Ein fabelhaften Familienroman: “Gewässer im Ziplock” von Dana Vowinckel

Familie ist eine Chance

Laudatio auf Dana Vowinkel und ihren Roman “Gewässer im Ziplock”

Am 11. November wurde der Buchpreis für Familienroman des Siftung Ravensburger Verlag 2024 in Berlin an Dana Vowickel verliehen. Sie erhielt die Auszeichnung für ihren Roman “Gewässer im Ziplock”. Ich durfte die Laudatio halten. Leider war Dana Vowincken in New York aus familiären Gründen (und welche Hinderungsgründe könnten bei einem Preis für Familienroman wichtiger sein!) verhindert und konnte an der Preisverleihung nur per Videoschalte teilnehmen. Hier meine Rede:

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Dana Vowinckel im fernen New York

Was eigentlich ist Familie? Wovon sprechen wir, wenn wir von Familie sprechen? Eine naheliegende, sehr soziologische Antwort auf diese Frage lautet: Familie ist eine durch Partnerschaft, Heirat, Abstammung oder Adoption begründete Lebensgemeinschaft, die meist aus Eltern und Kindern bzw. Enkeln besteht, aber auch andere, weiter gefasste Verwandtschaftsverhältnisse mit einbeziehen kann.

Dana Vowinckel: "Gewässer im Ziplock". Roman. Suhrkamp Verlag. Handcover: 23 Euro, Taschenbuch 13 Euro

Dana Vowinckel: “Gewässer im Ziplock”. Roman. Suhrkamp Verlag. Handcover: 23 Euro, Taschenbuch 13 Euro

Das ist eine sehr formale Definition, der jede emotionale Dimension fehlt. Diese emotionale Dimension aber ist im alltäglichen Leben das eigentlich entscheidende. Gehört man noch zu einer Familie, wenn man sie verlassen hat? Wenn man den Kontakt zu den anderen Familienmitgliedern abgebrochen hat? Juristisch gehört man sicherlich noch dazu, aber eben kaum im Sinne einer gefühlsmäßigen Bindung. Solche Bindungen aber machen letztlich den Kern einer Familie aus. Familie ist eine Chance. Familie bietet die Chance, das eigene Leben mit den Leben anderer so eng zu verbinden, dass man das eigene Leben und das der anderen kaum noch unterscheiden kann, dass man das Schicksal des anderen ebenso ernst nimmt wie das eigene – oder in extremen Fällen vielleicht sogar ernster als das eigene. Familie ist eine Chance, über sich hinauszuwachsen.

Marsha, die Mutter der fünfzehnjährigen Margarita in Dana Vowinckels Roman, hat diese Chance nicht genutzt. Sie hat ihren Mann und ihre Tochter verlassen, als Margarita im Kindergartenalter war. Sie gibt für diese Entscheidung gleich mehrere Gründe an. Sie ist eine ambitionierte Sprachwissenschaftlerin und fand in Deutschland keine Arbeit, was für sie unerträglich war. Sie hatte geglaubt, so lautet eine andere Begründung, der Familie nur voranzureisen nach Amerika, um ihr so den letzten, den ultimativen Anstoß zu geben, ihr zu folgen. Und schließlich macht sie noch ein drittes, politisches Motiv geltend: Sie konnte, sagt sie, als Jüdin Deutschland nicht mehr ertragen. Doch dorthin, nach Deutschland, hat es Avi, ihren israelischen Mann, einer Arbeit wegen verschlagen. Avi ist Chasan, Sänger und Vorbeter in der Synagoge, ein sehr frommer, weitgehend unpolitischer Mann, den es wenig interessiert, in welchem Land er lebt, solange er die Möglichkeit hat, die jüdischen Gesetze zu befolgen und für eine jüdische Gemeinde zu arbeiten. Er ist nach Marshas Flucht aus Deutschland so tief verletzt, dass er überhaupt nicht auf die Idee kommt, ihr nach Amerika zu folgen.

Kann man in eine Familie wieder einsteigen, nachdem man für Jahre aus ihr ausgestiegen ist? Avi kümmert sich in Berlin über ein Jahrzehnt lang allein rührend um seine Tochter, und auch die mütterlichen Großeltern, die in Chicago leben, wachen über die Kindheit ihrer Enkelin und holen Margarita jeden Sommer in den Ferien zu sich. Doch inzwischen ist Margarita fünfzehn und langweilt sich in Chicago – bis ihre Großmutter ihr den Vorschlag macht, ihre Mutter Marsha in Israel zu besuchen, die als Linguistin Karriere gemacht hat und für einige Monate an die Hebrew Universität in Jerusalem eingeladen worden ist.

Damit beginnt der ebenso dramatische wie problematische Versuch, eine einst auseinandergefallene Familie wiederzubeleben, von dem dieser wunderbare Roman Dana Vowinckels erzählt. Für einige Wochen reisen die drei Hauptbeteiligten unentwegt zwischen verschiedenen Schauplätzen in Deutschland, Israel und Amerika hin und her und vielleicht ist dieses ständige Unterwegssein das äußere Zeichen für die innere Unschlüssigkeit der Figuren.

Thumbnail_Vowinckel_5-FragenDenn Dana Vowinckel macht es sich in ihrem Roman nicht so einfach, die traumschöne, aber letztlich doch unrealistische Geschichte einer schmerzarmen familiären Wiedervereinigung zu erzählen. Nichts wäre dramaturgisch gesehen leichter gewesen als das. Als Ausgangspunkt einer solchen Happy-End-Geschichte müsste die Autorin zeigen, wie fremd sich die Familienmitglieder in den Jahren der Trennung geworden sind. Dann käme die Phase der Wiederannäherung, in der die drei begreifen, wie sehr sie sich trotz allem brauchen und lieben – die schließlich in ein großes Verzeihen und Versöhnen mündet, gefolgt von einer zuckersüßen, sonnenüberstrahlten Zukunft für alle Beteiligten.

Was Dana Vowinckel stattdessen beschreibt, ist literarisch viel glaubwürdiger und überzeugender. Sie zeigt, in welches Chaos der Empfindungen Margarita und Avi durch Marshas Wunsch gestürzt werden, ihre Tochter nach dreizehn Jahren Abwesenheit besser kennenzulernen. Und auch Marsha selbst bleibt von diesen Turbulenzen nicht verschont. Es ist als wären die drei auf eine emotionale Achterbahn geraten, mit mühsamen Aufstiegen, rasenden Abstürzen, nervenaufreibenden Schleuderstrecken und wahren Loopings der Gefühle. Immerzu wechseln die Konstellationen, mal sind sich Avi und Marsha einig, dass die Tochter ihrer Mutter näherkommen sollte, dann wieder gehen die Eltern aufeinander los, weil Marsha mit Margaritas Freiheitsbedürfnissen nicht zurechtkommt und gelegentlich verbünden sich Mutter und Tochter gegen Avi, da dessen Verhalten seiner Tochter gegenüber allzu deutlich von Einsamkeitsängsten und allzu großer Nachgiebigkeit geprägt ist.

Erschwerend kommt die seelische Labilität einer Fünfzehnjährigen hinzu, die im Minutentakt schwankt zwischen Selbstverliebtheit und Selbsthass, zwischen Abenteuerlust und Ängstlichkeit, zwischen sentimentaler Elternanhänglichkeit und brutaler Elternmanipulation. Mit diesem Porträt einer Pubertierenden, die glaubt, ganz genau zu wissen, was sie will und zugleich nicht die geringste Ahnung von sich selbst hat, ist Dana Vowinckel etwas literarisch Herausragendes gelungen. Wie Margarita einerseits die Umwelt mit ihrer Unberechenbarkeit und Selbstbezogenheit psychisch terrorisiert, andererseits aber in Momenten der Selbsterkenntnis unter dem eigenen Terrorregime moralisch am meisten leidet, das ist hinreißend genau beobachtet und beschrieben.

Doch das ist noch längst nicht alles. Zu den besonderen Qualitäten dieses Romans gehört auch, wie liebevoll und detailgenau Dana Vowinckel das religiöse Weltbild von Avi nachzeichnet. Wie leicht wäre es gewesen, seine Frömmigkeit vom Standpunkt der eher säkular denkenden Tochter als eine Art versponnene, weltfremde Lebensweise zu beschreiben. Aber genau das macht Dana Vowinckel nicht. Sie lässt sich ganz und gar ein auf die tiefe Gläubigkeit eines Vorbeters, auf seine Sorgen um die zahllosen religiösen Regeln und um seine Gemeinde. Und sie wird auf diese Weise der Figur in ihrem ganzen jahrhundertealten Ernst erst wirklich gerecht.

Preisübergabe in Berlin an Dana Vowinckel in New York. Stellvertretend nimmt Suhrkamp-Chef Jonathan Landgrebe (links) die Urkunde der Auszeichnung vom Leiter der Situng Ravensburger Verlag, Johannes Hauenstein (rechts) entgegen.

Preisübergabe in Berlin an Dana Vowinckel in New York. Stellvertretend nimmt Suhrkamp-Chef Jonathan Landgrebe (links) die Urkunde der Auszeichnung vom Leiter der Situng Ravensburger Verlag, Johannes Hauenstein (rechts) entgegen.

Vor allem aber gelingt es diesem Roman, viel von der aktuellen politischen Situation der Juden in Deutschland und Israel einzufangen, sowohl die sehr konkrete Angst vor einem neuen handgreiflichen, mörderischen Antisemitismus in Deutschland wie auch die Spaltung der israelischen Gesellschaft zwischen Gegnern und Anhängern der Regierung Netanjahu. Das Buch wirkt, als sei es nach dem entsetzlichen Massaker vom 7.Oktober 2023 geschrieben, obwohl es schon Monate davor erschien. Doch zugleich sind in diesem so zeitgenössischen Roman literarische Muster einer langen Geschichte des Familienromans wiederzuerkennen, bis hin zu einem alles bedrohenden Familiengeheimnis – das sich dann allerdings als eine längst enthüllte und deshalb entschärfte Familienheimlichkeit entpuppt, von der sich Margarita in Identitätsprobleme gestürzt sah.

Bleibt noch über den Titel des Romans zu reden: „Gewässer im Ziplock“. Um ehrlich zu sein, ich hatte, bevor ich Dana Vowinckels Roman las, keine Ahnung, was ein Ziplock ist. Ich hatte schon oft einen dieser wiederverschließbaren Plastikbeutel mit Gleitverschluss benutzt, aber ihren gewissermaßen lautmalerischen Namen Ziplock kannte ich nicht. Was hat ein solcher Alltagsgegenstand im Titel eines solch dramatischen Familienromans zu suchen? Darf man ihn vielleicht als Anspielung auf das dünne, verletzliche Gewebe betrachten, das eine Familie zusammenhält und in dem Gewässer, von dem der Titel spricht, ein Bild sehen für die nur ihrem eigenen Willen gehorchenden, impulsiven, ständig in Bewegung befindlichen Familienmitglieder? Das ist natürlich nur eine Spekulation, eine persönliche Interpretation, aber so ist mir der Titel zur Metapher für die widerstrebenden Kräfte dessen geworden, was wir Familie nennen.

Ich möchte Dana Vowinckel im fernen New York gratulieren zu einem Roman, der politische Aktualität und literarische Tradition zwanglos zu verbinden versteht, der ungeheuer plastische, lebendige Porträts seiner Figuren zeichnet, und der hingebungsvoll dem Rätsel nachspürt, was Familie im Kern eigentlich ist, denn um nichts ringen Dana Vowinckels Figuren so hartnäckig und besessen, wie darum, sich als Familie zu begreifen. Und nicht zuletzt gratuliere ich Ihnen, liebe Dana Vowinckel, zum Buchpreis der Stiftung Ravensburger Verlag. Herzlichen Glückwunsch.

 

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