Christiane Hoffmann “Alles, was wir nicht erinnern”

Was geschieht, wenn eine Lebensgemeinschaft namens Familie auf die politische Katastrophe namens Krieg trifft?

Das Buch “Alles, was wir nicht erinnern” von Christiane Hoffmann erzählt von der Flucht eines neunjährigen Jungen zu Fuß über 550 Kilometer im Winter 1945. Und von den Folgen, die diese Flucht noch 75 Jahre später für die Familie dieses Jungen hat. Christiane Hoffman wurde für ”Alles, was wir nicht erinnern” mit dem Buchpreis der Stiftung Ravensburger 2022 ausgezeichnet. Hier die Laudatio, die ich auf Buch und Autorin halten durfte.

Liebe Frau Hess-Maier, lieber Herr Hauenstein, sehr geehrter Herr Hess, sehr verehrte Damen und Herren und vor allem sehr verehrte Christiane Hoffmann,

Christiane Hoffmann: "Alles, was wir nicht erinnern".  Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters. Verlag C.H.Beck. 22 Euro

Christiane Hoffmann: “Alles, was wir nicht erinnern”. Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters. Verlag C.H.Beck. 22 Euro

vielleicht ist es das Beste, den wissenschaftlichen Begriff gleich an den Anfang zu stellen, über den man reden muss, sobald man über Christiane Hoffmanns großartiges Buch sprechen will. Christiane Hoffmann beschreibt in „Alles, was wir nicht erinnern“ ein transgenerationelles Familientrauma, ausgelöst durch die Erfahrung einer Flucht über 550 Kilometer im Winter 1945. Mehr noch, das Buch führt dem Leser Diagnose und Therapieversuch dieses generationsübergreifenden Traumas vor. Es schildert eine strapaziöse, gegen innere und äußere Widerstände vorangetriebene Selbstanalyse und dazu den ebenso unorthodoxen wie radikal entschlossenen Versuch, das Trauma so weit möglich zu überwinden.

Das klingt im ersten Moment vielleicht ein wenig nüchtern und nach dem Tonfall eines psychologischen Gutachtes. Aber nichts könnte falscher sein als dieser Eindruck. Christiane Hoffmanns Buch ist von einer solchen emotionalen Wucht, dass es – hier spreche ich aus eigener Erfahrung – dem Leser leicht die Tränen in die Augen treiben kann. Es ist eine literarisch meisterhafte Mischung aus Reportage, Essay und Autobiografie, sprachlich hinreißend, historisch kenntnisreich, politisch hellsichtig und nicht zuletzt von großer, erfahrungsgesättigter Menschlichkeit.

Sicher, Familie ist nicht alles. Aber vielleicht ist ohne Familie alles nichts. Was geschieht eigentlich, wenn nicht ein Einzelner, sondern eine Lebensgemeinschaft namens Familie auf die politische Katastrophe namens Krieg trifft? Christiane Hoffmann nennt die Kriegsfront, die im Winter 45 auf die schlesische Familie Hoffmann in ihrem Heimatdorf Rosenthal zurollt, einen Drachen, dessen Brüllen schon von Weitem zu hören, und dessen heißer Atem von Weitem zu spüren ist. Was passiert, wenn der Drache bei ihnen ankommt? Es beginnt ein seltsamer, ambivalenter Prozess. Die Familie bricht auseinander und rückt zugleich umso näher zusammen.

Christiane Hoffmann und Johannes Hauenstein, der Vorstand der Stiftung Ravensburger Foto: www.heine-foro.de

Christiane Hoffmann und Johannes Hauenstein, der Vorstand der Stiftung Ravensburger Foto: www.heine-foro.de

Sie bricht räumlich auseinander, zwei Söhne, Manfred und Gotthard sind beim Militär, der Vater Herbert muss zum Volkssturm und die Mutter Olga flieht mit Walter, dem neunjährigen Nachzüglersohn, Richtung Westen. Ein behinderter Onkel und die Großmutter schließen sich der Flucht an. Die Familie beginnt sich also in alle Winde zu zerstreuen. Im gleichen Augenblick aber rückt sie emotional zusammen, Hoffnungen, Sorgen, Wünsche richten sich mit ungeahnter Intensität auf die jeweils anderen Familienmitglieder. Das Zusammensein, zuvor eine Selbstverständlichkeit, wird mit einem Mal zur inständig zurückersehnten Lebensutopie.

Aber wenn dann Krieg und Flucht überstanden sind und die Familie wieder zusammengefunden hat, lässt sie der Drache noch lange nicht aus seinen Krallen. Christiane Hoffmann schildert das mit ergreifender Überzeugungskraft. Wie die schlesischen Flüchtlinge im norddeutschen Hamburg-Wedel ein neues, gewöhnungsbedürftiges Zuhause finden. Wie sie glauben wollen, dass mit dem Überlebthaben und dem Wiederzusammensein tatsächlich eine Utopie wahr geworden ist und dabei übersehen, wie sehr jeder von ihnen durch Krieg und Flucht zu einem anderen Menschen geworden ist und wie tief der Drache sie verletzt hat.

Instinktiv tun sie alles, um die überstandene Katastrophe und das, was sie ihnen angetan hat, nicht mehr spüren zu müssen. Sie retten sich ins radikale Vergessen, denn es ist besser, keine Erinnerung zu haben als die Erinnerungen an das Unerträgliche, das sie durchlebt haben. Oder sie retten sich ins Schweigen, in das innere Versteinern, denn es ist besser keine Gefühle zu haben, als die Gefühle, die aus dieser Vergangenheit resultieren könnten. Oder sie retten sich in eine bedingungslose Heiterkeit, in eine immerwährende Freundlichkeit und Zugänglichkeit, mit der sie ihre inneren Spannungen, denen sie nicht gewachsen sind, überdecken können.

Und nun beginnt etwas Gespenstisches. Etwas, das zunächst ganz und gar unbegreiflich wirkt. All diese Erinnerungen, Gefühle, Haltungen, die von den Überlebenden ins Unbewusste abgedrängt wurden, beginnen innerhalb der Familie im Laufe der Jahrzehnte auf das Unbewusste der nachfolgenden Generation abzufärben. Der Flüchtling, der von einem Tag auf den anderen alles verlor, Besitz, Heimat, Sicherheit, Vertrauen, bekommt Jahre nach seiner Flucht Kinder, die ein schwieriges Verhältnis zu Besitz und Heimat entwickeln, die selbst im sichersten sozialen Umfeld eine dumpfe Angst verspüren und denen es schwerfällt, Vertrauen zu fassen, zu was oder wem auch immer.

Christiane Hoffmann liest aus ihrem Buch bei der Preisverleihung Foto: www.heine-foto.de

Christiane Hoffmann liest aus ihrem Buch bei der Preisverleihung Foto: www.heine-foto.de

Christiane Hoffmann findet ein fabelhaftes und doch ganz alltägliches Bild für diese unbeabsichtigte Weitergabe eines Traumas. Die Elterngeneration sitzt am Familientisch und spricht über die Heimat, die sie verloren hat, und die Kinder spielen unter dem Tisch und hören, wie die Stimmen der Eltern einen anderen Klang annehmen, wenn Worte fallen wie Schlesien, wie Krieg, wie Flucht. Denn Kinder besitzen die ans Wunderbare grenzende Fähigkeit, schlichtweg alles an ihren Eltern wahrzunehmen, selbst das, was die Eltern an sich selbst nicht wahrnehmen können. Es ist ein seltsamer, ein beunruhigender Klang in den Stimmen, ein Unterton der abgetöteten Sehnsucht, des unverarbeiteten Schreckens, der verdrängten, weil übermächtigen Angst. Und also setzt sich in den Kindern der Eindruck fest, dass im Leben der Familie eine verborgene Bedrohung lauert, so groß, dass nicht einmal die Eltern sie aussprechen können, die aber immerzu da ist und sie alle verfolgt.

Kein Wunder, wenn das Flüchtlingskind Christiane zu fragen beginnt nach dieser dunkel drohenden Gefahr, nach Krieg und Flucht. Doch ihr Vater kann ihr nur Tatsachen berichten, aber keine emotional befriedigende Antwort geben. Denn die Erinnerungen und Empfindungen, die sein Leben überschatten, hat er so vollständig aus dem Bewusstsein gestrichen, dass er kaum noch etwas davon weiß und buchstäblich nichts mehr davon fühlt. Mit der ausbleibenden Antwort aber vollendet sich die Übergabe des Traumas vom Vater zur Tochter, denn nun kann auch sie keine Auskunft geben über das Unbestimmte, Unbenennbare, Bedrohliche, das sie empfindet.

Die inzwischen zur Journalistin herangewachsene Flüchtlingstochter will sich damit allerdings nicht zufriedengeben. Nach dem Tod des Vaters entscheidet sie sich, das zu erleben, was ihr Vater erlebt, aber nicht verarbeitet hat. Sie beschließt, exakt den 550 Kilometer langen Fluchtweg entlangzuwandern, zu Fuß und allein, den ihr Vater als neunjähriger Junge zurücklegen musste. Sie will spüren, was er spürte, sie will, so gut das mit siebzig Jahren Verspätung geht, bewusst erleben, was er erlebte, aber ins Unbewusste verbannte, weil es zu angsteinflößend war.

Was wir heute in Christiane Hoffmanns Buch über diese 550 Kilometer lesen dürfen, ist also mehr als der abenteuerliche Bericht über eine erschöpfende, kräftezehrende Wanderung durch Ostmitteleuropa. Es ist zugleich die Erzählung einer Reise in das eigene Selbst, in die eigene seelische Verfasstheit, in das von den Eltern ererbte Trauma. Das Buch folgt damit einer Idee, die spätestens seit der Romantik in der deutschen Literatur heimisch wurde „Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg“, heißt es bei Novalis programmatisch. „Die Außenwelt ist die Schattenwelt.“

Und wirken die Folgen transgenerationeller Familientraumata nicht letztlich wie ein Motiv aus einer romantischen Erzählung von, sagen wir, E.T.A.Hoffmann oder von Wilhelm Hauff? Eine Erzählung, in der Eltern Dinge erleben, aber erst ihre Kinder sie zu spüren bekommen? Oder in der Kinder die märchenhafte Fähigkeit haben, aus dem Klang der Stimmen ihre Eltern etwas herauszuhören, was die Eltern selbst längst nicht mehr wissen? Wer lesend die Wanderung von Christiane Hoffmann mitwandert, kann lauter zutiefst romantische Themen entdecken. Und das sollte niemanden überraschen, denn es waren Romantiker wie Jean Paul, die lange vor Freud das Unbewusste entdeckten, in dem es wilder und dunkler zugeht als in den Dschungeln eines unerforschten Kontinents.

Damit hier kein Missverständnis entsteht: Christiane Hoffmanns Buch lässt romantische Motive anklingen. Doch es wirft zugleich einen sehr klaren, rationalen, vorausschauenden Blick auf die politischen Verhältnisse in den ostmitteleuropäischen Landschaften, durch die sie wandert. Geschrieben hat Christiane Hoffmann ihr Buch vor dem 24. Februar 2022, als ein imperialistischer Angriffskrieg mitten in Europa noch als unvorstellbar galt. Aber sie benennt darin bereits eine Menge der Faktoren, die ihn inzwischen haben losbrechen lassen. Und in prophetischer Vorwegnahme sieht sie, auf dem siebzig Jahre alten Fluchtweg ihres Vaters wandernd, schon jene Flüchtlingszüge vor sich, die heute wieder von Osten nach Westen ziehen, die wieder seelische Kriegs- und Fluchtwunden schlagen, die später einmal möglicherweise wieder an nachfolgende Generationen vererbt werden. Ein finsterer, finsterer Staffellauf der Geschichte.

Nahezu alle Menschen, die Christiane Hoffmann auf ihrer Reise auf den Spuren ihres Vaters trifft, sind Flüchtlinge der ersten, der zweiten oder dritten Generation. Die Familien, die heute in Schlesien leben, wurden zuvor von Stalins Sowjetunion aus dem ehemaligen Ostteil Polens vertrieben. Auch diese Familien tragen ihre Traumata durch die Zeiten. Es gehört zu den ergreifenden Aspekten ihres Buches, dass sich bei den Begegnungen zwischen Deutschen und Polen mit Fluchterfahrungen viel eher ein gegenseitiges Mitgefühl einstellt als revanchistische Gelüste. Vielleicht ist das der zarte Schimmer einer Hoffnung, den das Buch vermittelt, trotz all des Dunklen, von dem er berichten muss.

Kommen wir zum Schluss: „Alles, was wir nicht erinnern“ ist eine literarische Familienaufstellung von ergreifender Intensität, ist das grandiose Logbuch einer mutigen Wanderung, ist ein untröstlicher Klagegesang über die Schmerzen vergangener und kommender Kriege und ist nicht zuletzt die hinreißende Liebeserklärung einer Tochter an ihren von seiner Flucht unwiederbringlich versehrten Vater. Liebe Frau Hoffmann, ich gratuliere Ihnen sehr herzlich zu diesem Buch und zum Buchpreis Familienroman der Stiftung Ravensburger.

 

 

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