1222 Worte des Lobes zu “22 Bahnen” von Caroline Wahl
Am 13. November 2023 wurde Caroline Wahl in Berlin der Buchpreis für Familienroman der Stiftung Ravensburger verliehen. Es ist das erste Buch dieser Autorin und sie hat damit sofort großen Erfolg sowohl bei den Lesern wie auch bei den Kritikern gehabt. Ein starker literarischer Start. Ich durfte bei der Preisübergabe die Laudatio auf den bemerkenswerten Roman halten.
Liebe Caroline Wahl, sehr verehrte Damen und Herren,
eine Familie kann so groß und weit verzweigt sein, dass Außenstehende versucht sind, von einem Klan oder einer Sippe zu sprechen. Solche Familien wirken stark und gefestigt, selbst wenn hinter den Kulissen heimlich gestritten wird. Es mag archaisch klingen, aber je größer eine Familie ist, desto eher spielt sie in unserem Bewusstsein die Rolle eines Machtfaktors.
Doch wie sieht es mit dem Gegenteil aus? Wie klein kann eine Familie sein, damit sie noch immer zurecht Familie genannt werden kann? Was gehört zum Mindestbestand einer Familie? Vater, Mutter, Kind? Oder weniger normativ gesprochen: Zwei Eltern – gleich welchen Geschlechts – und mindestens ein Kind? Ist das die kleinste Einheit, der wir den Titel Familie zugestehen? Nein, natürlich nicht, selbstverständlich haben auch die oder der Alleinerziehende mit Kind ein Recht auf die Bezeichnung Familie. Und ein Recht auf den Schutz und eine besondere Fürsorge der Gesellschaft.
Caroline Wahl lässt die Frage, wie klein eine Familie sein kann, damit man noch von einer Familie sprechen kann, in ihrem Roman „22 Bahnen“ anklingen. Das Buch handelt von zwei Schwestern, die in einer namenlosen Provinzstadt leben: Tilda ist Anfang zwanzig und Ida zehn Jahre alt. Ihre alleinerziehende Mutter, mit der die beiden unter einem Dach leben, leidet unter Depressionen und schwerer Alkoholabhängigkeit. Die beiden Schwestern nennen sie oft „das Monster“, weil sie den größten Teil ihrer Tage betrunken und halb bewusstlos auf dem Sofa vorm Fernseher verbringt, aber plötzlich aggressiv und handgreiflich werden kann, wenn kein Wein oder Wodka mehr in Haus ist.
Das Urteil der Außenstehenden über diese Konstellation scheint auf der Hand zu liegen: eine zerbrochene, eine dysfunktionale, eine gefährdete Familie – und der Schutz der zehnjährigen Ida vielleicht sogar ein Fall fürs Jugendamt. Doch Tilda sieht das anders. Als sie an einem Sommer-Wochenende allein mit ihrer kleinen Schwester zu einer Wanderung in den nahegelegenen Wäldern aufbricht, fühlt sie sich glänzend, weil ihre Schwester und sie, so sagt Tilda, (Zitat) „jeweils ein fester Teil, die Hälfte von einem Ganzen sind. Wir sind eine Familie. Wir sind ein intakter Organismus, wir funktionieren zusammen. Gestört werden wir nur durch den letzten Teil unserer Familie. (Die Mutter.) Also eigentlich sind wir eine überwiegend intakte Familie. Zu 66,67 Prozent. Wir sind intakte Schwestern. Zu 100 Prozent.“
Wir sind eine Familie, sagt Tilda, wir sind ein intakter Organismus, und damit meint sie ihre Schwester und sich selbst. Tilda ist, das deutet schon ihr althochdeutscher Name an, eine Kämpferin. Sie arbeitet als Kassiererin in einem Supermarkt, um die Familie zu ernähren, und studiert daneben noch Mathematik mit so großem Erfolg, dass ihr Professor ihr eine Promotionsstelle an einer Berliner Universität anbietet. Ihre Tage sind präzise durchgetaktet, sie besucht ihre Seminare, sorgt dafür, dass ihre Schwester etwas zu Essen auf den Tisch bekommt, geht zur Arbeit und gönnt sich am Abend als einzigen Luxus einen Besuch im Schwimmbad. Auch dort liegt sie nicht faul auf dem Handtuch in der Sonne, sondern spult zwischen planschenden Kindern und behaglich paddelnden Erwachsenen in hohem Tempo 22 Bahnen ab. Denn Schwimmen ist für Tilda zweierlei zugleich: Es ist eine Zuflucht, eine monotone, meditative Übung, die alle düsteren Gedanken in ihrem Kopf vorübergehend zum Schweigen bringt, und zugleich ist es ein körperliches Training, das ihr die Kondition verschafft, die sie als Kämpferin dringend braucht.
Denn Tilda ist zwar erst Anfang zwanzig, aber sie will mit aller Kraft ihre Familie zusammenhalten. Natürlich ist das eigentlich die Aufgabe der Eltern, doch der Vater hat eine neue Familie und lässt sich nicht mehr blicken, und die Mutter ist im Dauerdämmer ihrer Sucht versunken. Also übernimmt Tilda diese Aufgabe. Eine Familie ist, wie Tilda es sagt, ein Organismus, und dieser Organismus namens Familie zeigt oft die bemerkenswerte Eigenschaft, das einer seiner Teile besondere Fähigkeiten und Leistungskräfte ausbildet, wenn andere Teile schwächeln, oder gar ihre Funktion aufgeben.
Das ist nicht immer gesund, man darf dieses Selbsterhaltungsprinzip des Familien-Organismus nicht romantisieren. Tilda muss viel von sich opfern, damit das Zusammenleben ihrer Kleinstfamilie weiterhin einigermaßen funktioniert. Sie ist rabiat nicht nur der kranken Mutter, sondern auch sich selbst gegenüber. Sie gestattet sich nur wenig von den Freiheiten, den Egoismen oder den Sorglosigkeiten, die gleichaltrige Freundinnen wie selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen. Und natürlich hat das Folgen: Sie ist einsamer, verschlossener, kantiger, abweisender als es für sie gut ist. Als die Kämpferin, die sie ist, hat sie sich eine Rüstung zugelegt – nicht zufällig malt ihre Schwester sie als Ritterin mit Helm und Harnisch. Aber diese Rüstung wird für sie eben auch zu einer Art Zwangsjacke, zu ihrem ganz persönlichen maßgeschneiderten Gefängnis.
Zu den großartigen Qualitäten des Romans „22 Bahnen“ gehört, dass Caroline Wahl die Geschichte der Kämpferin Tilda nicht nur erzählt, sondern gleichsam hörbar macht. Tildas Sprache ist knapp, sie geizt mit Worten. Sie sagt, was sie für richtig hält, nicht mehr oder weniger, und danach schweigt sie. Sie wirkt deshalb schroff und widerborstig. Ihre Leidenschaft für Mathematik scheint auf ihre Kommunikation abgefärbt zu haben: Die Welt der Zahlen kennt keinen small talk, sie kennt nur richtig oder falsch, ohne schmückendes sprachlichen Beiwerk. Von ähnlicher Nüchternheit sind Tildas Sätze.
Doch Tilda ist nicht nüchtern oder kaltherzig, sondern lediglich aufs Wesentliche konzentriert. Und das Wesentliche ist für sie die Schwester, also ihre Familie. Ihre Freundin Melanie, die in einem liebevollen, behütenden Elternhaus aufgewachsen ist, erweist sich diesen Eltern gegenüber als anmaßend und egozentrisch. Tilda, die so viel schlechtere Startbedingungen hat, wächst an den Konflikten, mit denen sie groß geworden ist. Sie will die kleine Ida nicht allein bei der Mutter lassen, und sich deshalb gar nicht erst auf die Promotionsstelle in Berlin bewerben. Ida wiederum will ihrer großen Schwester nicht die Zukunft verbauen und will es deshalb künftig allein mit dem Mutter-Monster aufzunehmen, damit Tilda nach Berlin gehen kann. Beide sind bereit, für den jeweils andere Familienteil viel zu opfern. Ob Ida mit nur zehn Jahren den Aufgaben gewachsen sein kann, die sie auf sich nehmen will, ist die offene Frage, die am Ende des Romans steht.
Caroline Wahls Buch ist in allen seinen Teilen auf das Thema Familie bezogen: Da wird von der Sehnsucht nach einer intakten Familie erzählt, wie Tilda sie bei Ihrer Freundin Melanie erlebt hat, dann von der persönlichen Opferbereitschaft für andere Familienmitglieder und schließlich von dem unsäglichen Schmerz über eine verlorene Familie, den Tilda bei ihrem Freund und Geliebten Viktor kennenlernt, dessen Eltern und Geschwister bei einem Autounfall umgekommen sind. Ganz ohne Ausflüge ins Essayistische, sondern immer aus der Erzählung eines Sommers in einer Provinzstadt heraus, befragt Caroline Wahls Roman das Lebensmodell Familie virtuos nach seinen Glücksversprechen und seinen Abgründen, seinen Freuden und seinen Fesseln, nach den ihm innenwohnenden Potentialen der Stärkung, aber auch der Traumatisierung der Familienmitglieder.
Kommen wir zum Schluss: Caroline Wahl ist eine junge Autorin, „22 Bahnen“ ist ihr erster Roman. Es ist ein Buch von beeindruckender sprachlicher Kraft und Präzision. Sie nutzt geschickt den Jargon der Zeit, aber nicht, wie es klischeehaft heißt, um ihren Generationsgenossen aufs Maul zu schauen, sondern um Literatur daraus zu machen. Sie schreibt einen Schwesternroman, einen sehr zarten, sehr behutsamen Liebesroman, einen Coming-of-age-Roman – alles in einem. Vor allem aber schreibt sie einen Roman, der zeigt, welchen prägenden, unersetzbaren, fördernden, aber auch fordernden, beglückenden ebenso wie gefährdenden oder verletzenden Charakter Familienbeziehungen haben können.
Caroline Wahl ist eine junge Autorin, die einen bemerkenswert reifen Roman geschrieben hat. Liebe Caroline Wahl, ich beglückwünsche Sie zu Ihrem großartigen Buch „22 Bahnen“ und zum Buchpreis der Stiftung Ravensburger 2023.