgen. Und schließlich macht sie noch ein drittes, politisches Motiv geltend: Sie konnte, sagt sie, als Jüdin Deutschland nicht mehr ertragen. Doch dorthin, nach Deutschland, hat es Avi, ihren israelischen Mann, einer Arbeit wegen verschlagen. Avi ist Chasan, Sänger und Vorbeter in der Synagoge, ein sehr frommer, weitgehend unpolitischer Mann, den es wenig interessiert, in welchem Land er lebt, solange er die Möglichkeit hat, die jüdischen Gesetze zu befolgen und für eine jüdische Gemeinde zu arbeiten. Er ist nach Marshas Flucht aus Deutschland so tief verletzt, dass er überhaupt nicht auf die Idee kommt, ihr nach Amerika zu folgen.

Kann man in eine Familie wieder einsteigen, nachdem man für Jahre aus ihr ausgestiegen ist? Avi kümmert sich in Berlin über ein Jahrzehnt lang allein rührend um seine Tochter, und auch die mütterlichen Großeltern, die in Chicago leben, wachen über die Kindheit ihrer Enkelin und holen Margarita jeden Sommer in den Ferien zu sich. Doch inzwischen ist Margarita fünfzehn und langweilt sich in Chicago – bis ihre Großmutter ihr den Vorschlag macht, ihre Mutter Marsha in Israel zu besuchen, die als Linguistin Karriere gemacht hat und für einige Monate an die Hebrew Universität in Jerusalem eingeladen worden ist.

Damit beginnt der ebenso dramatische wie problematische Versuch, eine einst auseinandergefallene Familie wiederzubeleben, von dem dieser wunderbare Roman Dana Vowinckels erzählt. Für einige Wochen reisen die drei Hauptbeteiligten unentwegt zwischen verschiedenen Schauplätzen in Deutschland, Israel und Amerika hin und her und vielleicht ist dieses ständige Unterwegssein das äußere Zeichen für die innere Unschlüssigkeit der Figuren.

Thumbnail_Vowinckel_5-FragenDenn Dana Vowinckel macht es sich in ihrem Roman nicht so einfach, die traumschöne, aber letztlich doch unrealistische Geschichte einer schmerzarmen familiären Wiedervereinigung zu erzählen. Nichts wäre dramaturgisch gesehen leichter gewesen als das. Als Ausgangspunkt einer solchen Happy-End-Geschichte müsste die Autorin zeigen, wie fremd sich die Familienmitglieder in den Jahren der Trennung geworden sind. Dann käme die Phase der Wiederannäherung, in der die drei begreifen, wie sehr sie sich trotz allem brauchen und lieben – die schließlich in ein großes Verzeihen und Versöhnen mündet, gefolgt von einer zuckersüßen, sonnenüberstrahlten Zukunft für alle Beteiligten.

Was Dana Vowinckel stattdessen beschreibt, ist literarisch viel glaubwürdiger und überzeugender. Sie zeigt, in welches Chaos der Empfindungen Margarita und Avi durch Marshas Wunsch gestürzt werden, ihre Tochter nach dreizehn Jahren Abwesenheit besser kennenzulernen. Und auch Marsha selbst bleibt von diesen Turbulenzen nicht verschont. Es ist als wären die drei auf eine emotionale Achterbahn geraten, mit mühsamen Aufstiegen, rasenden Abstürzen, nervenaufreibenden Schleuderstrecken und wahren Loopings der Gefühle. Immerzu wechseln die Konstellationen, mal sind sich Avi und Marsha einig, dass die Tochter ihrer Mutter näherkommen sollte, dann wieder gehen die Eltern aufeinander los, weil Marsha mit Margaritas Freiheitsbedürfnissen nicht zurechtkommt und gelegentlich verbünden sich Mutter und Tochter gegen Avi, da dessen Verhalten seiner Tochter gegenüber allzu deutlich von Einsamkeitsängsten und allzu großer Nachgiebigkeit geprägt ist.

Erschwerend kommt die seelische Labilität einer Fünfzehnjährigen hinzu, die im Minutentakt schwankt zwischen Selbstverliebtheit und Selbsthass, zwischen Abenteuerlust und Ängstlichkeit, zwischen sentimentaler Elternanhänglichkeit und brutaler Elternmanipulation. Mit diesem Porträt einer Pubertierenden, die glaubt, ganz genau zu wissen, was sie will und zugleich nicht die geringste Ahnung von sich selbst hat, ist Dana Vowinckel etwas literarisch Herausragendes gelungen. Wie Margarita einerseits die Umwelt mit ihrer Unberechenbarkeit und Selbstbezogenheit psychisch terrorisiert, andererseits aber in Momenten der Selbsterkenntnis unter dem eigenen Terrorregime moralisch am meisten leidet, das ist hinreißend genau beobachtet und beschrieben.

Doch das ist noch längst nicht alles. Zu den besonderen Qualitäten dieses Romans gehört auch, wie liebevoll und detailgenau Dana Vowinckel das religiöse Weltbild von Avi nachzeichnet. Wie leicht wäre es gewesen, seine Frömmigkeit vom Standpunkt der eher säkular denkenden Tochter als eine Art versponnene, weltfremde Lebensweise zu beschreiben. Aber genau das macht Dana Vowinckel nicht. Sie lässt sich ganz und gar ein auf die tiefe Gläubigkeit eines Vorbeters, auf seine Sorgen um die zahllosen religiösen Regeln und um seine Gemeinde. Und sie wird auf diese Weise der Figur in ihrem ganzen jahrhundertealten Ernst erst wirklich gerecht.

Preisübergabe in Berlin an Dana Vowinckel in New York. Stellvertretend nimmt Suhrkamp-Chef Jonathan Landgrebe (links) die Urkunde der Auszeichnung vom Leiter der Situng Ravensburger Verlag, Johannes Hauenstein (rechts) entgegen.

Preisübergabe in Berlin an Dana Vowinckel in New York. Stellvertretend nimmt Suhrkamp-Chef Jonathan Landgrebe (links) die Urkunde der Auszeichnung vom Leiter der Situng Ravensburger Verlag, Johannes Hauenstein (rechts) entgegen.

Vor allem aber gelingt es diesem Roman, viel von der aktuellen politischen Situation der Juden in Deutschland und Israel einzufangen, sowohl die sehr konkrete Angst vor einem neuen handgreiflichen, mörderischen Antisemitismus in Deutschland wie auch die Spaltung der israelischen Gesellschaft zwischen Gegnern und Anhängern der Regierung Netanjahu. Das Buch wirkt, als sei es nach dem entsetzlichen Massaker vom 7.Oktober 2023 geschrieben, obwohl es schon Monate davor erschien. Doch zugleich sind in diesem so zeitgenössischen Roman literarische Muster einer langen Geschichte des Familienromans wiederzuerkennen, bis hin zu einem alles bedrohenden Familiengeheimnis – das sich dann allerdings als eine längst enthüllte und deshalb entschärfte Familienheimlichkeit entpuppt, von der sich Margarita in Identitätsprobleme gestürzt sah.

Bleibt noch über den Titel des Romans zu reden: „Gewässer im Ziplock“. Um ehrlich zu sein, ich hatte, bevor ich Dana Vowinckels Roman las, keine Ahnung, was ein Ziplock ist. Ich hatte schon oft einen dieser wiederverschließbaren Plastikbeutel mit Gleitverschluss benutzt, aber ihren gewissermaßen lautmalerischen Namen Ziplock kannte ich nicht. Was hat ein solcher Alltagsgegenstand im Titel eines solch dramatischen Familienromans zu suchen? Darf man ihn vielleicht als Anspielung auf das dünne, verletzliche Gewebe betrachten, das eine Familie zusammenhält und in dem Gewässer, von dem der Titel spricht, ein Bild sehen für die nur ihrem eigenen Willen gehorchenden, impulsiven, ständig in Bewegung befindlichen Familienmitglieder? Das ist natürlich nur eine Spekulation, eine persönliche Interpretation, aber so ist mir der Titel zur Metapher für die widerstrebenden Kräfte dessen geworden, was wir Familie nennen.

Ich möchte Dana Vowinckel im fernen New York gratulieren zu einem Roman, der politische Aktualität und literarische Tradition zwanglos zu verbinden versteht, der ungeheuer plastische, lebendige Porträts seiner Figuren zeichnet, und der hingebungsvoll dem Rätsel nachspürt, was Familie im Kern eigentlich ist, denn um nichts ringen Dana Vowinckels Figuren so hartnäckig und besessen, wie darum, sich als Familie zu begreifen. Und nicht zuletzt gratuliere ich Ihnen, liebe Dana Vowinckel, zum Buchpreis der Stiftung Ravensburger Verlag. Herzlichen Glückwunsch.

 

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Laudatio auf den Roman “22 Bahnen” von Caroline Wahl

1222 Worte des Lobes zu “22 Bahnen” von Caroline Wahl

Am 13. November 2023 wurde Caroline Wahl in Berlin der Buchpreis für Familienroman der Stiftung Ravensburger verliehen. Es ist das erste Buch dieser Autorin und sie hat damit sofort großen Erfolg sowohl bei den Lesern wie auch bei den Kritikern gehabt. Ein starker literarischer Start. Ich durfte bei der Preisübergabe die Laudatio auf den bemerkenswerten Roman halten.

Liebe Caroline Wahl, sehr verehrte Damen und Herren,

eine Familie kann so groß und weit verzweigt sein, dass Außenstehende versucht sind, von einem Klan oder einer Sippe zu sprechen. Solche Familien wirken stark und gefestigt, selbst wenn hinter den Kulissen heimlich gestritten wird. Es mag archaisch klingen, aber je größer eine Familie ist, desto eher spielt sie in unserem Bewusstsein die Rolle eines Machtfaktors.

Caroline Wahl: "22 Bahnen". Roman . DuMont Buchverlag, 22 Euro

Caroline Wahl: “22 Bahnen”. Roman . DuMont Buchverlag, 22 Euro

Doch wie sieht es mit dem Gegenteil aus? Wie klein kann eine Familie sein, damit sie noch immer zurecht Familie genannt werden kann? Was gehört zum Mindestbestand einer Familie? Vater, Mutter, Kind? Oder weniger normativ gesprochen: Zwei Eltern – gleich welchen Geschlechts – und mindestens ein Kind? Ist das die kleinste Einheit, der wir den Titel Familie zugestehen? Nein, natürlich nicht, selbstverständlich haben auch die oder der Alleinerziehende mit Kind ein Recht auf die Bezeichnung Familie. Und ein Recht auf den Schutz und eine besondere Fürsorge der Gesellschaft.

Caroline Wahl lässt die Frage, wie klein eine Familie sein kann, damit man noch von einer Familie sprechen kann, in ihrem Roman „22 Bahnen“ anklingen. Das Buch handelt von zwei Schwestern, die in einer namenlosen Provinzstadt leben: Tilda ist Anfang zwanzig und Ida zehn Jahre alt. Ihre alleinerziehende Mutter, mit der die beiden unter einem Dach leben, leidet unter Depressionen und schwerer Alkoholabhängigkeit. Die beiden Schwestern nennen sie oft „das Monster“, weil sie den größten Teil ihrer Tage betrunken und halb bewusstlos auf dem Sofa vorm Fernseher verbringt, aber plötzlich aggressiv und handgreiflich werden kann, wenn kein Wein oder Wodka mehr in Haus ist.

Das Urteil der Außenstehenden über diese Konstellation scheint auf der Hand zu liegen: eine zerbrochene, eine dysfunktionale, eine gefährdete Familie – und der Schutz der zehnjährigen Ida vielleicht sogar ein Fall fürs Jugendamt. Doch Tilda sieht das anders. Als sie an einem Sommer-Wochenende allein mit ihrer kleinen Schwester zu einer Wanderung in den nahegelegenen Wäldern aufbricht, fühlt sie sich glänzend, weil ihre Schwester und sie, so sagt Tilda, (Zitat) „jeweils ein fester Teil, die Hälfte von einem Ganzen sind. Wir sind eine Familie. Wir sind ein intakter Organismus, wir funktionieren zusammen. Gestört werden wir nur durch den letzten Teil unserer Familie. (Die Mutter.) Also eigentlich sind wir eine überwiegend intakte Familie. Zu 66,67 Prozent. Wir sind intakte Schwestern. Zu 100 Prozent.“

Wir sind eine Familie, sagt Tilda, wir sind ein intakter Organismus, und damit meint sie ihre Schwester und sich selbst. Tilda ist, das deutet schon ihr althochdeutscher Name an, eine Kämpferin. Sie arbeitet als Kassiererin in einem Supermarkt, um die Familie zu ernähren, und studiert daneben noch Mathematik mit so großem Erfolg, dass ihr Professor ihr eine Promotionsstelle an einer Berliner Universität anbietet. Ihre Tage sind präzise durchgetaktet, sie besucht ihre Seminare, sorgt dafür, dass ihre Schwester etwas zu Essen auf den Tisch bekommt, geht zur Arbeit und gönnt sich am Abend als einzigen Luxus einen Besuch im Schwimmbad. Auch dort liegt sie nicht faul auf dem Handtuch in der Sonne, sondern spult zwischen planschenden Kindern und behaglich paddelnden Erwachsenen in hohem Tempo 22 Bahnen ab. Denn Schwimmen ist für Tilda zweierlei zugleich: Es ist eine Zuflucht, eine monotone, meditative Übung, die alle düsteren Gedanken in ihrem Kopf vorübergehend zum Schweigen bringt, und zugleich ist es ein körperliches Training, das ihr die Kondition verschafft, die sie als Kämpferin dringend braucht.

Denn Tilda ist zwar erst Anfang zwanzig, aber sie will mit aller Kraft ihre Familie zusammenhalten. Natürlich ist das eigentlich die Aufgabe der Eltern, doch der Vater hat eine neue Familie und lässt sich nicht mehr blicken, und die Mutter ist im Dauerdämmer ihrer Sucht versunken. Also übernimmt Tilda diese Aufgabe. Eine Familie ist, wie Tilda es sagt, ein Organismus, und dieser Organismus namens Familie zeigt oft die bemerkenswerte Eigenschaft, das einer seiner Teile besondere Fähigkeiten und Leistungskräfte ausbildet, wenn andere Teile schwächeln, oder gar ihre Funktion aufgeben.

F9dizmXXEAAm4SBDas ist nicht immer gesund, man darf dieses Selbsterhaltungsprinzip des Familien-Organismus nicht romantisieren. Tilda muss viel von sich opfern, damit das Zusammenleben ihrer Kleinstfamilie weiterhin einigermaßen funktioniert. Sie ist rabiat nicht nur der kranken Mutter, sondern auch sich selbst gegenüber. Sie gestattet sich nur wenig von den Freiheiten, den Egoismen oder den Sorglosigkeiten, die gleichaltrige Freundinnen wie selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen. Und natürlich hat das Folgen: Sie ist einsamer, verschlossener, kantiger, abweisender als es für sie gut ist. Als die Kämpferin, die sie ist, hat sie sich eine Rüstung zugelegt – nicht zufällig malt ihre Schwester sie als Ritterin mit Helm und Harnisch. Aber diese Rüstung wird für sie eben auch zu einer Art Zwangsjacke, zu ihrem ganz persönlichen maßgeschneiderten Gefängnis.

Zu den großartigen Qualitäten des Romans „22 Bahnen“ gehört, dass Caroline Wahl die Geschichte der Kämpferin Tilda nicht nur erzählt, sondern gleichsam hörbar macht. Tildas Sprache ist knapp, sie geizt mit Worten. Sie sagt, was sie für richtig hält, nicht mehr oder weniger, und danach schweigt sie. Sie wirkt deshalb schroff und widerborstig. Ihre Leidenschaft für Mathematik scheint auf ihre Kommunikation abgefärbt zu haben: Die Welt der Zahlen kennt keinen small talk, sie kennt nur richtig oder falsch, ohne schmückendes sprachlichen Beiwerk. Von ähnlicher Nüchternheit sind Tildas Sätze.

Doch Tilda ist nicht nüchtern oder kaltherzig, sondern lediglich aufs Wesentliche konzentriert. Und das Wesentliche ist für sie die Schwester, also ihre Familie. Ihre Freundin Melanie, die in einem liebevollen, behütenden Elternhaus aufgewachsen ist, erweist sich diesen Eltern gegenüber als anmaßend und egozentrisch. Tilda, die so viel schlechtere Startbedingungen hat, wächst an den Konflikten, mit denen sie groß geworden ist. Sie will die kleine Ida nicht allein bei der Mutter lassen, und sich deshalb gar nicht erst auf die Promotionsstelle in Berlin bewerben. Ida wiederum will ihrer großen Schwester nicht die Zukunft verbauen und will es deshalb künftig allein mit dem Mutter-Monster aufzunehmen, damit Tilda nach Berlin gehen kann. Beide sind bereit, für den jeweils andere Familienteil viel zu opfern. Ob Ida mit nur zehn Jahren den Aufgaben gewachsen sein kann, die sie auf sich nehmen will, ist die offene Frage, die am Ende des Romans steht.

Caroline Wahls Buch ist in allen seinen Teilen auf das Thema Familie bezogen: Da wird von der Sehnsucht nach einer intakten Familie erzählt, wie Tilda sie bei Ihrer Freundin Melanie erlebt hat, dann von der persönlichen Opferbereitschaft für andere Familienmitglieder und schließlich von dem unsäglichen Schmerz über eine verlorene Familie, den Tilda bei ihrem Freund und Geliebten Viktor kennenlernt, dessen Eltern und Geschwister bei einem Autounfall umgekommen sind. Ganz ohne Ausflüge ins Essayistische, sondern immer aus der Erzählung eines Sommers in einer Provinzstadt heraus, befragt Caroline Wahls Roman das Lebensmodell Familie virtuos nach seinen Glücksversprechen und seinen Abgründen, seinen Freuden und seinen Fesseln, nach den ihm innenwohnenden Potentialen der Stärkung, aber auch der Traumatisierung der Familienmitglieder.

Kommen wir zum Schluss: Caroline Wahl ist eine junge Autorin, „22 Bahnen“ ist ihr erster Roman. Es ist ein Buch von beeindruckender sprachlicher Kraft und Präzision. Sie nutzt geschickt den Jargon der Zeit, aber nicht, wie es klischeehaft heißt, um ihren Generationsgenossen aufs Maul zu schauen, sondern um Literatur daraus zu machen. Sie schreibt einen Schwesternroman, einen sehr zarten, sehr behutsamen Liebesroman, einen Coming-of-age-Roman – alles in einem. Vor allem aber schreibt sie einen Roman, der zeigt, welchen prägenden, unersetzbaren, fördernden, aber auch fordernden, beglückenden ebenso wie gefährdenden oder verletzenden Charakter Familienbeziehungen haben können.

Caroline Wahl ist eine junge Autorin, die einen bemerkenswert reifen Roman geschrieben hat. Liebe Caroline Wahl, ich beglückwünsche Sie zu Ihrem großartigen Buch „22 Bahnen“ und zum Buchpreis der Stiftung Ravensburger 2023.

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Christiane Hoffmann “Alles, was wir nicht erinnern”

Was geschieht, wenn eine Lebensgemeinschaft namens Familie auf die politische Katastrophe namens Krieg trifft?

Das Buch “Alles, was wir nicht erinnern” von Christiane Hoffmann erzählt von der Flucht eines neunjährigen Jungen zu Fuß über 550 Kilometer im Winter 1945. Und von den Folgen, die diese Flucht noch 75 Jahre später für die Familie dieses Jungen hat. Christiane Hoffman wurde für ”Alles, was wir nicht erinnern” mit dem Buchpreis der Stiftung Ravensburger 2022 ausgezeichnet. Hier die Laudatio, die ich auf Buch und Autorin halten durfte.

Liebe Frau Hess-Maier, lieber Herr Hauenstein, sehr geehrter Herr Hess, sehr verehrte Damen und Herren und vor allem sehr verehrte Christiane Hoffmann,

Christiane Hoffmann: "Alles, was wir nicht erinnern".  Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters. Verlag C.H.Beck. 22 Euro

Christiane Hoffmann: “Alles, was wir nicht erinnern”. Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters. Verlag C.H.Beck. 22 Euro

vielleicht ist es das Beste, den wissenschaftlichen Begriff gleich an den Anfang zu stellen, über den man reden muss, sobald man über Christiane Hoffmanns großartiges Buch sprechen will. Christiane Hoffmann beschreibt in „Alles, was wir nicht erinnern“ ein transgenerationelles Familientrauma, ausgelöst durch die Erfahrung einer Flucht über 550 Kilometer im Winter 1945. Mehr noch, das Buch führt dem Leser Diagnose und Therapieversuch dieses generationsübergreifenden Traumas vor. Es schildert eine strapaziöse, gegen innere und äußere Widerstände vorangetriebene Selbstanalyse und dazu den ebenso unorthodoxen wie radikal entschlossenen Versuch, das Trauma so weit möglich zu überwinden.

Das klingt im ersten Moment vielleicht ein wenig nüchtern und nach dem Tonfall eines psychologischen Gutachtes. Aber nichts könnte falscher sein als dieser Eindruck. Christiane Hoffmanns Buch ist von einer solchen emotionalen Wucht, dass es – hier spreche ich aus eigener Erfahrung – dem Leser leicht die Tränen in die Augen treiben kann. Es ist eine literarisch meisterhafte Mischung aus Reportage, Essay und Autobiografie, sprachlich hinreißend, historisch kenntnisreich, politisch hellsichtig und nicht zuletzt von großer, erfahrungsgesättigter Menschlichkeit.

Sicher, Familie ist nicht alles. Aber vielleicht ist ohne Familie alles nichts. Was geschieht eigentlich, wenn nicht ein Einzelner, sondern eine Lebensgemeinschaft namens Familie auf die politische Katastrophe namens Krieg trifft? Christiane Hoffmann nennt die Kriegsfront, die im Winter 45 auf die schlesische Familie Hoffmann in ihrem Heimatdorf Rosenthal zurollt, einen Drachen, dessen Brüllen schon von Weitem zu hören, und dessen heißer Atem von Weitem zu spüren ist. Was passiert, wenn der Drache bei ihnen ankommt? Es beginnt ein seltsamer, ambivalenter Prozess. Die Familie bricht auseinander und rückt zugleich umso näher zusammen.

Christiane Hoffmann und Johannes Hauenstein, der Vorstand der Stiftung Ravensburger Foto: www.heine-foro.de

Christiane Hoffmann und Johannes Hauenstein, der Vorstand der Stiftung Ravensburger Foto: www.heine-foro.de

Sie bricht räumlich auseinander, zwei Söhne, Manfred und Gotthard sind beim Militär, der Vater Herbert muss zum Volkssturm und die Mutter Olga flieht mit Walter, dem neunjährigen Nachzüglersohn, Richtung Westen. Ein behinderter Onkel und die Großmutter schließen sich der Flucht an. Die Familie beginnt sich also in alle Winde zu zerstreuen. Im gleichen Augenblick aber rückt sie emotional zusammen, Hoffnungen, Sorgen, Wünsche richten sich mit ungeahnter Intensität auf die jeweils anderen Familienmitglieder. Das Zusammensein, zuvor eine Selbstverständlichkeit, wird mit einem Mal zur inständig zurückersehnten Lebensutopie.

Aber wenn dann Krieg und Flucht überstanden sind und die Familie wieder zusammengefunden hat, lässt sie der Drache noch lange nicht aus seinen Krallen. Christiane Hoffmann schildert das mit ergreifender Überzeugungskraft. Wie die schlesischen Flüchtlinge im norddeutschen Hamburg-Wedel ein neues, gewöhnungsbedürftiges Zuhause finden. Wie sie glauben wollen, dass mit dem Überlebthaben und dem Wiederzusammensein tatsächlich eine Utopie wahr geworden ist und dabei übersehen, wie sehr jeder von ihnen durch Krieg und Flucht zu einem anderen Menschen geworden ist und wie tief der Drache sie verletzt hat.

Instinktiv tun sie alles, um die überstandene Katastrophe und das, was sie ihnen angetan hat, nicht mehr spüren zu müssen. Sie retten sich ins radikale Vergessen, denn es ist besser, keine Erinnerung zu haben als die Erinnerungen an das Unerträgliche, das sie durchlebt haben. Oder sie retten sich ins Schweigen, in das innere Versteinern, denn es ist besser keine Gefühle zu haben, als die Gefühle, die aus dieser Vergangenheit resultieren könnten. Oder sie retten sich in eine bedingungslose Heiterkeit, in eine immerwährende Freundlichkeit und Zugänglichkeit, mit der sie ihre inneren Spannungen, denen sie nicht gewachsen sind, überdecken können.

Und nun beginnt etwas Gespenstisches. Etwas, das zunächst ganz und gar unbegreiflich wirkt. All diese Erinnerungen, Gefühle, Haltungen, die von den Überlebenden ins Unbewusste abgedrängt wurden, beginnen innerhalb der Familie im Laufe der Jahrzehnte auf das Unbewusste der nachfolgenden Generation abzufärben. Der Flüchtling, der von einem Tag auf den anderen alles verlor, Besitz, Heimat, Sicherheit, Vertrauen, bekommt Jahre nach seiner Flucht Kinder, die ein schwieriges Verhältnis zu Besitz und Heimat entwickeln, die selbst im sichersten sozialen Umfeld eine dumpfe Angst verspüren und denen es schwerfällt, Vertrauen zu fassen, zu was oder wem auch immer.

Christiane Hoffmann liest aus ihrem Buch bei der Preisverleihung Foto: www.heine-foto.de

Christiane Hoffmann liest aus ihrem Buch bei der Preisverleihung Foto: www.heine-foto.de

Christiane Hoffmann findet ein fabelhaftes und doch ganz alltägliches Bild für diese unbeabsichtigte Weitergabe eines Traumas. Die Elterngeneration sitzt am Familientisch und spricht über die Heimat, die sie verloren hat, und die Kinder spielen unter dem Tisch und hören, wie die Stimmen der Eltern einen anderen Klang annehmen, wenn Worte fallen wie Schlesien, wie Krieg, wie Flucht. Denn Kinder besitzen die ans Wunderbare grenzende Fähigkeit, schlichtweg alles an ihren Eltern wahrzunehmen, selbst das, was die Eltern an sich selbst nicht wahrnehmen können. Es ist ein seltsamer, ein beunruhigender Klang in den Stimmen, ein Unterton der abgetöteten Sehnsucht, des unverarbeiteten Schreckens, der verdrängten, weil übermächtigen Angst. Und also setzt sich in den Kindern der Eindruck fest, dass im Leben der Familie eine verborgene Bedrohung lauert, so groß, dass nicht einmal die Eltern sie aussprechen können, die aber immerzu da ist und sie alle verfolgt.

Kein Wunder, wenn das Flüchtlingskind Christiane zu fragen beginnt nach dieser dunkel drohenden Gefahr, nach Krieg und Flucht. Doch ihr Vater kann ihr nur Tatsachen berichten, aber keine emotional befriedigende Antwort geben. Denn die Erinnerungen und Empfindungen, die sein Leben überschatten, hat er so vollständig aus dem Bewusstsein gestrichen, dass er kaum noch etwas davon weiß und buchstäblich nichts mehr davon fühlt. Mit der ausbleibenden Antwort aber vollendet sich die Übergabe des Traumas vom Vater zur Tochter, denn nun kann auch sie keine Auskunft geben über das Unbestimmte, Unbenennbare, Bedrohliche, das sie empfindet.

Die inzwischen zur Journalistin herangewachsene Flüchtlingstochter will sich damit allerdings nicht zufriedengeben. Nach dem Tod des Vaters entscheidet sie sich, das zu erleben, was ihr Vater erlebt, aber nicht verarbeitet hat. Sie beschließt, exakt den 550 Kilometer langen Fluchtweg entlangzuwandern, zu Fuß und allein, den ihr Vater als neunjähriger Junge zurücklegen musste. Sie will spüren, was er spürte, sie will, so gut das mit siebzig Jahren Verspätung geht, bewusst erleben, was er erlebte, aber ins Unbewusste verbannte, weil es zu angsteinflößend war.

Was wir heute in Christiane Hoffmanns Buch über diese 550 Kilometer lesen dürfen, ist also mehr als der abenteuerliche Bericht über eine erschöpfende, kräftezehrende Wanderung durch Ostmitteleuropa. Es ist zugleich die Erzählung einer Reise in das eigene Selbst, in die eigene seelische Verfasstheit, in das von den Eltern ererbte Trauma. Das Buch folgt damit einer Idee, die spätestens seit der Romantik in der deutschen Literatur heimisch wurde „Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg“, heißt es bei Novalis programmatisch. „Die Außenwelt ist die Schattenwelt.“

Und wirken die Folgen transgenerationeller Familientraumata nicht letztlich wie ein Motiv aus einer romantischen Erzählung von, sagen wir, E.T.A.Hoffmann oder von Wilhelm Hauff? Eine Erzählung, in der Eltern Dinge erleben, aber erst ihre Kinder sie zu spüren bekommen? Oder in der Kinder die märchenhafte Fähigkeit haben, aus dem Klang der Stimmen ihre Eltern etwas herauszuhören, was die Eltern selbst längst nicht mehr wissen? Wer lesend die Wanderung von Christiane Hoffmann mitwandert, kann lauter zutiefst romantische Themen entdecken. Und das sollte niemanden überraschen, denn es waren Romantiker wie Jean Paul, die lange vor Freud das Unbewusste entdeckten, in dem es wilder und dunkler zugeht als in den Dschungeln eines unerforschten Kontinents.

Damit hier kein Missverständnis entsteht: Christiane Hoffmanns Buch lässt romantische Motive anklingen. Doch es wirft zugleich einen sehr klaren, rationalen, vorausschauenden Blick auf die politischen Verhältnisse in den ostmitteleuropäischen Landschaften, durch die sie wandert. Geschrieben hat Christiane Hoffmann ihr Buch vor dem 24. Februar 2022, als ein imperialistischer Angriffskrieg mitten in Europa noch als unvorstellbar galt. Aber sie benennt darin bereits eine Menge der Faktoren, die ihn inzwischen haben losbrechen lassen. Und in prophetischer Vorwegnahme sieht sie, auf dem siebzig Jahre alten Fluchtweg ihres Vaters wandernd, schon jene Flüchtlingszüge vor sich, die heute wieder von Osten nach Westen ziehen, die wieder seelische Kriegs- und Fluchtwunden schlagen, die später einmal möglicherweise wieder an nachfolgende Generationen vererbt werden. Ein finsterer, finsterer Staffellauf der Geschichte.

Nahezu alle Menschen, die Christiane Hoffmann auf ihrer Reise auf den Spuren ihres Vaters trifft, sind Flüchtlinge der ersten, der zweiten oder dritten Generation. Die Familien, die heute in Schlesien leben, wurden zuvor von Stalins Sowjetunion aus dem ehemaligen Ostteil Polens vertrieben. Auch diese Familien tragen ihre Traumata durch die Zeiten. Es gehört zu den ergreifenden Aspekten ihres Buches, dass sich bei den Begegnungen zwischen Deutschen und Polen mit Fluchterfahrungen viel eher ein gegenseitiges Mitgefühl einstellt als revanchistische Gelüste. Vielleicht ist das der zarte Schimmer einer Hoffnung, den das Buch vermittelt, trotz all des Dunklen, von dem er berichten muss.

Kommen wir zum Schluss: „Alles, was wir nicht erinnern“ ist eine literarische Familienaufstellung von ergreifender Intensität, ist das grandiose Logbuch einer mutigen Wanderung, ist ein untröstlicher Klagegesang über die Schmerzen vergangener und kommender Kriege und ist nicht zuletzt die hinreißende Liebeserklärung einer Tochter an ihren von seiner Flucht unwiederbringlich versehrten Vater. Liebe Frau Hoffmann, ich gratuliere Ihnen sehr herzlich zu diesem Buch und zum Buchpreis Familienroman der Stiftung Ravensburger.

 

 

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Heiner Müller: “Zahnfäule in Paris”

Das Gedicht an der Wand neben meinem Schreibtisch

Am 30. Dezember 1995, vor 27 Jahren starb Heiner Müller. Ich habe ihn einige Mal getroffen und sein Werk war mir immer wichtig. Als kleine Erinnerung an ihn möchte ich hier die Geschichte eines Gedichts von ihm erzählen, das in Müllers Handschrift neben meinem Schreibtisch hängt. Seit rund 40 Jahren. Und davon, was es mir bedeutet.

­­­Das alles ist fast vierzig Jahre her. Damals war ich Literaturredakteur der FAZ. Die DDR existierte noch und mir fiel der erste Lyrikband eines jungen Mannes aus Ostberlin in die Hände, er hieß Sascha Anderson. In seinen Gedichten kürzte er die Parteizeitung „Neues Deutschland“ mit „eNDe“ ab, listete sämtliche Worte aus Goethes Gedicht „Dämmerung“ penibel alphabetisch auf („dämmerung der der der die die doch durch durchs“) oder brachte die in der Blockkonfrontation festgefahrene Übertrumpfungslogik von Ost und West auf so lapidare Zeilen wie „östwestlicher die wahn“ oder „jeder satellit hat einen killersatelliten“.

Was war das? Eine sprachspielerische Form politischer Kritik? Ein neuer Dadaismus? Eine Punk-Lyrik, die sich über die Ideologien beider Hemisphären lustig machte und über die kniefällige deutsche Goethe-Verehrung gleich mit?

Ich wollte mehr erfahren über diesen Anderson. Also fuhr ich nach Ostberlin, traf ihn in der Pankower Keramikwerkstatt, in der er damals wohnte, und schrieb danach ein Porträt über ihn (siehe F.A.Z. vom 23. Juni 1983). Ich war überrascht: Er sprach kaum über die eigenen Gedichte, er hatte spürbar keine Lust, einem Kritiker seine Qualitäten als Schriftsteller anzupreisen. Stattdessen versuchte er mich zu begeistern für die Lyrik seines Freundes Bert Papenfuß oder die Arbeiten der Malerin Cornelia Schleime. Er wirkte völlig offen und angstfrei, obwohl er davon sprach, von der Stasi „regelmäßig verfolgt, verhört, bedroht“ zu werde – wie ich in meinem Artikel festhielt.

Was er seinen Führungsoffizieren bei diesen Verhören berichtete, sagte er mir natürlich nicht. Seine Enttarnung als Spitzel des Prenzlauer Bergs, der seine engsten Freunde an die Stasi verraten hatte, gelang erst acht Jahre später. Seither scheint auch das Urteil über ihn als Autor gesprochen.

Aus: Heiner Müller: „Die Gedichte“. Werke Band 1. Herausgegeben von Frank Hörnigk. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998. S.216

Aus: Heiner Müller: „Die Gedichte“. Werke Band 1. Herausgegeben von Frank Hörnigk. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998. S.216

Doch damals, 1983, war das alles noch unvorstellbar. In einem Winkel des Keramik-Ateliers entdeckte ich ein mit zwei Reißnägeln an die Wand geheftetes Papier und darauf die Handschrift Heiner Müllers. Es waren die fünf Zeilen von „Zahnfäule in Paris“, signiert mit „HM“. Ich hatte mich davor lange mit Müllers Werk beschäftigt, doch dieses Gedicht kannte ich nicht. Ich war beeindruckt. Anderson merkte das, zog die Reißnägel aus der Wand und schenkte mir das Blatt. Er tat das ohne großes Aufhebens – eine schöne (vielleicht demonstrative?) Probe seiner Freimut.

Seither, seit fast vierzig Jahren hängt das Blatt neben meinem Schreibtisch. Kein Umzug, kein Wechsel der Arbeitszimmer konnte daran etwas ändern. Zugegeben, es ist ein etwas ruppiger lyrischer Lebensbegleiter. Manche Freunde, die davorstehen, um das Gedicht zu entziffern, finden meine Anhänglichkeit – milde formuliert – seltsam.

Schon der Titel lässt keinen Zweifel an der desillusionierenden, einer Ästhetik des Hässlichen verpflichteten Haltung, mit der Müller hier schreibt. Sie erinnert ein wenig an Gottfried Benns Morgue-Gedichte. In der Hochglanzwelt der Zahnpastareklame wird gern der Begriff Karies benutzt und er steht für eine Bagatellerkrankung, die medizinisch problemlos beherrschbar ist. In dem Wort „Zahnfäule“ dagegen klingt deutlich hörbar ein Zersetzungsprozess an, ein körperlicher Zerstörungsvorgang, der sich nicht wieder gut machen lässt.

FT08QXwWQAEnL_cMit der ersten Zeile erweitert Müller diesen Anklang an Verfall und Agonie dann ins Allgemeine. Die Fäulnis frisst nicht nur an den Zähnen, sondern an dem Menschen, an „mir“. Ich verstehe die ersten sieben Worte des Gedichts als denkbar knappes Memento mori: Als eine Vorahnung des Todes, die einen selbst in Paris, der Hauptstadt des Lebensgenusses, einholen kann.

Dann ändert das Gedicht ein wenig die Perspektive. Das „Ich“, das in diesen fünf Zeilen spricht, lenkt den Blick auf sich selbst, auf seine Gewohnheit zu viel zu rauchen und zu trinken. Es konstatiert diese Tatsache so sachlich wie möglich, ohne Ausflucht oder Beschönigung. In der Psychologie wird derartiges Suchtverhalten oft als Hinweis auf verstreckte Neigungen zur Selbstdestruktion, zur Autoaggression verstanden. Oder um es ebenso lapidar wie brutal zu formulieren: Als den uneingestandenen Wunsch, schneller zu sterben.

Tatsächlich war Heiner Müller in der Öffentlichkeit selten anzutreffen ohne zwei ständige Begleiter: die Zigarre und das Whiskyglas. Sein Gedicht arbeitet mit einem typischen Stilmittel der Moderne, dem Schock. Der Schock soll die alltägliche Wahrnehmung für einen Augenblick öffnen für ein Kunsterlebnis, das tiefer ins Bewusstsein eingreift – etwa durch die schmerzhaft zugespitzte Selbsteinschätzung: „Du stirbst zu langsam.“

Für mich ist das Gedicht eine nun bald vierzigjährige Mahnung. Nicht eine zur gesunden Lebensführung. Wohl aber die Aufforderung, auch den verdeckten, unbewussten Motiven des eigenen Handelns auf der Spur zu bleiben.

 

 

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Feinde der Demokratie

Als die Demokratie starb

Vor hundert Jahren wurde der Faschismus erfunden und eroberte Europa. Heute geht eine Welle des Rechtspopulismus um die Welt. Führt sie zu neuen politischen Katastrophen? Ein neues Buch, herausgegeben von dem Historiker Thomas Weber, liefert wichtige Thesen zum Thema.

Die Geburt des Faschismus hätte leicht an schlechtem Wetter scheitern können. Vor hundert Jahren, im Herbst 1922, herrschte Dauerregen in Italien. Felder und Wege versanken im Matsch. Ausgerechnet bei derart garstiger Witterung ließ Benito Mussolini – ein mittelmäßiger Journalist und hochbegabter Demagoge – die Anhänger seiner faschistischen Partei PNF zum „Marsch auf Rom“ antreten.

Mussolini spürte, dass sich die amtierende liberale Regierung Italiens nicht mehr lange würde halten können. Also setzte er die Privatmiliz seiner Partei, die „Squadre d’azione“, in Gang. Es waren Schlägertrupps in schwarzen Hemden, verrohte Ex-Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg, zusammengehalten vor allem durch ihre Feindschaft gegen alle sozialistischen Ideen. Er werde, verkündete Mussolini auf mehreren großen Versammlungen, an der Spitze dieser Männer die Macht in Rom notfalls mit Gewalt an sich reißen.

Thomas Weber (Hg.): "Als die Demokratie starb". Die Machtergreifung der Nationalsozialisten - Geschichte und Gegenwart. Herder Verlag, 22 Euro

Thomas Weber (Hg.): “Als die Demokratie starb”. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten – Geschichte und Gegenwart. Herder Verlag, 22 Euro

Doch dann kam der Regen. Viele Squadristen blieben lieber zu Hause, nur rund die Hälfte setzte sich tatsächlich in Richtung Rom in Bewegung. Und sie stoppten bereits weit vor der Stadt auf durchgeweichten Feldern. Zu nennenswerten Gefechten kam es nicht, gegen die besser ausgerüstete Armee hätten sie kaum eine Chance gehabt. Der faschistische Staatsstreich war im Grunde gescheitert.

Aber schon die bloße Geste der Entschlossenheit reichte aus. Der eingeschüchterte König Viktor Emanuel III. bestellte Mussolini nach Rom, um ihn offiziell mit der Regierungsbildung zu betrauen. Mussolini hatte aber an dem nasskalten Marsch seiner Leute quer durch Italien gar nicht teilgenommen. Er musste in aller Eile mit dem Nachtzug aus Mailand herbeigeschafft werden. In einem Hotel zog er rasch die Uniform und das schwarze Hemd seiner Squadristen über, stürmte in die Arbeitsräume des Königs und rief ihm zu: „Majestät, ich komme von den Schlachtfeldern!“ Heute würde man das wohl Fake News nennen.

Mussolinis erstaunlich leicht errungener Triumph wurde Vorbild und Ansporn für politische Abenteurer in ganz Europa. Nur ein Jahr nach dem Erfolg des Italieners planten ein abgehalfterter General und ein Österreicher in München, die deutsche Regierung durch einen „Marsch auf Berlin“ zu stürzen. Der Putschversuch scheiterte beim ersten Feuergefecht. Der General kam straflos davon, der Österreicher wurde nach einem Dreivierteljahr Haft wegen guter Führung wieder auf freien Fuß gesetzt. Sein Name war Adolf Hitler.

Ausgehend von Mussolinis Sieg über die Demokratie begann sich die politische Landkarte Europas in den 1920er und 1930er Jahren radikal zu verändern. Diktatoren brachten ein Land nach dem anderen in ihre Gewalt. Nicht alle waren Faschisten. Stalin zum Beispiel errichtete in der Sowjetunion nach und nach seine linke Terrorherrschaft. Und lieferte damit das Schreckbild eines mörderischen kommunistischen Regimes, das die rechtsextremen Bewegungen brauchten, um sich im restlichen Europa propagandistisch gegen die Linke durchzusetzen.

Hundert Jahre nach Mussolinis Sieg und neunzig Jahre nach Hitlers Machtübernahme am 30. Januar 1933 legen nun der deutsche Historiker Thomas Weber und einige seiner Fachkollegen eine neue Analyse dieser Zeitenwende vor in dem Buch „Als die Demokratie starb“ (Herder Verlag, 22 Euro). Das Buch ist nicht zuletzt deshalb brisant, weil derzeit eine überraschend ähnliche Welle von populistischen Bewegungen Europa und Amerika überschwemmt und die liberale Demokratie aus den Angeln zu heben droht. Stehen wir vor einem erneuten Siegeszug rechter oder linker Diktaturen, der seinerzeit die Welt in den blutigsten aller Kriege stürzte?

Die Bilanz vor hundert Jahren war erschütternd. Niall Ferguson, Historiker von Weltruf, führt in Webers Buch das politische Schreckenspanorama jener Zeit vor. Nicht nur Italien, Deutschland, Österreich und das Spanien Francos huldigten binnen weniger Jahre faschistischen bzw. nationalsozialistischen Führern. Auch in Albanien, Jugoslawien, Griechenland, Litauen und Rumänien kamen Diktatoren an die Macht. Kemal Atatürk errichtete in der Türkei praktisch einen Einparteienstaat, António de Oliveira Salazar tat es ihm in Portugal nach. Karlis Ulmanis schaffte das Parlament in Lettland ab und Konstantin Päts beförderte sich per Dekret zum „Beschützer“ Estlands. In Polen regierte Jósef Piłsudski und in Ungarn Miklôs Horthy quasi unumschränkt. Es war ein Massensterben der Demokratien.

Natürlich bestand jeder der Diktatoren darauf, unverwechselbar zu sein, geboren aus den nationalistischen Traditionen seines Landes. Doch das Erscheinungsbild ihrer Herrschaft war jedes Mal nahezu dasselbe: Das Militär rückte in den Mittelpunkt der Politik, Parteimilizen kontrollierten und terrorisierten die Bevölkerung. Das zivile Leben wurde abgelöst von Inszenierungen totaler Macht. Oder wie Niall Ferguson schreibt, überall „die farbigen Hemden, die glänzenden Stiefel, die martialische Musik, die stolzierenden Führer, die gewalttätigen Banden“.

Denn das hatten seine Nachahmer von Mussolini gelernt: Der Faschismus braucht Demagogie und aggressive Show, aber kein politisches Programm. Es ging um die Macht nur um der Macht Willen. Mussolini hatte so gut wie keine Überzeugungen. Zu Anfang seiner Karriere war er ein militanter Atheist, später umarmte er bereitwillig jeden Bischof, der seine Parteifähnchen segnete. Es gibt keine verbindliche faschistische Ideologie. Francos Falangisten in Spanien waren streng katholisch, die Nazis dagegen kirchenfeindlich. Hitlers Hass auf die Juden war grenzenlos, andere Diktatoren waren in diesem Punkt gelassener.

Umberto Eco: "Der ewige Faschismus". Übersetzung: Burkhart Kroeber. Hanser Verlag, 10 Euro

Umberto Eco: “Der ewige Faschismus”. Übersetzung: Burkhart Kroeber. Hanser Verlag, 10 Euro

Schon deshalb ist es bis heute schwer, präzise zu definieren, was mit dem Begriff Faschismus gemeint ist. Hitler und Mussolini führten – wie Putin heute – imperialistische Angriffskriege, Franco in Spanien und Salazar in Portugal ließen davon die Finger. Mussolini entschied nach Tageslaune, ob er für oder gegen seinen König arbeitete. Hitler dagegen ließ, wie Thomas Weber schreibt, den ehemaligen Kronprinz Wilhelm von Preußen „wie eine heiße Kartoffel fallen“, sobald er dessen Unterstützung nicht mehr brauchte.

Umberto Eco, der lange den Mythen der Faschisten nachforschte, hat einmal die wichtigsten Zutaten zusammengetragen, aus denen die Ursuppe des Faschismus gekocht wird. Zu ihnen zählt der Kult um die nationale Überlieferung und die wütende Forderung, alles solle gefälligst so bleiben, wie es angeblich einmal war. Ebenso die Ablehnung der Moderne mit ihrer Freude am kritischen Denken und an einer Vielfalt der Lebensmodelle. Aus diesen Voraussetzungen folgt fast zwangsläufig eine Neigung zur Fremdenfeindlichkeit und zum völkischen Denken, das dem eigenen Volk immer eine herausgehobene, besonders edle Rolle in der Geschichte zubilligt. Auch die Verachtung des Intellektuellen und der komplizierten parlamentarischen Politik gehören dazu. Genauso wie ein kriegerischer Machismo und der Appell an eine verunsicherte Mittelschicht, die sich vom sozialen Abstieg bedroht fühlt.

Weil sich nicht bei jeder rechtsradikalen Bewegung alle diese Elemente mit unbestreitbarer Präzision nachweisen lassen, erheben manche Experten Einspruch, wenn solche Bewegungen heute als faschistisch bezeichnet werden. Mal vermissen sie bei den entsprechenden Gruppierungen den Personenkult, mit dem sich Hitler oder Mussolini schmückten, mal deren kriegerischer Militarismus. Um derartigen Einwänden zuvorzukommen, wählte Joe Biden kürzlich für einige der ultrarechten Fanatiker unter den Republikaner das Wort „Halbfaschisten“. Aber letztlich wirkt solche Begriffsklauberei lächerlich angesichts der Wucht, mit der rechtspopulistische Parteien die politische Weltkarte binnen weniger Jahre verändert haben.

Die Strategie, mit der die liberale Demokratie in den verschiedenen Ländern angegriffen wird, ist immer die gleiche. Bekämpft wird vor allem die Unabhängigkeit der Gerichte, die über die Erhaltung des Rechtsstaats wachen, und die Freiheit der Medien, die den Bürgern ein unerwünschtes Bild vom Zustand der Gesellschaft vermitteln könnten. Die Machthaber Ungarns, Polens und der Türkei sind auf diesem Wege schon weit vorangekommen. Sie haben die Demokratie ihrer Länder so gründlich ausgehöhlt, dass fast nur noch Fassaden stehen geblieben sind.

In Italien ist jetzt mit Giorgia Meloni eine alte Mussolini-Verehrerin Ministerpräsidentin geworden. Praktischerweise steht ihr Silvio Berlusconi zur Seite, der ihr als Besitzer verschiedener TV-Sender und Verlage seine erhebliche Medien-Macht zur Verfügung stellt. Die neue liberalkonservative Minderheitsregierung in Schweden kann sich nur im Amt halten, weil die einst von Neonazis mitbegründete Partei der Schwedendemokraten sie unterstützt und ihr im Gegenzug zentrale Teile der Regierungsagenda vorschreibt.

Herfried Münkler: "Die Zukunft der Demokratie". Brandstetter Verlag, 20 Euro

Herfried Münkler: “Die Zukunft der Demokratie”. Brandstetter Verlag, 20 Euro

Aber auch ohne aktuelle Regierungsbeteiligungen ist der Einfluss rechtspopulistischer Bewegungen inzwischen erschreckend hoch. Die FPÖ in Österreich, Marine Le Pens Sammlungsbewegung in Frankreich, die SVP in der Schweiz, die Folkeparti in Dänemark, die PS in Finnland waren oder sind bereits in führenden Positionen in den Landes- bzw. Regionalparlamenten vertreten. Vor allem bei ihrem Lieblingsthema, der Migrations- und Zuwanderungspolitik, haben sie längst entscheidende Weichen gestellt.

Während des Siegeszugs des Faschismus vor hundert Jahren zeigten sich zwei der ältesten Demokratien der Welt als besonders widerstandsfähig: Großbritannien und USA. Heute hat der nationalistische Populismus auch dort tiefe Spuren hinterlassen. Das macht die gegenwärtige Lage besonders beunruhigend. Der Vertrauensverlust in die demokratischen Institutionen ist in diesen Ländern durch die offenkundigen Lügen beim Brexit-Referendum oder über angeblich gefälschte Wahlergebnisse in USA inzwischen mit Händen zu greifen.

Donald Trump folgte, schreibt die Historikerin Marla Stone in Thomas Webers Buch, im Wahlkampf 2020 einer Strategie, die zum „Standardwerkzeug“ des Faschismus gehört. Zunächst bezeichnete er seine politischen Gegner als Feinde des Volkes, die das Land an einen zerstörerischen Kommunismus ausliefern wollten. Zudem befeuerte er Straßenkämpfe am Rand von Demonstrationen und ließ bewaffneten Milizen wie den Proud Boys oder den Oath Keepers Signale der Ermutigung zukommen. Dann kündigte er an, die Antifa zur terroristischen Organisation zu erklären. Da es aber in Amerika keine organisierte Antifa gibt, blieb offen, auf wen die unspezifische Ankündigung zielte und stellte damit letztlich jeden Gegner Trumps unter Terrorismusverdacht. Schließlich schickte er Bundestruppen in Städte, die von Demokraten geführt wurden, um das „amerikanische Volk“ vor „extremistischen Politikern“ zu schützen. Die Kampagne gipfelte im Sturm auf das Kapitol am 6. Januar.

Am deutlichsten aber lässt sich die Nähe zu faschistischen Traditionen in Putins Russland beobachten: der imperialistische Machtanspruch, die brutale Unterdrückung jeder Opposition, der Personenkult um den großen Anführer, der Hass auf Minderheiten, das Denken in Kategorien des Angriffskriegs. Wenn die AfD trotzdem (oder gerade deshalb) an ihrer Sympathie für Putin festhält, muss das niemanden wundern. Warum ihn aber einige Politiker der deutschen Linken um jeden Preis für einen vertrauenswürdigen Verhandlungspartner halten wollen, bleibt ein Rätsel.

Die große Welle des Faschismus in den 1930er Jahren folgte auf das Elend der Weltwirtschaftskrise vom Herbst 1929. Das schien heutzutage lange eine gewisse Gelassenheit zu rechtfertigen. Denn der Wohlstand und die Hochkonjunktur der vergangenen Jahrzehnte galt als die wirkungsvollste Versicherung gegen vergleichbare politische Katastrophen. Doch mit Corona, Klimakrise, Rekordinflation und dem Krieg in der Ukraine mehren sich die Anzeichen, die für eine ernste wirtschaftliche Talfahrt sprechen. Wie groß die Widerstandskräfte der liberalen Demokratie in einer Zeit wachsender Engpässe oder sogar echter Not sein werden, ist schwer abzusehen.

Es gibt allerdings auch Gründe zur Hoffnung, die man nicht übersehen darf. Einen offensichtlichen, aber oft unbeachteten Grund benennt der Politologe Herfried Münkler in seinem neuen Buch „Die Zukunft der Demokratie“ (Brandstätter, 20 Euro). Ein „nicht zu unterschätzender Unterschied des Heute gegenüber dem Damals“ besteht nämlich darin, „dass uns die Vergangenheit als ein politisches Warn- und Stoppschild vor Augen steht“. Im Gegensatz zu unseren Vorfahren wissen wir um einige der möglichen Gefahren. Es kommt allerdings darauf an, diese historischen Lehren auch tatsächlich ernst zu nehmen.

Die Geschichte kennt keine unabänderlichen Abläufe. Die wachsende Neigung einiger Wählergruppen zu autoritären Politikern muss in Verknüpfung mit einer schweren Wirtschaftskrise nicht zwangsläufig im Faschismus münden. In den frühen 1930er Jahren war neben Deutschland keine andere Industrienation so stark durch die „Great Depression“ betroffen wie die USA. Die Löhne halbierten sich, die Arbeitslosenquote stieg auf 25 Prozent, Millionen Menschen hatten buchstäblich nichts zu essen.

Auch Präsident Franklin D. Roosevelt forderte bei seinem Machtübernahme 1933 weitreichende politische Vollmachten – so wie Hitler fast zeitgleich in Berlin mit seinem Ermächtigungsgesetz. Doch Roosevelts autoritäre Entscheidungsfreiheit wurde vom Parlament, wie Niall Ferguson zeigt, ausschließlich auf wirtschaftliche Maßnahmen beschränkt. Die Bürgerrechte, die Hitler schon vier Wochen nach seinem Antritt als Kanzler per Notverordnung beseitigte, blieben in Amerika unangetastet. Damit bewahrte sich Amerika seine Demokratie, während sich in Deutschland das Tor zu einer der abscheulichsten Diktaturen der Geschichte öffnete.

Aktuell gibt es noch andere Hoffnungszeichen. In Brasilien wurde der Rechtspopulist Bolsonaro abgewählt. Aber ob das Land unter dem Linkspopulisten Lula da Silva demokratisch stabil bleibt, muss man abwarten. Bei den Zwischenwahlen in den USA fand der erwartete Triumph der republikanischen Politiker von Trumps Gnaden nicht statt. In Großbritannien scheint nach Boris Johnson und Liz Truss wieder spürbar mehr angelsächsische Rationalität in die Politik zurückzukehren. Und die deutsche Demokratie zeigt sich zunehmend kämpferisch, wie jüngst die Razzia gegen ein Netzwerk von Reichsbürger belegt, die mutmaßlich einen Staatsstreich geplant haben.

Vor allem aber: Vor hundert Jahren gab es weder EU noch NATO. Die einzige nennenswerte übernationale Organisation war damals der Völkerbund. Doch der konnte nie einen stärkeren politischen Einfluss entfalten, schon weil die USA ihm nicht angehörten. Es bleibt die Hoffnung, dass ein demokratischer Staatenverbund wie die Europäische Union auch der Demokratie in den einzelnen Mitgliedsstaaten mehr Stabilität verschafft. Es ist kein Zufall, dass die rechtspopulistischen Parteien in allen Ländern zu den Verächtern der EU zählen – und nicht wenige den Austritt aus der Staatengemeinschaft fordern.

Der Kampf um die liberale Demokratie wird nicht einfach werden. Wer sie verteidigen will, kann das nicht von alten Komfortzonen aus tun. Es gibt gute Chancen sie zu schützen. Aber sie müssen auch genutzt werden. Und zwar jetzt. Der Schriftsteller Erich Kästner, der die Diktatur der Nationalsozialisten sehr genau kennen gelernt hatte, sagte einmal nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs: „Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf. Sie ruht erst, wenn sie alles unter sich begraben hat. Das ist die Lehre, das ist das Fazit dessen, was uns 1933 widerfuhr. Das ist der Schluss, den wir aus unseren Erfahrungen ziehen müssen … Drohende Diktaturen lassen sich nur bekämpfen, ehe sie die Macht übernommen haben.“

Der Artikel erschien zuerst in “Focus” vom 10. Dezember 2022 und in schwedischer Übersetzung in “Dagens Nyheter” vom 20. Dezember 2022

 

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Verspäteter verfrühter Nachruf auf Hans Magnus Enzensberger

Nicht nur Bücher haben ihre Schicksale, manchmal haben sogar Zeitungsartikel so etwas wie ein Schicksal. Den folgenden Nachruf auf Hans Magnus Enzensberger habe ich im Jahr 2010 gechrieben, also rund zwölf Jahre zu früh. Es war ein Artikel auf Vorrat – Zeitungsredaktionen möchten gern für alles gerüstet sein, und Nachrufe auf bedeutende Persönlichkeiten jenseits des achtizigsten Geburtstags werden vorab geschrieben, und für den Fall der Fälle bereit gehalten.

Stefan Moses: Hans Magnus Enzensberger. Eine Hommage. Verlag Schirmer & Mosel, 29,80 Euro

Stefan Moses: Hans Magnus Enzensberger. Eine Hommage. Verlag Schirmer & Mosel, 29,80 Euro

Diesen Nachruf habe ich nach seiner Fertigstellung aber per Email nicht an die Redaktion geschickt, für die ich damals arbeitete, sondern zunächst irrtümlicherweise an einen freundlichen Cousin. Erst als er mich auf dieses Fehler aufmerksam machte, habe ich ihn dann in die richtigen Hände leiten können. Als jetzt, zwölf Jahre später, HME bedauerlicherweise tatsächlich gestorben ist, hatte ich den Artikel längst vergessen – und die Redaktion, für die ich ihn damals geschrieben habe, offensichtlich auch. Jedenfalls wurde er vergangene Woche nicht gedruckt. Und wieder war es jetzt der freundliche Cousin, er heißt Michael, der mich an den Nachruf auf einen von mir hochgeschätzten Schriftsteller erinnerte und ihn mir noch einmal zuschickte.

Und als wäre das für einen Zeitungsartikel noch nicht Schicksal genug, landete Michaels aktuelle Email samt HME-Nachruf in meinem Spam-Ordner, wo ich sie erst jetzt, mit einigen Tagen Verspätung, gefunden habe. Damit bietet sich mir die einmalige Gelegenheit, hier einen zwölf Jahre verfrüht geschriebenen Nachruf mit einigen Tagen Verspätung zu veröffentlichen.

Hans MAGNUS Enzensberger

Ein Nachruf

Er war nie so recht zu fassen. Und er hat zeitlebens großen Wert darauf gelegt, immer ein wenig unfassbar zu bleiben. Wenn es eines Beweises bedürfte, dass Dichter und Denker keine Betongießer sind, denen alles unter den Händen zu toter, wandlungsloser Unverrückbarkeit erstarrt, dann wäre Hans Magnus Enzensberger ein schlagendes Beispiel. Er hatte viel zu viele Talente und Interessen, war viel zu erfahrungsgierig und abenteuerlustig, als dass er ein Leben ohne Metamorphosen hätte leben können. Sein Freund, der schwedische Schriftsteller Lars Gustafsson sprach einmal davon, dass Enzensberger über ein ganzes Bündel von Persönlichkeiten verfüge, die jeweils einzeln, aber auch alle zusammen auf den Namen Enzensberger hörten.

Hans Magnus Enzensberger: "Der Untergang der Titanic". Eine Komödie. Suhrkamp Verlag,  8 Euro

Hans Magnus Enzensberger: “Der Untergang der Titanic”. Eine Komödie. Suhrkamp Verlag, 8 Euro

Seine Gegner haben ihm das oft übel genommen. Sie nannten ihn unzuverlässig und flatterhaft, nannten ihn einen Hans Dampf in allen Gassen des Zeitgeists oder schärfer noch: einen Renegaten und Verräter, weil er mancher linken Idee, die er in den wilden sechziger Jahren propagierte, bald darauf achselzuckend den Rücken kehrte. Doch das beunruhigte ihn augenscheinlich wenig. Seit er 1945 als fünfzehnzehnjähriger Volkssturmknabe von gewissenlosen Befehlshabern losgeschickt wurde, um amerikanische Panzer aufzuhalten, hatte er ein für allemal begriffen, dass auf getreuer Pflichterfüllung weit weniger Segen ruhen kann als auf kühn geplanter Desertion.

Sein Aufstieg im Literaturbetrieb der noch jungen Bundesrepublik ist bis heute nahezu beispiellos: 1957 erschien sein erstes Buch, der Lyrikband „Verteidigung der Wölfe“ und bereits 1963, mit nur 33 Jahren, erhielt er den Büchnerpreis, die höchste literarische Auszeichnung, die das Land zu vergeben hat. In der kurzen Zeit dazwischen hatte er zwei weitere Gedichtbände publiziert, Essays zum Neckermann-Katalog, zur Sprache des „Spiegels“, zum Film und zur FAZ veröffentlicht, mit denen er sich als fulminanter Medienkritiker erwies und erste Aufsätze zu „Politik und Verbrechen“ (1964) geschrieben, die ihn in einen politologischen Disput mit der in USA lehrenden Philosophin Hannah Arendt verstrickten. Er war ein literarischer Shooting-Star von europäischem Format, kein Poet in weltferner Klause, sondern ein „Luftwesen“, wie Dichterkollege Peter Rühmkorf ihn beschrieb, immer unterwegs zu „dringenden Terminen, Verabredungen auf Flugplätzen, Besprechungen in Hotel-Lobbys, Projektkonferenzen für alle Medien und auf allen Wellenlängen.“

Enzensberger schien den von den Nazis abgebrochenen Kontakt der deutschen Literatur zu den Debatten der Weltkultur eigenhändig und im Alleingang wiederherstellen zu wollen. Mit seinem 16-sprachigen „Museum der modernen Poesie“ (1960) präsentierte er die Meisterleistungen der lyrischen Moderne einem damit weitgehend unvertrauten deutschen Publikum. Im Nachwort allerdings verkündete er dann das Ende der Moderne und den Beginn einer Nach-Moderne: Man kann diesen Essay als das weltweit erste präzise argumentierende Manifest der literarischen Postmoderne betrachten – erschienen wenige Monate nachdem der Begriff in Amerika geboren und Jahrzehnte bevor er dann in Deutschland endlich diskutiert wurde.

Wenn zunächst niemand seine Gedanken aufgriff, wie in diesem Fall, weil er den Zeitgenossen meilenweit voranstürmte, verbiss sich Enzensberger nicht in sein Thema, sondern wandte sich munter dem nächsten zu. Er trug wie kaum ein anderer deutsche Schriftsteller zur Politisierung der sechziger Jahre bei. Seine 1965 gegründete Zeitschrift „Kursbuch“ erreichte Schwindel erregende Auflagen und wurde zum intellektuellen Orientierungsmittel einer rebellierenden Generation. Um den Einfluss, über den er damals verfügte, dürften ihn nicht nur Schriftsteller, sondern selbst Politiker beneidet haben.

Hans Magnus Enzensberger: "Politik und Verbrechen". Neun Beiträge. Suhrkamp Verlag. 14 Euro

Hans Magnus Enzensberger: “Politik und Verbrechen”. Neun Beiträge. Suhrkamp Verlag. 14 Euro

Dennoch bezeichnet diese Zeit nicht nur einen Höhe-, sondern zugleich den Tiefpunkt seiner Karriere. Mitgerissen vom scheinrevolutionären Schwung ließ sich Enzensberger, der Ironiker und Feind jedes politischen Romantizismus, zu Thesen verführen, die sich nur durch zeitweilige Bewusstseinstrübung erklären lassen. 1968 bricht er einen Aufenthalt an einer amerikanischen Universität ab, weil ihn die in den Vietnamkrieg verstrickten USA „an die deutsche Situation in den dreißiger Jahren“ erinnern, also an den sich anbahnenden oder bereits etablierten Nationalsozialismus. Stattdessen reist er für einige Monate in das Kuba Fidel Castros, um unter Palmen beim Aufbau des Sozialismus zu helfen.

Doch Kehrtwendungen waren nie Enzensbergers Problem. „Wahrheit“, schrieb er einmal, „ist die permanente Revision.“ Sein kubanischer Abstecher heilte ihn von politischen Illusionen. Hatte man in der Vergangenheit gelegentlich den Eindruck, er mache der Realität im Namen der Ideale den Prozess, so begann er nun noch konsequenter als zuvor die Ideale an der Realität zu messen und viele davon für unbrauchbar zu erklären. „Manchmal gefallen mir meine eigenen Essays nicht mehr“, sagte er damals, „weil sie in dieser Tradition der Rechthaberei stehen.“

Was daraufhin folgte, klang nicht selten wie eine groß angelegte Verteidigung der von Intellektuellen so gern verachteten braven Bundesrepublik. Enzensberger verabschiedete sich geschichtsphilosophischen Gewissheiten, die so oft in Totalitarismus und Terror endeten und entdeckte die Geschichte als kontingenten, vom Zufall abhängigen Prozess. Also predigte er die Weisheit eines von Ideologien unbeschwerten politischen Sichdurchwurschtelns. Er war in bester liberaler Tradition nie ein Freund starker Staatsgewalt gewesen, sondern immer ein Verfechter der Selbstorganisation der „Leute“ und hatte auch linke Ideen immer an diesem Ziel gemessen. Nun aber ging er soweit, ein – nur leise ironisches – Loblied auf die unermüdliche Strebsamkeit und den Common Sense des Kleinbürgertums anzustimmen.

Hans Magnus Enzensberger: "Gedichte 1950 - 2020". Suhrkamp Verlag, 14 Euro

Hans Magnus Enzensberger: “Gedichte 1950 – 2020″. Suhrkamp Verlag, 14 Euro

Weiter konnte er sich vom Avantgardedenken seiner frühen Jahre, das gelegentlich mehr als nur einen Anflug von Massenverachtung zeigte, nicht entfernen. Dass er auch damit seiner Zeit weit voraus war, belegt der Misserfolg seines Journals „TransAtlantik“. Ein grandioses Essay- und Reportagemagazin, das einige der klügsten deutschen und internationalen Schreiber auf Hochglanzseiten vereinte und alte linke Weggefährten schon mit dem Untertitel „Journal des Luxus und der Moden“ provozierte. Doch der deutsche Literaturbetrieb war auf eine derart selbstbewusste Rückkehr bürgerlicher Lebens- und Lesekultur noch nicht vorbereitet und so gab Enzensberger die Zeitschrift 1982 nach nur zwei Jahren wieder auf.

Angesichts der Ruhelosigkeit und Nervosität seines Denkens, ist die Entwicklungslosigkeit der Lyrik Enzensbergers umso auffälliger. Auch wenn sich seine Themenschwerpunkte gelegentlich verschoben, ist er sich als Dichter zumindest in formaler Hinsicht jahrzehntelang auffällig treu geblieben. Schon für seine ersten Gedichte Mitte der fünfziger Jahre bevorzugte er vor allem reimlose, freirhythmische Verse und mied die traditionellen strengen Gedichtformen. Bis zu seinen letzten Bänden hat sich daran nichts geändert. Enzensberger schöpfte das Sprachmaterial seiner Poesie aus dem Umgangsdeutsch, das den Geist der Zeit und der Zeitgenossen zuverlässig einfängt und liebte es, abgenutzte Phrasen in neue, überraschende Zusammenhänge zu rücken, um sie den Lesern in flirrend Frische neu vor Augen treten zu lassen.

Enzensberger verband all das mit der Schärfe seines Intellekts, der Aggressivität seines politischen Urteils, aber auch seiner tänzelnd ironischen Lebenshaltung zu einem unverkennbaren Ton, der mal schneidend streng werden konnte, mal melancholisch oder auch federnd leicht, doch nie sich in raunende Dunkelheit verlor. In seiner Lyrik klingt immer wieder eine Wunschvorstellung an, die er als politisch unerledigte Aufgabe betrachtete: Eine lebenswerte Welt für souveräne Individuen. In „Utopia“, einem seiner frühesten Gedichte, heißt es: „Die Liebe / wird polizeilich gestattet, / ausgerufen wird eine Amnestie / für die Sager der Wahrheit. / Die Bäcker schenken Semmeln / den Musikanten. Die Schmiede beschlagen mit Eisernen Kreuzen / die Esel. Wie eine Meuterei / bricht das Glück, wie ein Löwe aus.“

 

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Lobrede auf Sven Regener

Die Weltherrschaft ist nicht wichtig im Café Einfall

Am 1. September erhielt Sven Regener den Sondermann-Preis 2022 für komische Kunst und Literatur. Die Auszeichnung wird gern der “Oscar” der komischen Kunst in Deutschland genannt. Die Verleihung fand ein einer vom Sondermann-Verein ausgerichteten Gala im Club “Zoom” in Frankfurt statt. Ich durfte Sven Regener in einer kleinen Laudatio feiern. Hier ist sie:

Sven Regener: "Herr Lehmann". Roman. Goldmann Verlag, 9,99 Euro

Sven Regener: “Herr Lehmann”. Roman. Goldmann Verlag, 9,99 Euro

Verehrtes Publikum, haben sie schon mal versucht, einen Roman von Sven Regener nachzuerzählen?  Das ist verdammt schwierig, vielleicht sogar unmöglich. Denn Regener erzählt nicht eine Geschichte, sondern gleich einen ganzen Haufen Geschichten, die sich parallel entwickeln, miteinander verschlingen, nach allen Seiten fortwuchern und zu unabsehbarer Größe heranwachsen. Kurz, Regener ist gar kein Romancier, sondern ein Epiker. Und sein ungeheurer epischer Erzähl-Kosmos blüht und gedeiht seit jetzt über 20 Jahren in den paar Straßen zwischen Görlitzer Park und Kottbusser Tor und zeichnet ein großartiges Porträt der achtziger Jahre.

Wenn sie mich, verehrtes Publikum, nun fragten, was denn der Unterschied ist zwischen einem handelsüblichen Roman und einem fabelhaften Sven-Regener-Epos, dann gestehe ich sofort, dass ich keine Ahnung habe und erst recht keine Definition. Aber ich erkenne ein Epos, wenn ich eines lese.

Sven Regener: "Der kleine Bruder". Roman. Goldmann Verlag. 9,99 Euro

Sven Regener: “Der kleine Bruder”. Roman. Goldmann Verlag. 9,99 Euro

Zugegeben, Berlin-Kreuzberg ist nicht Mittelerde und Regeners Held Frank Lehmann kein Herr der Ringe. Aber wer glaubt, als Herr des Bieres im Café Einfall sei Frank Lehmann kein Mann von maßloser Macht, der hat noch nie durstig an einer Theke gesessen. Und zugegeben, Frank Lehmann ist nicht der kleine Hobbit, aber auch als der kleine Bruder ist er in endlose Kämpfe verstrickt. Bei diesen Kämpfen geht es nicht darum, Sauron die Weltherrschaft zu entreißen, sondern um etwas, dass in den achtziger Jahren noch viel wichtiger war als Weltherrschaft, nämlich die sogenannte Selbstverwirklichung.

Ein großer Teil der Komik von Sven Regeners Alltags-Epos rührt, so kommt es mir vor, her von dem inständigen Wunsch der Bewohner Kreuzbergs, haargenau als derjenige oder diejenige anerkannt zu werden, als der oder die sie gesehen werden wollen. Man merkt das nicht zuletzt beim Umgang mit ihren Namen. Frank Lehmann möchte um jeden Preis Frank sein, nicht Herr Lehmann und schon gar nicht Frankie. Karl Schmitt möchte auf keinen Fall Charlie genannt werden. Peter von Immel will unbedingt P.Immel sein. Susi möchte Kerstin heißen. Und H.R. will niemals Heinz-Rüdiger gerufen werden – was ich gut verstehen kann.

Sven Regener: "Wiener Strasse". Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch. 12 Euro

Sven Regener: “Wiener Strasse”. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch. 12 Euro

Sven Regener hat Kreuzberg nicht nur ein Denkmal gesetzt, er hat es in unser Denken hineinversetzt. Oscar Wilde hat einmal gesagt, das 19. Jahrhundert sei, so wie wir es kennen, im Wesentlichen eine Erfindung von Balzac. Kreuzberg ist, so wie wir es heute kennen, eine Erfindung von Sven Regener. Und der Sondermann-Preis ist dafür die angemessene, längst überfällige Anerkennung.

Vielen Dank!

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Hans Christoph Buch “Nächtliche Geräusche im Dschungel”

Wie man sich das eigene Bild von der Welt macht

Nicht reden, sondern reisen – der Schriftsteller und Abenteurer Hans Christoph Buch veröffentlicht seine postkolonialen Notizen / Von Uwe Wittstock

Hans Christoph Buch gehört zu den meistgereisten Schriftstellern Deutschlands. Er ist Abenteurer, Reporter, Forschungsreisender und Autor in einem. Es gibt weltweit kaum einen Krisenherd der letzten dreißig Jahre, den er nicht besucht hat. Er will sich sein Bild von der Welt nicht nach Aktenlage machen, sondern durch eigene Anschauung.

Hans Christoph Buch: "Nächtliche Geräusche im Dschungel". Transit-Verlag. 20 Euro

Hans Christoph Buch: “Nächtliche Geräusche im Dschungel”. Transit-Verlag. 20 Euro

„Es gibt“, hat er in seinem erschütternden Reportagebuch „Blut im Schuh“ geschrieben, „existentielle Herausforderungen, denen ein Autor sich stellen muss, wenn er etwas über sich und die ihn umgebende Welt herausfinden will, was er nicht schon vorher gewusst hat. Ich rede von Grenzsituationen wie Geburt und Tod, Gefängnis und Exil, Folter und Krieg, die man, weil die Einfühlung versagt, nicht zu Hause am Schreibtisch nachvollziehen kann.“

Er war in Tschetschenien, als die Russen Grosny zerbombten wie jetzt Mariupol in der Ukraine, er war bei den Rebellen in Dafur, die bei 50 Grad ohne Schatten gegen die Milizen des Sudans kämpften, er musste in Osttimor mitansehen, wie zehn aneinandergekettete Menschen mit Benzin übergossen und verbrannt wurden, hat den Bürgerkrieg im Kosovo beobachtet und die Leichenfelder Kambodschas oder Ruandas gesehen, wo beim Völkermord der Hutus an den Tutsis in nur 100 Tagen rund eine Million Menschen umkamen.

Auch wenn jeder Reporter für solche Reisen immer den guten Grund vorweisen kann, seinen Lesern ungefilterten Informationen über die mörderischen Konflikte dieser Welt verschaffen zu wollen, sind solche Expeditionen dennoch ein zweischneidiges Unterfangen. Denn immer spielt zweifelhafte Sensationsgier und Abenteuerlust dabei mit. Natürlich ist sich Buch auch über diesen Aspekt seiner Arbeit klar und spricht selbstkritisch davon, längst einer „Sucht“ verfallen zu sein nach der Erlebnisintensität, die Kriege oder Katastrophen bereithalten. Wogegen ihm der Alltag in den gut geordneten Verhältnissen hierzulande mitunter belanglos und fade vorkommt.

In seinem jüngsten Buch „Nächtliche Geräusche im Dschungel“ (Transit Buchverlag, 20 Euro) erzählt er wieder von fernen, aber glücklicherweise etwas friedlicheren Weltgegenden: Von dem wirtschaftlichen Niedergang Südafrikas, von den tastenden Versuchen des westafrikanischen Guinea, nach jahrzehntelanger Gewaltherrschaft Sékou Tourés wieder so etwas wie eine Zivilgesellschaft zu errichten, von Äthiopien, das jetzt allmählich vom Pauschaltourismus entdeckt wird oder von Nicaragua, wo die Rebellen, die einst den Diktator Somoza stürzten, inzwischen selbst eine waschechte Diktatur errichtet haben.

Und immer wieder kehrt er, wie schon in anderen Büchern zuvor, nach Haiti zurück, einem der ärmsten und elendesten Länder der Welt. Denn mit Haiti verbinden ihn eine familiäre Vergangenheit: Sein Großvater ließ sich dort 1897 als Apotheker nieder und heiratete eine Haitianerin.

Hans Christoph Buch

Hans Christoph Buch

Schon das, was er über diese Katastrophenregion berichtet, reicht aus, um den Leser fassungslos zu machen. Nach einem blutigen Sklavenaufstand erklärte sich Haiti 1804 als erstes Land der Karibik für unabhängig. Seither wechseln sich diktatorische oder korrupte Regime in endloser Folge ab und richten Haiti wieder und wieder zugrunde. Weder eine Militärintervention der USA, noch ein UNO-Mandat konnten bislang an der desaströsen wirtschaftlichen Lage etwas ändern. Ein Erdbeben forderte 2010 über 300.000 Tote und zerstörte die Hauptstadt – die bis heute nicht wieder aufgebaut wurde. Es gibt kaum noch funktionierende staatliche Strukturen, die Macht liegt bei bewaffneten Banden und Warlords. Präsident Jovenel Moïse wurde im vergangenen Jahr ermordet, die Täter nie ermittelt.

Vielleicht liegt es am Übermaß des Elends, von dem Hans Christoph Buch zu berichten hat, dass er zwischen die faktengesättigten Reportagen immer wieder seiner literarischen Fantasie freien Lauf lässt und kurze Erzählungen einstreut. Sie wirken wie letzte Utopien in einer unheilen Welt. Oder wie der Versuch, der Vergangenheit, die einen falschen, gewaltsamen Weg nahm, den Traum einer besseren Entwicklung entgegenzustellen.

Zu alledem scheut Hans Christoph Buch nicht den Streit mit sogenannten postkolonialen Aktivisten hierzulande, die stets handliche Erklärungen bereit halten für alle Probleme der notleidenden Länder. Und die in erster Linie auf die strenge Einhaltung der jeweils neuesten, „woken“ Sprachregelungen achten – so als wäre die Bekämpfung der Armut und des Leids zu allererst eine Frage des richtigen Vokabulars. Buch will sich von sicherlich wohlmeinenden Leuten, die eher selten ihren Schreibtisch verlassen, nicht über die Zustände in Ländern belehren lassen, die er oft und manchmal unter Einsatz seines Lebens bereist hat.

Hans Christoph Buch: „Nächtliche Geräusche im Dschungel. Postkoloniale Notizen“ Transit Buchverlag. Berlin 2022. 190 Seiten. 20 Euro

 

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