Wie man sich das eigene Bild von der Welt macht
Nicht reden, sondern reisen – der Schriftsteller und Abenteurer Hans Christoph Buch veröffentlicht seine postkolonialen Notizen / Von Uwe Wittstock
Hans Christoph Buch gehört zu den meistgereisten Schriftstellern Deutschlands. Er ist Abenteurer, Reporter, Forschungsreisender und Autor in einem. Es gibt weltweit kaum einen Krisenherd der letzten dreißig Jahre, den er nicht besucht hat. Er will sich sein Bild von der Welt nicht nach Aktenlage machen, sondern durch eigene Anschauung.
„Es gibt“, hat er in seinem erschütternden Reportagebuch „Blut im Schuh“ geschrieben, „existentielle Herausforderungen, denen ein Autor sich stellen muss, wenn er etwas über sich und die ihn umgebende Welt herausfinden will, was er nicht schon vorher gewusst hat. Ich rede von Grenzsituationen wie Geburt und Tod, Gefängnis und Exil, Folter und Krieg, die man, weil die Einfühlung versagt, nicht zu Hause am Schreibtisch nachvollziehen kann.“
Er war in Tschetschenien, als die Russen Grosny zerbombten wie jetzt Mariupol in der Ukraine, er war bei den Rebellen in Dafur, die bei 50 Grad ohne Schatten gegen die Milizen des Sudans kämpften, er musste in Osttimor mitansehen, wie zehn aneinandergekettete Menschen mit Benzin übergossen und verbrannt wurden, hat den Bürgerkrieg im Kosovo beobachtet und die Leichenfelder Kambodschas oder Ruandas gesehen, wo beim Völkermord der Hutus an den Tutsis in nur 100 Tagen rund eine Million Menschen umkamen.
Auch wenn jeder Reporter für solche Reisen immer den guten Grund vorweisen kann, seinen Lesern ungefilterten Informationen über die mörderischen Konflikte dieser Welt verschaffen zu wollen, sind solche Expeditionen dennoch ein zweischneidiges Unterfangen. Denn immer spielt zweifelhafte Sensationsgier und Abenteuerlust dabei mit. Natürlich ist sich Buch auch über diesen Aspekt seiner Arbeit klar und spricht selbstkritisch davon, längst einer „Sucht“ verfallen zu sein nach der Erlebnisintensität, die Kriege oder Katastrophen bereithalten. Wogegen ihm der Alltag in den gut geordneten Verhältnissen hierzulande mitunter belanglos und fade vorkommt.
In seinem jüngsten Buch „Nächtliche Geräusche im Dschungel“ (Transit Buchverlag, 20 Euro) erzählt er wieder von fernen, aber glücklicherweise etwas friedlicheren Weltgegenden: Von dem wirtschaftlichen Niedergang Südafrikas, von den tastenden Versuchen des westafrikanischen Guinea, nach jahrzehntelanger Gewaltherrschaft Sékou Tourés wieder so etwas wie eine Zivilgesellschaft zu errichten, von Äthiopien, das jetzt allmählich vom Pauschaltourismus entdeckt wird oder von Nicaragua, wo die Rebellen, die einst den Diktator Somoza stürzten, inzwischen selbst eine waschechte Diktatur errichtet haben.
Und immer wieder kehrt er, wie schon in anderen Büchern zuvor, nach Haiti zurück, einem der ärmsten und elendesten Länder der Welt. Denn mit Haiti verbinden ihn eine familiäre Vergangenheit: Sein Großvater ließ sich dort 1897 als Apotheker nieder und heiratete eine Haitianerin.
Schon das, was er über diese Katastrophenregion berichtet, reicht aus, um den Leser fassungslos zu machen. Nach einem blutigen Sklavenaufstand erklärte sich Haiti 1804 als erstes Land der Karibik für unabhängig. Seither wechseln sich diktatorische oder korrupte Regime in endloser Folge ab und richten Haiti wieder und wieder zugrunde. Weder eine Militärintervention der USA, noch ein UNO-Mandat konnten bislang an der desaströsen wirtschaftlichen Lage etwas ändern. Ein Erdbeben forderte 2010 über 300.000 Tote und zerstörte die Hauptstadt – die bis heute nicht wieder aufgebaut wurde. Es gibt kaum noch funktionierende staatliche Strukturen, die Macht liegt bei bewaffneten Banden und Warlords. Präsident Jovenel Moïse wurde im vergangenen Jahr ermordet, die Täter nie ermittelt.
Vielleicht liegt es am Übermaß des Elends, von dem Hans Christoph Buch zu berichten hat, dass er zwischen die faktengesättigten Reportagen immer wieder seiner literarischen Fantasie freien Lauf lässt und kurze Erzählungen einstreut. Sie wirken wie letzte Utopien in einer unheilen Welt. Oder wie der Versuch, der Vergangenheit, die einen falschen, gewaltsamen Weg nahm, den Traum einer besseren Entwicklung entgegenzustellen.
Zu alledem scheut Hans Christoph Buch nicht den Streit mit sogenannten postkolonialen Aktivisten hierzulande, die stets handliche Erklärungen bereit halten für alle Probleme der notleidenden Länder. Und die in erster Linie auf die strenge Einhaltung der jeweils neuesten, „woken“ Sprachregelungen achten – so als wäre die Bekämpfung der Armut und des Leids zu allererst eine Frage des richtigen Vokabulars. Buch will sich von sicherlich wohlmeinenden Leuten, die eher selten ihren Schreibtisch verlassen, nicht über die Zustände in Ländern belehren lassen, die er oft und manchmal unter Einsatz seines Lebens bereist hat.
Hans Christoph Buch: „Nächtliche Geräusche im Dschungel. Postkoloniale Notizen“ Transit Buchverlag. Berlin 2022. 190 Seiten. 20 Euro