Verspäteter verfrühter Nachruf auf Hans Magnus Enzensberger

Nicht nur Bücher haben ihre Schicksale, manchmal haben sogar Zeitungsartikel so etwas wie ein Schicksal. Den folgenden Nachruf auf Hans Magnus Enzensberger habe ich im Jahr 2010 gechrieben, also rund zwölf Jahre zu früh. Es war ein Artikel auf Vorrat – Zeitungsredaktionen möchten gern für alles gerüstet sein, und Nachrufe auf bedeutende Persönlichkeiten jenseits des achtizigsten Geburtstags werden vorab geschrieben, und für den Fall der Fälle bereit gehalten.

Stefan Moses: Hans Magnus Enzensberger. Eine Hommage. Verlag Schirmer & Mosel, 29,80 Euro

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Diesen Nachruf habe ich nach seiner Fertigstellung aber per Email nicht an die Redaktion geschickt, für die ich damals arbeitete, sondern zunächst irrtümlicherweise an einen freundlichen Cousin. Erst als er mich auf dieses Fehler aufmerksam machte, habe ich ihn dann in die richtigen Hände leiten können. Als jetzt, zwölf Jahre später, HME bedauerlicherweise tatsächlich gestorben ist, hatte ich den Artikel längst vergessen – und die Redaktion, für die ich ihn damals geschrieben habe, offensichtlich auch. Jedenfalls wurde er vergangene Woche nicht gedruckt. Und wieder war es jetzt der freundliche Cousin, er heißt Michael, der mich an den Nachruf auf einen von mir hochgeschätzten Schriftsteller erinnerte und ihn mir noch einmal zuschickte.

Und als wäre das für einen Zeitungsartikel noch nicht Schicksal genug, landete Michaels aktuelle Email samt HME-Nachruf in meinem Spam-Ordner, wo ich sie erst jetzt, mit einigen Tagen Verspätung, gefunden habe. Damit bietet sich mir die einmalige Gelegenheit, hier einen zwölf Jahre verfrüht geschriebenen Nachruf mit einigen Tagen Verspätung zu veröffentlichen.

Hans MAGNUS Enzensberger

Ein Nachruf

Er war nie so recht zu fassen. Und er hat zeitlebens großen Wert darauf gelegt, immer ein wenig unfassbar zu bleiben. Wenn es eines Beweises bedürfte, dass Dichter und Denker keine Betongießer sind, denen alles unter den Händen zu toter, wandlungsloser Unverrückbarkeit erstarrt, dann wäre Hans Magnus Enzensberger ein schlagendes Beispiel. Er hatte viel zu viele Talente und Interessen, war viel zu erfahrungsgierig und abenteuerlustig, als dass er ein Leben ohne Metamorphosen hätte leben können. Sein Freund, der schwedische Schriftsteller Lars Gustafsson sprach einmal davon, dass Enzensberger über ein ganzes Bündel von Persönlichkeiten verfüge, die jeweils einzeln, aber auch alle zusammen auf den Namen Enzensberger hörten.

Hans Magnus Enzensberger: "Der Untergang der Titanic". Eine Komödie. Suhrkamp Verlag,  8 Euro

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Seine Gegner haben ihm das oft übel genommen. Sie nannten ihn unzuverlässig und flatterhaft, nannten ihn einen Hans Dampf in allen Gassen des Zeitgeists oder schärfer noch: einen Renegaten und Verräter, weil er mancher linken Idee, die er in den wilden sechziger Jahren propagierte, bald darauf achselzuckend den Rücken kehrte. Doch das beunruhigte ihn augenscheinlich wenig. Seit er 1945 als fünfzehnzehnjähriger Volkssturmknabe von gewissenlosen Befehlshabern losgeschickt wurde, um amerikanische Panzer aufzuhalten, hatte er ein für allemal begriffen, dass auf getreuer Pflichterfüllung weit weniger Segen ruhen kann als auf kühn geplanter Desertion.

Sein Aufstieg im Literaturbetrieb der noch jungen Bundesrepublik ist bis heute nahezu beispiellos: 1957 erschien sein erstes Buch, der Lyrikband „Verteidigung der Wölfe“ und bereits 1963, mit nur 33 Jahren, erhielt er den Büchnerpreis, die höchste literarische Auszeichnung, die das Land zu vergeben hat. In der kurzen Zeit dazwischen hatte er zwei weitere Gedichtbände publiziert, Essays zum Neckermann-Katalog, zur Sprache des „Spiegels“, zum Film und zur FAZ veröffentlicht, mit denen er sich als fulminanter Medienkritiker erwies und erste Aufsätze zu „Politik und Verbrechen“ (1964) geschrieben, die ihn in einen politologischen Disput mit der in USA lehrenden Philosophin Hannah Arendt verstrickten. Er war ein literarischer Shooting-Star von europäischem Format, kein Poet in weltferner Klause, sondern ein „Luftwesen“, wie Dichterkollege Peter Rühmkorf ihn beschrieb, immer unterwegs zu „dringenden Terminen, Verabredungen auf Flugplätzen, Besprechungen in Hotel-Lobbys, Projektkonferenzen für alle Medien und auf allen Wellenlängen.“

Enzensberger schien den von den Nazis abgebrochenen Kontakt der deutschen Literatur zu den Debatten der Weltkultur eigenhändig und im Alleingang wiederherstellen zu wollen. Mit seinem 16-sprachigen „Museum der modernen Poesie“ (1960) präsentierte er die Meisterleistungen der lyrischen Moderne einem damit weitgehend unvertrauten deutschen Publikum. Im Nachwort allerdings verkündete er dann das Ende der Moderne und den Beginn einer Nach-Moderne: Man kann diesen Essay als das weltweit erste präzise argumentierende Manifest der literarischen Postmoderne betrachten – erschienen wenige Monate nachdem der Begriff in Amerika geboren und Jahrzehnte bevor er dann in Deutschland endlich diskutiert wurde.

Wenn zunächst niemand seine Gedanken aufgriff, wie in diesem Fall, weil er den Zeitgenossen meilenweit voranstürmte, verbiss sich Enzensberger nicht in sein Thema, sondern wandte sich munter dem nächsten zu. Er trug wie kaum ein anderer deutsche Schriftsteller zur Politisierung der sechziger Jahre bei. Seine 1965 gegründete Zeitschrift „Kursbuch“ erreichte Schwindel erregende Auflagen und wurde zum intellektuellen Orientierungsmittel einer rebellierenden Generation. Um den Einfluss, über den er damals verfügte, dürften ihn nicht nur Schriftsteller, sondern selbst Politiker beneidet haben.

Hans Magnus Enzensberger: "Politik und Verbrechen". Neun Beiträge. Suhrkamp Verlag. 14 Euro

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Dennoch bezeichnet diese Zeit nicht nur einen Höhe-, sondern zugleich den Tiefpunkt seiner Karriere. Mitgerissen vom scheinrevolutionären Schwung ließ sich Enzensberger, der Ironiker und Feind jedes politischen Romantizismus, zu Thesen verführen, die sich nur durch zeitweilige Bewusstseinstrübung erklären lassen. 1968 bricht er einen Aufenthalt an einer amerikanischen Universität ab, weil ihn die in den Vietnamkrieg verstrickten USA „an die deutsche Situation in den dreißiger Jahren“ erinnern, also an den sich anbahnenden oder bereits etablierten Nationalsozialismus. Stattdessen reist er für einige Monate in das Kuba Fidel Castros, um unter Palmen beim Aufbau des Sozialismus zu helfen.

Doch Kehrtwendungen waren nie Enzensbergers Problem. „Wahrheit“, schrieb er einmal, „ist die permanente Revision.“ Sein kubanischer Abstecher heilte ihn von politischen Illusionen. Hatte man in der Vergangenheit gelegentlich den Eindruck, er mache der Realität im Namen der Ideale den Prozess, so begann er nun noch konsequenter als zuvor die Ideale an der Realität zu messen und viele davon für unbrauchbar zu erklären. „Manchmal gefallen mir meine eigenen Essays nicht mehr“, sagte er damals, „weil sie in dieser Tradition der Rechthaberei stehen.“

Was daraufhin folgte, klang nicht selten wie eine groß angelegte Verteidigung der von Intellektuellen so gern verachteten braven Bundesrepublik. Enzensberger verabschiedete sich geschichtsphilosophischen Gewissheiten, die so oft in Totalitarismus und Terror endeten und entdeckte die Geschichte als kontingenten, vom Zufall abhängigen Prozess. Also predigte er die Weisheit eines von Ideologien unbeschwerten politischen Sichdurchwurschtelns. Er war in bester liberaler Tradition nie ein Freund starker Staatsgewalt gewesen, sondern immer ein Verfechter der Selbstorganisation der „Leute“ und hatte auch linke Ideen immer an diesem Ziel gemessen. Nun aber ging er soweit, ein – nur leise ironisches – Loblied auf die unermüdliche Strebsamkeit und den Common Sense des Kleinbürgertums anzustimmen.

Hans Magnus Enzensberger: "Gedichte 1950 - 2020". Suhrkamp Verlag, 14 Euro

Hans Magnus Enzensberger: “Gedichte 1950 – 2020″. Suhrkamp Verlag, 14 Euro

Weiter konnte er sich vom Avantgardedenken seiner frühen Jahre, das gelegentlich mehr als nur einen Anflug von Massenverachtung zeigte, nicht entfernen. Dass er auch damit seiner Zeit weit voraus war, belegt der Misserfolg seines Journals „TransAtlantik“. Ein grandioses Essay- und Reportagemagazin, das einige der klügsten deutschen und internationalen Schreiber auf Hochglanzseiten vereinte und alte linke Weggefährten schon mit dem Untertitel „Journal des Luxus und der Moden“ provozierte. Doch der deutsche Literaturbetrieb war auf eine derart selbstbewusste Rückkehr bürgerlicher Lebens- und Lesekultur noch nicht vorbereitet und so gab Enzensberger die Zeitschrift 1982 nach nur zwei Jahren wieder auf.

Angesichts der Ruhelosigkeit und Nervosität seines Denkens, ist die Entwicklungslosigkeit der Lyrik Enzensbergers umso auffälliger. Auch wenn sich seine Themenschwerpunkte gelegentlich verschoben, ist er sich als Dichter zumindest in formaler Hinsicht jahrzehntelang auffällig treu geblieben. Schon für seine ersten Gedichte Mitte der fünfziger Jahre bevorzugte er vor allem reimlose, freirhythmische Verse und mied die traditionellen strengen Gedichtformen. Bis zu seinen letzten Bänden hat sich daran nichts geändert. Enzensberger schöpfte das Sprachmaterial seiner Poesie aus dem Umgangsdeutsch, das den Geist der Zeit und der Zeitgenossen zuverlässig einfängt und liebte es, abgenutzte Phrasen in neue, überraschende Zusammenhänge zu rücken, um sie den Lesern in flirrend Frische neu vor Augen treten zu lassen.

Enzensberger verband all das mit der Schärfe seines Intellekts, der Aggressivität seines politischen Urteils, aber auch seiner tänzelnd ironischen Lebenshaltung zu einem unverkennbaren Ton, der mal schneidend streng werden konnte, mal melancholisch oder auch federnd leicht, doch nie sich in raunende Dunkelheit verlor. In seiner Lyrik klingt immer wieder eine Wunschvorstellung an, die er als politisch unerledigte Aufgabe betrachtete: Eine lebenswerte Welt für souveräne Individuen. In „Utopia“, einem seiner frühesten Gedichte, heißt es: „Die Liebe / wird polizeilich gestattet, / ausgerufen wird eine Amnestie / für die Sager der Wahrheit. / Die Bäcker schenken Semmeln / den Musikanten. Die Schmiede beschlagen mit Eisernen Kreuzen / die Esel. Wie eine Meuterei / bricht das Glück, wie ein Löwe aus.“

 

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