Shakespeare, der Unverwüstliche

Die Seele des Jahrhunderts

 

National Portrait Gallery, London

Eine beeindruckende Radio-Show des BBC über William Shakespeare und die Frage, weshalb vielen Menschen seine über vierhundert Jahre alten Stücke auch heute noch hoch aktuell vorkommen. Als Zeugen werden unter anderem aufgerufen: Marcel Reich-Ranicki, Hollywood und Nelson Mandela. Eine 14-Minuten-Sendung die sich lohnt.

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Wovon wir reden, wenn wir von Carver reden

Harte Schnitte

Raymond Carver gilt als bester amerikanischer Short-Story-Autor seit Hemingway. Doch fast alle seine Geschichten aus der vielgerühmten Sammlung Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden wurden brutal gekürzt. Jetzt erscheinen sie unter dem Titel Beginners im Original. Wie klang der legendäre Carver-Sound wirklich?

Vom 7. auf den 8. Juli 1980 fand Raymond Carver keinen Schlaf. Morgens um 8 Uhr quälte er sich aus dem Bett, setzte sich an den Arbeitstisch und schrieb an seinen Lektor Gordon Lish. Es wurde kein gewöhnlicher Brief, es wurde ein Hilferuf, ein Verzweiflungsschrei.

Dabei ging es Carver besser als je zuvor. Er hatte seine schwere Alkoholsucht, die ihn um ein Haar ins Grab gebracht hätte, seit drei Jahren hinter sich gelassen. Die Kritiker bejubelten sein erstes Buch mit Kurzgeschichten Würdest Du bitte still sein, bitte (1976). Die Syracus University wollte ihn als Literatur-Dozent haben. Und Alfred A. Knopf, einer der besten US-Verlage, gab ihm einen Vertrag für sein zweites Buch, wieder eine Sammlung mit Short Stories.

Raymond Carver, Photo by Marion Ettlinger/Vintage Contemporaries

Doch nun war das vom Lektor überarbeitete Manuskript dieses zweiten Buchs bei Carver eingetroffen. Lish hatte ganze Arbeit geleistet. Viele Geschichten hatte er um die Hälfte gekürzt, manche um 60 Prozent oder mehr, bei einer waren von 40 Seiten nur 9 übrig geblieben. Einige Figuren waren nach Lishs Änderungen aus dem Buch verschwunden, andere tauchten unter neuen Namen auf. Oft hatte Lish Geschichten seitenweise umgeschrieben, hier einen Mord gestrichen, da einen Selbstmord weggelassen, bei einigen Stories die entscheidende Schlusswendung neu erfunden.

Kurz: Der Albtraum jedes Autors. Doch Carver konnte Lish nicht kurzerhand feuern. Die beiden arbeiteten seit Jahren zusammen. Lish hatte das Talent des ewig betrunkenen Carver erkannt, hatte dessen erste Erzählungen ähnlich rigoros bearbeitet und in den besten Zeitschriften des Landes untergebracht. Carver verdankte ihm alles: „Wenn ich jetzt so etwas wie Ansehen, Geltung oder Glaubhaftigkeit in der Welt besitze, dann ist das Dein Verdienst“, bekannte er in seinem Brandbrief.

Carver flehte seinen gnadenlosen Lektor an, das neue Buch nicht in dieser Form zu drucken. Viele Streichungen seien „brillant“, aber wenn die Geschichten so erschienen, „kann ich mir selbst nicht in die Augen schauen und vielleicht nie wieder schreiben.“

Doch Carver war, nach den Worten seiner späteren Frau, „kein Kämpfer“. Schon zwei Tage später hatte Lish ihn umgestimmt, zermürbt willigte Carver in fast alle Änderungen ein. Als das zurechtgestutzte Buch 1981 unter dem Titel Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden herauskam, war der Erfolg sensationell: Publikum und Kritiker zeigten sich hingerissen. Seine Geschichten klangen nicht nach Literatur, sondern so hart und lakonisch wie das Leben selbst. Carver avancierte zu einem Kult-Autor, der vor allem für die Knappheit seines Stils gefeiert wurde. Dutzende von Autoren wie Ingo Schulze oder Judith Hermann eiferten seinem „Minimalismus“ nach, seiner Kunst der harten Schnitte, des Weglassens und Verschweigens.

Wie viel von dieser Kunst sich den Strichen Lishs verdankte, kann inzwischen überprüft werden: Carver starb 1988, seine Witwe bestand in jahrelangen Kämpfen mit den Verlag darauf, das Originalmanuskript jenes zweiten Buches zu publizieren. Jetzt liegt es unter seinem ursprünglichen Titel Beginners in Deutsch vor (S. Fischer, 21,99 Euro).

Raymond Carver Park und Memorial in Clatskanie, Oregon. Photo by Richard Peterson

Die Neuausgabe ist doppelt so dick wie das alte Buch. Wer es sich leicht macht, nennt die Tonlage der Originale anders als die der gekürzten Carver-Geschichten. Wer es sich schwerer macht, fragt nach ihrer literarischen Qualität. Verglichen mit den von Lish bearbeitete Stories, wirken sie konventioneller und oft regelrecht geschwätzig. So heißt es bei Lish über den nächtlichen Streit eines Ehepaars: Der Mann „nahm das Einmachglas und warf es durch das Küchenfenster“. Carvers Fassung lautet: „Er griff nach dem Glas und schleuderte es am Kühlschrank vorbei durchs Küchenfenster. Glasscherben fielen klirrend auf Fensterbank und Fußboden.“ Doppelt so viel Text für den gleichen Vorgang.

Anderes Beispiel: Bei Carver tröstet ein Sohn seinen Vater: „Du kannst Dir nicht für alle Zeiten Vorwürfe machen.“ Der Vater antwortet schwer kitschverdächtig: „Für alle Zeiten. Wie lang ist das?“ Solche Dialoge vielen ausnahmslos den Strichen Lishs zum Opfer. Trost gibt es bei ihm nicht. Er sorgte dafür, dass Carvers Figuren zwar miteinander reden, dennoch aber sprachlos bleiben.

Wie dringend Carver seinen Lektor brauchte, zeigt mancher herbe Schnitzer. Der Anfangssatz einer Geschichte lautet bei ihm: „Ein Mann ohne Arme stand vor der Tür“.  Doch der Mann hat, so wird im Folgenden klar, lediglich seine Hände verloren und trägt stattdessen Haken an den Handgelenken. In Lishs Version lautet der Auftakt: „Ein Mann ohne Hände kam an die Tür.“

Dennoch wäre es falsch, Lish als das eigentliche literarische Genie zu betrachten, auf den Raymond Carvers Ruhm zurückgeht. Lish hat sich selbst als Schriftsteller versucht, aber mit den eigenen Büchern nie den Rang von Carvers Geschichten erreicht. Lish war definitiv nicht Carvers Ghostwriter. Doch zusammen waren sie offenkundig besser als jeder von ihnen allein. In der Hall of Fame der Weltliteratur werden üblicherweise nur Einzelplätze vergeben. Vielleicht wäre es in diesem Fall gerechter, einen Doppelsitz vorzusehen.

Hier noch ein TV-Dokumentation zum Leben Raymond Carvers:

 

 

 

 

Dazu noch ein Literarischen Quartett, in dem am Ende (nach der ersten Stunde) Carvers erster Erzählungsband “Würdest Du bitte still sein, bitte” besprochen wird:

http://www.youtube.com/watch?v=2bCSp6lUTtc

 

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Geschmack zu haben, bedarf es wenig

„Was? Das gefällt ihnen? Sie Banause!“

Wir leben in einer Gesellschaft der Abgrenzung mit ästhetischen Mitteln. Dabei zählte es doch einmal zu den vornehmsten Aufgaben der Kunst, Menschen einander näher zu bringen. Was läuft da schief? Und, kann sich das wieder ändern? Mit anderen Worten: Wir stehen vor der Frage, warum sich Thomas, Manfred und Silke nichts mehr zu sagen haben. – Ein kleiner Essay über die Rolle der Kunst in der desintegierten Gesellschaft

Vielleicht war es früher einmal ein Privileg, Geschmack zu haben. Heute ist es das nicht mehr, im Gegenteil: Heute hat jedermann Geschmack. Zumindest würde jeder, den man nach seinen ästhetischen Entscheidungen befragte, so glaubhaft wie Frank Sinatra versichern können: „I did it my way“.

Wie sang es schon der große Philosoph Sinatra? "I did it my way"

In vergangenen Jahrhunderten war es schwer genug das tägliche Überleben zu sichern; nur wenige Menschen hatten die Zeit, sich mit Stilfragen herumzuschlagen. In den Industriestaaten westlicher Prägung ist das gründlich anders geworden. Hier sind alle, deren Einkommen über dem Existenzminimum liegt, unentwegt in ihrem ästhetischen Urteilsvermögen herausgefordert: Sie müssen aus dem endlosen Angebot einer Überflussgesellschaft auswählen, was zu ihnen passt und was nicht. Geschmack zu haben, ist damit zu einem endemischen Phänomen geworden. Ob das dem Geschmack gut getan hat, sei dahingestellt.

Drei Beispiele: Thomas, 37, Manfred, 44 und Silke, 25

Betrachten wir drei Beispiele: Thomas, 37, darf sich als Profi der Urteilskraft betrachten. Er ist Redakteur einer Tageszeitung und schreibt im Kulturteil diese langen Artikel, in denen schwungvoll unterschieden wird zwischen dem, was ästhetisch „noch möglich ist“, und dem, was „nicht mehr geht“. In diesen Fragen weiß Thomas hundertprozentig Bescheid – und Kunstwerke, die nicht exakt den seiner Meinung gerade gültigen ästhetischen Positionen entsprechen, sind für ihn sofort Kitsch und ihre Urheber Banausen.

Manfred, 44, ist Elektrotechniker und ein ausgeglichener Mensch, der Gemütlichkeit über alles schätzt. Lediglich beim Autofahren versteht er keinen Spaß: Schon als Auszubildender hat er sich einen BMW gekauft, und dieser Marke bleibt er treu, soviel steht fest. Er könnte, bäte man ihn darum, die aktuelle Modellpalette samt PS-Zahlen, Hubraum-Angaben und Höchstgeschwindigkeiten aus dem Kopf runterleiern. Als Mercedes kürzlich den neuen GLK Kompakt-SUV vorstellte, fühlte er sich ein paar Monate lang ganz hilflos. Doch jetzt bringen die Münchner das überarbeitete SUV-Coupe X6 und mit dem hat Manfred, das spürt er, als eingefleischter BMW-Fahrer die Nase wieder vorn.

Silke, 25, arbeitet seit dem Abitur als Sekretärin und hat Chancen, Chefsekretärin zu werden. Abends geht sie gern aus, sie kennt alle „In-Locations“ der Stadt, wo man „abtanzen“ kann. Derlei Kenntnisse sind, nebenbei bemerkt, schwerer zu erwerben als solche über Büroorganisation, denn das Nachtleben ist geprägt durch ein beängstigendes Veränderungstempo. Wo sich vor einem halben Jahr noch die – nach Silkes Ansicht – richtigen Leute in der richtigen Kleidung bei der richtigen Musik trafen, ist man inzwischen hoffnungslos out. Silke kann da nur am Ball bleiben durch eine gut trainierte Beobachtungsgabe und die einschlägige Fachliteratur: Diverse Mode-, Lifestyle- und Stadtmagazine schärfen ihren Blick für subtile Details, die ihr signalisieren, ob ein Lokal in ihrem spezifischen Sinne akzeptabel ist.

Alle drei sehen sich tagaus tagein mit Geschmacksfragen konfrontiert, alle drei haben die Freiheit und die Möglichkeiten, diese Fragen nach ihren persönlichen Wünschen zu entscheiden. Kein Wunder also, wenn sie zu höchst unterschiedlichen Gewichtungen und Vorlieben kommen. Brächte man sie dazu, am selben Tisch Platz zu nehmen, fänden sie vermutlich kaum ein gemeinsames Gesprächsthema.

Betrachtet man die drei jedoch aus größerer Distanz, werden sie sich überraschend ähnlich: Sie haben eine solide Ausbildung, sind fest angestellt und arbeiten im ewig gleichen Rhythmus acht Stunden am Tag, fünf Tage die Woche. Falls Silke in ein paar Jahren den Sprung zur Chefsekretärin schafft, gehören die drei noch dazu ähnlichen Gehaltsstufen an, ja es ist durchaus vorstellbar, dass alle – leise murrend – die selbe Partei wählen. Mit einem Wort: Sie sind Durchschnittsbürger eines gewöhnlichen westeuropäischen Wohlstandsstaates.

Unser Geschmack verteidigt unseren sozialen Status

Um so wichtiger werden für sie jene geschmacklichen Differenzen, durch die sie sich von anderen absetzen. Gerade in einer weitgehend egalitären, demokratischen Gesellschaft, in der die alten sozialen Gräben zwischen Herren und Knechten – oder marxistisch gesprochen: zwischen den Klassen – zu einem großen Teil eingeebnet worden sind, übernehmen die ästhetischen Gegensätze die Rolle eines wesentlichen, eifrig gehüteten Unterscheidungsmerkmals. Heute ist es, wie Pierre Bourdieu betonte, der „Geschmack“, der „klassifiziert – nicht zuletzt den, der die Klassifikationen vornimmt. Die sozialen Subjekte [...] unterscheiden sich voneinander durch die Unterschiede, die sie zwischen schön und hässlich, fein und vulgär machen und in denen sich ihre Position in den objektiven Klassifizierungen ausdrückt oder verrät.“

Pierre Bourdieu Studie "Die feinen Unterschiede" über die Folgen des Geschmacks für den sozialen Status

Diese neue Abhängigkeit von kleinen und allerkleinsten Geschmacksdifferenzen erklärt, weshalb heutzutage viele ihre ästhetischen Standpunkte so barsch von allen andern abgrenzen: Sie glauben unter der Hand ihren sozialen Status zu verteidigen. Manfred lässt schon deshalb an Mercedes kein gutes Haar, um sich in seinem BMW als König des Straßenverkehrs zu fühlen. Je exklusiver und abstrakter die Kunsttheorien sind, in denen Thomas schwelgt, desto größer ist seine Distanz vom gewöhnlichen Publikum – und natürlich interpretiert Thomas diese Distanz ein untrügliches Zeichen von Überlegenheit. Und Silke, die nach wie vor „House“ für den Hort zeitgemäßer Pop-Kultur hält, kann in den Anhängern von „Dance-Floor“ nur „komplett uncoole Lackaffen“ sehen.

Selbstverständlich stehen die drei mit ihrem jeweiligen Faible nicht allein. Sie rechnen sich vielmehr einem bestimmten Milieu zu, oder, wie Silke sagen würde, einer „Szene“, in der man gleiche Vorlieben pflegt. Eine moderne Wahlverwandtschaft, die für den einzelnen offenkundig immer wichtiger wird. Der Soziologe Gerhard Schulze nannte Deutschland deshalb kurzerhand eine „Erlebnisgesellschaft“: Da die ökonomischen Überlebensprobleme für den größten Teil der Bevölkerung gelöst sind, können heute die alltäglichen Entscheidungen ohne Rücksicht auf die Existenzsicherung ganz nach Neigung und Geschmack getroffen werden. Angesichts der unüberschaubaren Angebotsvielfalt müssen die Menschen deshalb lernen, sich auf ihr psychisches Erleben als Richtschnur für ihre Entschlüsse zu konzentrieren. Weshalb zum Beispiel ein Verkäufer heute, um Kunden zu gewinnen, nicht die Haltbarkeit oder Zweckmäßigkeit seines Produkts herausstreicht, sondern viel lieber dessen „Erlebnisqualität“.

Mein Milieu ist meine Heimat

Damit heißt es allerdings, so stellte Schulze fest, vom herkömmlichen Bild unserer Gesellschaft Abschied zu nehmen: Für die Entstehung von Klassen oder Schichten ist nicht mehr die Position der Bürger im Produktionsprozess, ihre Ausbildung oder die Höhe ihres Einkommens entscheidend. Statt dessen bilden sich die sozialen Gruppen eher durch den bevorzugten Erlebnistyp, der die Beteiligten nicht nur mit schier unerschöpflichem Diskussionsstoff versorgt, sondern ihnen auch so etwas wie eine Wertordnung an die Hand gibt.

Gerhard Schulze "Die Erlebnisgesellschaft" - oder die Frage, weshalb jedes Milieu seine eigene Wertordnung hat

So beschreibt Schulze unter anderem ein „Niveaumilieu“, das aus dem traditionellen Bildungsbürgertum hervorging und in dem man kulturellen Erfahrungen zentrale Bedeutung zuordnet (ihm gehört zweifellos Thomas, der stramm urteilende Kulturredakteur, an). Das „Harmoniemilieu“ dagegen, das sich aus den alten Arbeiterschichten entwickelte, sucht vor allem das Gefühl der Geborgenheit (hier wäre wohl Manfred einzuordnen, solange er nicht hinterm Steuer sitzt). Zu den neueren Phänomenen zählt das „Unterhaltungsmilieu“, das auf Zerstreuung aus ist (und dem wir Silke zurechnen dürfen – falls wir sie nicht dem „Selbstverwirklichungsmilieu“ zuschlagen, dem es von der Psychotherapie bis zum buddhistischen Retreat um die Entfaltung der Persönlichkeit geht).

Natürlich sind die Grenzen zwischen diesen Kategorien fließend und nicht unüberwindlich. Doch hält das die Beteiligten keineswegs davon ab, der Zugehörigkeit zu ihrem Milieu enorme Bedeutung zuzumessen. Denn dieses Milieu bietet ihnen in einer anonymen und immer komplexer werdenden Gegenwart hervorragende Identifikationsmuster an: Aus der beängstigenden Angebotsvielfalt der Gesellschaft filtern sich, ist Auswahl einer „passenden“ Gruppe erst einmal getroffen, für den einzelnen klare, von allen Gleichgesinnten anerkannte Hierarchien und Handlungsschemata heraus, an denen er sich orientieren kann. Was, nebenbei bemerkt, keineswegs den bewusst vollzogenen Eintritt in irgendeinen Club oder Clan voraussetzt – vermutlich ist das Gefühl der Zugehörigkeit sogar noch wirksamer und unerschütterlicher, je unbemerkter es subjektiv bleibt.

Vom Zwang zu ästhetisch korrekten Urteilen

Die Kehrseite der Medaille ist ein hoher Konformitätsdruck: Ein BMW-Fan hat nach dem Kauf eines Opels mit ernsten Sanktionen durch seine alten Mitfans zu rechnen – im Ernstfall muss er sich neue Freunde suchen. Oder um ein Beispiel aus einem anspruchsvolleren Milieu zu wählen: Wer die ästhetischen Wertungen, die Thomas so gewohnt ist, in Frage stellt, der darf von ihm kein Interesse erwarten, sondern muss auf Unverständnis, wenn nicht auf Aggression gefasst sein. Denn für Thomas geht es bei solchen Debatten nicht nur darum, Kunstwerke in einem anderen, möglicherweise lehrreichen Licht zu betrachten. Es geht ihm dabei im Stillen immer auch um die Unantastbarkeit seiner – milieugestützten – Identität und um seinen sozialen Status. Neben dem Zwang zu politisch korrekten Ansichten entsteht so auch einer zu ästhetisch korrekten Urteilen.

Das Auseinanderdriften der Gesellschaft in verschiedene Milieus mit verschiedenen geschmacklichen Vorlieben bringt – ironischerweise – gerade die Künstler und Schriftsteller, die doch die Geschmacksbildner sein sollten, mehr und mehr in Verlegenheit. Noch zu Beginn unseres Jahrhunderts gab es eine allgemein gültige ästhetische Rangordnung: Gewiss, nicht alle Schichten hatten die Chance, am kulturellen Leben teilzunehmen und natürlich wurden die etablierten Ruhmesträger der Kunst und der Literatur von der jeweils nachdrängenden Generationen bekämpft. Aber selbst solche Ausgrenzungen und Rangkämpfe haben die Autorität jener ästhetischen Hierarchie letztlich nur bestätigt.

Heute macht sich jedes Milieu seine eigene Hierarchie zurecht. Verbindliche ästhetische Bezugs-, oder auch nur gemeinsame Streitpunkte zwischen den unterschiedlichen sozialen Gruppen werden immer seltener. Ein Prozess, der sich besonders gut in den USA studieren lässt, der aber auch in Deutschland zu beobachten ist: Obwohl die Bürger juristisch rundum gleichgestellt sind, zerfällt die Gesellschaft zunehmend in die beschriebenen erlebnisorientierten Milieus oder in kompakte Interessengruppen, die nur noch um sich selbst, ihre eigenen Belange und Wertungen kreisen: von der Frauenbewegung bis zur Tea Party, von der Schwulenkultur bis zur „moral majority“, von religiösen Gemeinschaften bis zu ethnischen Minderheiten.

Ökonomisch hat diese wachsende soziale Desintegration bislang wenig Probleme gemacht. Im Gegenteil: Sie kommt dem notorischen Ziel der Marktwirtschaft, immer neue, immer andere Wünsche zu wecken und zu befriedigen, entgegen. Aus der Perspektive eines Marketing Managers ist die Aufspaltung der Gesellschaft zunächst einmal hilfreich: Durch sie werden die verschiedenen Zielgruppen samt ihres spezifischen Bedarfs für ihn präziser eingrenzbar.

Romane von Glatzköpfen für Glatzköpfe

Schriftsteller oder Künstler dagegen geraten in die Gefahr, mit ihrer Arbeit nur noch in kleinen und immer kleineren Kreisen verständlich zu sein. Was in dem einen Milieu Furore macht, ist im nächsten schon ohne jedes Interesse oder sogar kaum noch begreifbar. „Bald wird es Bücher geben“, warnte die Schriftstellerin Dagmar Leupold bereits in den neunziger Jahren, „die von Frauen geschrieben wurden, die unter PMS (prämenstruellem Syndrom) leiden, und nur von denen gelesen werden, die dasselbe Problem haben. Oder von glatzköpfigen Männern für ebensolche. Zum Schluss schreibt man fürs Spiegelbild.“

Dagmar Leupolds erster Roman "Edmond - Geschichte einer Sehnsucht"

Natürlich kann man sich mit der Resonanz oder dem Erfolg in einem derart eingezäunten Terrain zufrieden geben. Tatsächlich tun das mittlerweile nicht wenige Künstler: Sie zielen mit ihrer Arbeit unübersehbar auf die Erwartungen und Interessen des, wie es Gerhard Schulze mit leisem ironischem Unterton genannt hat, „Niveaumilieus“. Da ihre Werke sinnlich wenig wirkungsvoll und hochgradig chiffriert sind, werden andere Milieus als potentielle Öffentlichkeit weitgehend ausgeschlossen – was wiederum dem verbliebenen Publikum ein wohliges Bewusstsein von Besonderheit und Exklusivität verschafft.

Der Haken an der Sache ist, dass Autoren und Künstler damit in eine sozial affirmative Rolle verfallen. Sie beschränken sich – wie clevere Marketing Manager – auf „ihre“ Zielgruppe. Thomas, unser Repräsentant des Niveaumilieus, würde das nicht gern hören, da er sich auf seine kritische Haltung zum Bestehenden einiges zugute hält. Doch gerade durch die anmaßende Rigorosität, mit der er alles als Kitsch verdammt, was seinen Vorstellungen auch nur haarscharf widerspricht, wird er im Sinne Bourdieus zu einem Agenten und Profiteur der herrschenden (kulturellen) Klassengegensätze.

Die Kunst nur für Kunstkenner?

In unserer so hochdifferenzierten Gesellschaft droht etwas Selbstverständliches in Vergessenheit zu geraten: Die Künste dienen keineswegs nur dazu, die Bedürfnisse der Kunstkenner zu befriedigen. Sie zielen auch nicht allein auf Menschen, die sich durch die Themen der jeweiligen Werke betroffen fühlen: Die Vorstellung einer – beispielsweise – speziell auf Homosexuelle, Frauen oder Farbige zugeschnittenen Literatur ist zwar geläufig geworden, sie bleibt aber hinter den wirklichen Möglichkeiten der Literatur weit zurück. Gleiches gilt für die ebenso beliebte wie kleinkarierte Rubrizierung der Kunst in einen „E-“ und einen „U“-Bereich, und den damit verbundenen Aberglauben, ernsthafte Werke würden durch unterhaltsame Elemente Schaden nehmen oder irgendwie entweiht.

Tatsächlich waren und sind große Kunstwerke immer so etwas wie eine Quadratur des Kreises: überraschende, glückhafte Synthesen zwischen Elementen, die vermeintlich unvereinbar sind, zwischen höchsten Ansprüchen und populärer Unterhaltsamkeit, zwischen Innovation und Tradition, Intellektualität und Sinnlichkeit, Abstraktion und Konkretion. Diese besondere Gabe verleiht ihnen die Fähigkeit, nicht nur auf einen kleinen Teil der Menschheit, auf thematisch Betroffene oder einen selbsternannten Bildungsadel zu wirken, sondern tendenziell auf alle – und das mitunter über Jahrhunderte hinweg. Angehörige jeder Generation, Gemeinde oder Gruppierung können sich von ihnen angesprochen fühlen, eben weil es ihnen nicht um Verständigung mit einer Gruppe geht, sondern um Verständigung schlechthin. In diesem Sinne ist Kunst das Gegenteil zu dem grassierenden Kult um die feinen Unterschiede; in diesem Sinne schafft sie gekonnte Verbindungen, nicht faule Kompromisse, zwischen sonst widersprüchlichen Eigenschaften.

Der Glaube an die Möglichkeit von solch wundervollen Synthesen, ja selbst die Sehnsucht nach ihnen geht hierzulande im Irrgarten der Milieus und Minderheiten mehr und mehr verloren. Was niemanden überraschen sollte, da selbst Kritiker (oder Wissenschaftler) wie Thomas, die doch eigentlich das Bewusstsein für jene integrativen Fähigkeiten der Kunst wach halten müssten, schon durch die Diktion ihrer Artikel lieber das zweifellos noch immer vorhandene Bildungsgefälle betonen – obwohl doch Bildung und Geschmack, Bildung und ästhetische Wahrnehmungskraft keineswegs Hand in Hand gehen müssen. Für eine Kunst, die sich auf ihre erstaunliche Kraft zur Synthese besinnt, statt sich in angeblichen Gegensätzen zu verlieren, ist die Desintegration der Gesellschaft keine Existenzbedrohung, sondern kann eine großartige Chance sein.

“Dem Scheitern abgerungen” – und ähnliche Klischees der Kunstkritik

Doch solche Argumente würden Thomas noch nicht überzeugen. Er rechtfertigt seine Vorliebe für wenig zugängliche Kunstwerke auch gern mit dem Hinweis, dass sich diese, gerade weil sie so unzugänglich sind, erfolgreich gegen die Vermarktungsabsichten der Kulturindustrie sperrten. Er übersieht dabei allerdings, in welchem Maße die Kulturindustrie inzwischen dazugelernt hat: Längst hat sie aus dem Widerstand, den ein Werk seiner Vermarktung entgegensetzt, ein exquisites Verkaufsargument zurechtgeschneidert, das sich der entsprechenden kleinen, aber feinen Zielgruppe aus dem „Niveaumilieu“ hauteng anschmiegt.

Selbst die entsprechenden Avantgardetheorien samt ihrem steilen Anti-Kommerzialismus eignen sich mittlerweile vorzüglich für kommerzielle Werbezwecke. Da heißt es etwa in einer Anzeige einer Textilfirma unter dem Bild einer gediegen gekleideten Dame: „Vera Munro ist als Galeristin auf der Suche nach Grenzgängern in der Kunst. Dabei entdeckt sie Unschärfen und Brüche, an denen sich – dem Scheitern abgerungen – Unsagbares zeigt. Mit klarem Blick für Qualität tritt Vera Munro für Positionen ein, auch wenn sie längst nicht als gesichert gelten.“ Solange sich Sätze wie diese fast wortgleich in ernstgemeinten Rezension finden, darf man vermuten, dass es mit der liebevoll gepflegten zeitkritischen Attitüde der jeweiligen Rezensenten nicht so weit her sein kann: Von Werbetextern unterscheiden sie sich oft nur durch ihren schwerfälligen Stil.

Wie eigentümlich und antiquiert sich jene puristische Ästhetik heute ausnimmt, wird mit Blick auf eine Welt deutlich, die über kontinentale Entfernungen und schroffste (Kultur-)Gegensätze hinweg immer enger vernetzt ist. Während hierzulande manche eifersüchtig über angeblich unvereinbare Differenzen wie die zwischen „E-“ und „U“-Literatur, Frauen- und Männer-Kunst, Pop- und ernster Musik wachen, gehen andernorts die talentiertesten Köpfe daran, Synthesen zwischen Weltkulturen zu schaffen – und das ohne Berührungsängste populären Ausdrucksmitteln gegenüber.

Funky Culture

Angesichts eines solchen globalen Bemühens um Integration, Austausch und Verständigung ist die Sehnsucht nach der alten ästhetischen Reinheit ungefähr so segensreich und durchdacht wie die Sehnsucht nach ethnischer Reinheit. Klüger wäre es, den verblüffenden Verbindungen, die da zur Zeit entstehen, unvoreingenommen gegenüberzutreten und sie mit David Byrne, dem Musiker, Filmer und Autor, als „funky culture“ zu betrachten: „Auf gar keinen Fall kann man sie unverdorben nennen. Es ist eine schmutzige Mixtur. Aber Reinheit ist sowieso ein abstrakter Begriff. Sie existierte niemals wirklich. Die großen Städte der Welt, und was sie hervorbrachten, waren das Ergebnis solch gottloser Mischungen.“

David Byrne und Talking Heads: "Essential"

Diese Mixtur birgt Chancen. Darunter vermutlich die beste Chance, nicht nur der fortschreitenden sozialen Desintegration entgegenzuwirken, sondern aus ihr einen Aufbruch zu machen: „Eine Unzahl von ghettoisierten Kulturen,“ stellt sich David Byrne vor, „die im Begriff sind, aufeinander loszugehen. Bilder eines chemischen Experimentes kurz vor der Reaktion. Alle richtigen Elemente sind vorhanden, aber es gibt keinen Vorläufer für die Substanz, die sie bilden werden. Es ist einen neue Ursuppe.“

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Immer im Aufbruch: Kurt Wolff (1887 – 1963)

Die hellhörigsten Leser ihrer (kurzen) Epoche

Kurt Wolff gehört zu meinen Lieblingsverlegern. Von Kafka bis Trakl, von Benn bis Georg Heym, von Robert Walser bis Else Lasker-Schüler: Alle ewaren sie seine Autoren. 2012 ist ein kleines Wolff-Jubiläum zu feiern: Er wurde vor 125 Jahren in Bonn geboren. Grund genug für ein kleines Porträt dieses rheinischen Enthusiasten, der so hervorragend Bücher machen und so desaströs schlecht rechnen konnte.

Ja, wenn man solche Postkarten bekommt! Da muss das Verlegerleben doch die reine Lust sein. „Sehr geehrter Verlag“, steht da in geschwungener, klarer Handschrift, „gleichzeitig schicke ich Ihnen express-rekommand das Manuskript der Strafkolonie mit einem Brief. Hochachtungsvoll ergeben Dr. Kafka. 19/XI/18.“ So bescheiden und unprätentiös eine der berühmtesten und meistgelesenen Erzählungen des 20. Jahrhunderts frei Haus geliefert zu kriegen – kann es für einen Verleger größeres Glück geben? Welche Sorgen sollten ihn da noch drücken?

Kurt Wolff um 1913 (Bild: Frank Eugene)

Doch leider sind die Realitäten des Verlagsgeschäfts andere. Kurt Wolff, 1887 in Bonn geboren, wuchs in einer bildungsgesättigten Atmosphäre auf, von der man heute nur noch träumen kann. Der Vater war Professor und Musikdirektor der Stadt, die Mutter, die früh starb und dem Sohn ein Vermögen hinterließ, entstammte einer alten jüdischen Familie, die zum Freundesumkreis der Familie Goethes zählte. Als Wolff – gerade mal 23jährig – mit Ernst Rowohlt seinen ersten Verlag gründete, verfügte er über souveräne Kenntnissen in Musik, Kunst, Literatur, hatte bereits literaturhistorische Bücher ediert und eine kostbare 12.000 Bände zählende Bibliothek mit Erstausgaben aufgebaut.

Plakat einer Kurt-Wolff-Ausstellung in Frankfurt am Main (2007)

Selbst die größten Verleger sind selten länger als zehn, zwanzig Jahre auf dem Höhepunkt ihrer Fähigkeiten. In dieser Zeit verstehen sie es, wie die Beispiele von Samuel Fischer bis Siegfried Unseld zeigen, wichtige Autoren ihrer Generation an sich zu bindenden, bevor dann die nächste Generation nachrückt, zu der sie nur selten noch fruchtbare Kontakte herstellen können. Die Ungunst der Epoche wollte es, das Kurt Wolff diesen Gipfel seiner Ausstrahlungskraft schon früh, als noch unerfahrener Mann und dazu in wirtschaftlich katastrophalen Zeiten erreichte. Er war nur 25 Jahre alt, als er sich 1912 von Rowohlt trennte, zwei der hellhörigsten jungen Literaten der Zeit, Kurt Pinthus und Franz Werfel, als Lektoren einstellte und mit uferloser Energie über den Buchmarkt herfiel.

Schon im ersten Jahr als alleinverantwortlicher Verleger produzierte er mehr Titel als der bislang bedeutendste Großverlag S.Fischer. Wie ein Magnet zog Wolff die wichtigsten Autoren des literarischen Expressionismus an sich. Bei ihm erschien alles, was bis heute die Literaturgeschichte dieser Zeit prägt: Werfel, Trakl, Georg Heym, Else Lasker-Schüler, Karl Kraus, Robert Walser, Arnold Zweig. Allein 1916 kamen Bücher heraus von Kafka, Carl Sternheim, Werfel, Gottfried Benn und Johannes R.Becher, dazu der Bestseller Golem von Gustav Meyrink. Gleichsam auf Vorrat hatte Wolff im selben Jahr den während des Ersten Weltkriegs wegen der Zensur undruckbaren Roman Der Untertan von Heinrich Mann eingekauft.

Doch so blitzartig Wolffs Aufstieg war, so rapide war sein Absturz. Die meisten seiner Autoren, darunter Kafka, fanden zunächst kaum Leser. Dennoch kaufte Wolff, wie manisch getrieben, zahlreiche andere Verlage, wechselte mehrfach den Hauptsitz seiner Firma, produzierte kostspielige Kunstbände, obwohl sich der Buchmarkt nach dem Ersten Weltkrieg und während der Inflationszeit im freien Fall befand.

Gedenktafel des Kurt-Wolff-Verlags

Der Rheinländer Wolff war eher zu emphatischen Aufbrüchen begabt – darin vielen seiner expressionistischen Autoren verwandt – als dazu, seinen Unternehmungen Kontinuität und Dauer zu verleihen. Schon nach 1920 publizierte er kaum noch literarische Titel und als er seinen Verlag 1930 mit Anfang Vierzig aufgeben musste, hatte er sein Vermögen und große Teile der Mitgift seiner ersten Frau aufgebraucht. (Bernd F. Lunkewitz, dem über ein Jahrzehnt lang der Aufbau Verlag gehörte, hat einmal gesagt, es sei überhaupt kein Problem, mit einem Verlag ein kleines Vermögen zu machen: “Man nehme ein großes Vermögen, kaufe ein Verlag und schon hat man ein kleines Vermögen.”)

Das weitere Verlegerleben Wolfs ist in Deutschland weit weniger bekannt als diese ersten Jahrzehnte. Zusammen mit seiner zweiten Frau Helen floh er 1941 vor den Nazis nach New York, und gründete dort den Verlag Pantheon Books. Zu ihnen stieß ein anderer Exilant, der in Russland geborene Jacques Schiffrin, der in Frankreich die weltberühmte Sammlung La Pléiade aus der Taufe gehoben hatte, die bis heute vom Verlag Gallimard fortgeführt wird. Zusammen spezialisierten sie sich darauf, große europäische Literatur auf den amerikanischen Buchmarkt zu bringen, auch wenn die keine großen Markterfolge garantierte. „Doch wie auch immer die aktuellen Verkaufsziffern ausfielen“, schrieb später Jacques Schiffrins Sohn André, „die Büroräume des Verlags am Washington Square bildeten für die Emigranten in New York eine Oase der Glückseligkeit, stilvoll in einer der prachtvollen Stadtvillen untergebracht, die früher die Südseite des Parks begrenzten.“

Ökonomisch wirklich lohnend wurde Pantheon Books erst in den fünfziger Jahren mit einem Beststeller von Anne Morrow Lindbergh: Muscheln in meiner Hand und der amerikanischen Lizenz von Boris Pasternaks Roman Doktor Schiwago. Dennoch wurden Kurt und Helen Wolff bald darauf aus dem Verlag gedrängt, der ihren literarischen Qualitätsvorstellungen immer weniger entsprach. Helen Wolff ist bis zu ihrem Tod 1994 eine wer wichtigsten Vermittelrinnen europäischer Literatur nach Amerika geblieben. Sie brachte in einem speziell auf sie zugeschnittenen Imprint-Verlag unter anderem Uwe Johnson, Grass, Frisch, Jurek Becker, Walter Benjamin, Karl Jaspers und Umberto Eco heraus.

Kurt Wolff starb, wie er gelebt hatte, im Dienst der Literatur. 1963 wurde er auf dem Weg zu einer Ausstellung expressionistischer Literatur in Marbacher Schiller Nationalmuseum von einem Lastwagen überfahren. Man beerdigte ihn in Marbach, wo zwölf Jahre später auch sein alter Lektor Kurt Pinthus beisetzte wurde, dessen legendäre Anthologie Menschheitsdämmerung wie keine andere den Geist der frühen Autoren Kurt Wolffs bewahrte. Doch diese Sammlung war erst 1920, also nach der kurzen, explosionsartigen Blüte von Wolffs Verlag fertig geworden – und erschien deshalb schon im Verlag seines alten Konkurrenten Rowohlt.

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Teofila Reich-Ranicki, geb. Langnas (1920-2011)

Dinge die man mitteilen, aber nicht teilen kann

Heute vor einem Jahr starb Teofila Reich-Ranicki. Sie war mehr als “die Frau an seiner Seite”, sie war eine Künstlerin – die keinen Pinsel mehr anrührte, nachdem sie die Verfolgung durch die Nazis, das Warschauer Ghetto und den Zweiten Weltkrieg überlebt hatte.

Manchmal sind es wenige Wochen, wenige Tage, die über ein Leben entscheiden. Im Sommer 1939 stand der jungen Polin Teofila Langnas die Welt offen. Sie hatte Abitur gemacht, war die Tochter eines wohlhabenden Kaufmanns in Lodz und sehr begabt. Die Eltern hatten nicht vor, an ihrer Ausbildung zu sparen und wollten sie nach Paris schicken, damit sie dort Graphik und Kunstgeschichte studiere. Was für eine Zukunft vor ihr lag, wie viele Versprechen das Leben bereitzuhalten schien. Doch der Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen am 1.September machte allen Plänen ein Ende. Was ihr blieb, war fünf endlose Jahre lang nichts als der Wunsch zu überleben.

Von den Deutschen als Jüdin ins Warschauer Getto gezwungen, mußte sie mit ansehen, wie ihr Vater sich umbrachte und ihre Mutter ermordet wurde. Welches Talent damals in ihr darauf wartete, sich entfalten zu dürfen, lassen die Zeichnungen ahnen, mit denen sie als gerade Zwanzigjährige das Grauen des Gettos festhielt. Es sind schmucklose, nüchterne, registrierende Bilder, denen jede Effekthascherei fremd ist und die doch, oder gerade deshalb dem Betrachter das Elend, die Hoffnungslosigkeit, das rasende Entsetzen der Abgebildeten ungemildert vor Augen stellen.

Kein weg zurück zur Kunst

Überlebt hat Teofila Langnas, genannt Tosia, den nationalsozialistischen Terror gemeinsam mit ihrem Mann Marcel Reich-Ranicki, der wegen seiner exzellenten Deutschkenntnisse zum Chefdolmetscher des Gettos ernannt wurde – und später, wegen seiner exzellenten Kenntnisse der deutschen Literatur zum einflußreichsten und populärsten Literaturkritiker des Landes aufstieg. Doch anders als er, der die quälenden Erinnerungen an die überstandenen Schrecken in Arbeitswut verwandelte, fand sie keinen Weg zurück zu ihrer Kunst. Nach dem Ende des Kriegs rührte sie keinen Pinsel, keinen Stift mehr an.

In seiner so erfolgreichen Autobiographie Mein Leben hat Marcel Reich-Ranicki beschrieben, wie und unter welchen Torturen das Paar nicht allein die Verfolgung durch die Nazis, sondern auch die durch die Stalinisten überstand. Es war diese zweite, die wiederkehrende Verfolgung, der seine Frau Ende der vierziger Jahre nichts mehr entgegenzusetzen hatte. Sie erlitt, wie ihr Mann schrieb, einen „schweren, äußerst heftigen Nervenzusammenbruch“, von dem sie sich nur langsam erholte, und der sie bis zum Ende ihres Lebens immer wieder dazu zwang, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen.

“Dass ich alt werden durfte, ist ein Wunder”

Das Leben einer Frau an der Seite eine großen Mannes ist üblicherweise nicht leicht, und es besteht kein Anlaß zu der Vermutung, daß Tosia Reich-Ranickis Leben eine Ausnahme von dieser Regel war. Aber sie ist immer eine sehr warmherzige, eine den Menschen zugewandte Frau gewesen. Wer Dinge erlitten hat wie sie, der kann seine Erfahrungen vielleicht mitteilen, doch tatsächlich teilen kann er sie mit niemanden – und so bleibt er unheilbar einsam. Daß sie nicht einfach überlebte, sondern gemeinsam mit ihrem Mann überlebte und alt werden durfte, empfand sie, wie sie oft sagte, als ein Wunder. So sehr Marcel Reich-Ranicki auch in der Öffentlichkeit steht und sie mit ihm nicht selten stand, so sehr bewohnte das Paar doch fast sieben Jahrzehnte lang zusammen eine Welt, in die ihnen kein anderer folgen konnte.

Das Schicksal Tosia Reich-Ranickis zeigt auch, wie empörend alle Versuche waren – und bis heute sind –, hierzulande einen Schlußstrich unter die Verbrechen der Nationalsozialisten ziehen zu wollen. Denn es sind die Opfer, die zeitlebens keine Wahl zwischen Gedenken oder Vergessen hatten und haben, sondern festgezurrt bleiben im Gefängnis ihrer Erinnerungen und tagtäglich bis ins Alter, ja nicht selten im Alter mehr und mehr an den Folgen dessen zu leiden haben, was ihnen Deutsche im Namen Deutschlands antaten. Am 29. April 2011 starb Teofila Reich-Ranicki, sie war eine große, eine beeindruckende Persönlichkeit.

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Was Ärzte und Schriftsteller verbindet

Feine Verwandtschaft

Sie kennen sich aus mit dem Menschen: Die Mediziner und die Dichter, die Ärzte und die Erzähler. Kaum ein anderer Berufsgruppe ist unter den Fachleuten der Wortkunst so stark vertreten wie die Fachleute der Heilkunst. Warum ist das so?

“Ich kenne keine bessere Schulung für den Schriftsteller”, behauptete Somerset Maugham, “als einige Jahre den Beruf eines Arztes auszuüben.” Maugham wußte wovon er sprach, denn er war Arzt und Schriftsteller. Medizin hatte er studiert, um den “Menschen ohne Maske” kennenzulernen – und er wurde einer der meistgelesenen Autoren seiner Zeit.

Beide, so schrieb Marcel Reich-Ranicki einmal, Literaten und Mediziner seien “Fachleute für menschliche Leiden”, und so sei es nur naheliegend, daß es zwischen diesen Berufsgruppen erstaunlich viele Berührungspunkte gebe, ja so etwas wie eine verborgene Verwandtschaft existiere.

William Somerset Maugham, 26. Mai 1934. Portrait by Carl Van Vechten

Maugham reiht sich ein in eine erstaunliche Zahl von Autoren, die eine medizinische Ausbildung hatten. So waren allein drei der größten deutschsprachigen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts zugleich Ärzte: Gottfried Benn, der als Lyriker von europäischem Rang gestand, ihm sei seine “Existenz ohne diese Wendung zur Medizin und Biologie völlig undenkbar”. Alfred Döblin, der Medizin studierte, “weil ich Wahrheit wollte, die aber nicht durch Begriffe gelaufen und hierbei verdünnt und zerfasert war”. Und schließlich Arthur Schnitzler, der all seine Erzählungen und Stücke immer auch als Arzt schrieb, denn, so bekannte er: “Wer je Mediziner war, kann nie aufhören, es zu sein. Denn Medizin ist eine Weltanschauung.”

Tatsächlich ist die Ruhmestafel weltweit gefeierter Autoren, die zugleich als Ärzte arbeiteten, überraschend lang. Angelus Silesius war studierter Philosoph, Theologe und Arzt, Friedrich Schiller ausgebildeter Regimentsmedikus, John Keats Wundarzt, Georg Büchner promovierter Anatom. Heinrich Hoffmann, der Vater des Struwwelpeter, leitete als Chefarzt die Frankfurter Irrenanstalt, Anton Tschechow meinte, “die Medizin ist meine gesetzliche Ehefrau, die Literatur meine Geliebte”. Und Louis-Ferdinand Céline studierte als Armenarzt in Pariser Vorstädten den Argot, den er dann in seinen – zutiefst antisemitischen – Romanen zu Literatur veredelte. Eugène Sue steht ebenso auf dieser Liste wie Michail Bulgakow, Sir Arthur Conan Doyle, Friedrich Wolf und William Carlos Williams.

Georg Büchner (1813 - 1837)

Noch beeindruckender wird die Aufzählung, wenn man bedenkt, welche Schriftsteller zunächst Medizin studierten, sich aber noch vor dem Examen ganz der Literatur verschrieben: nämlich unter anderem Louis Aragon, Johannes R. Becher, Ludwig Börne, Bertolt Brecht, André Breton, Johann Gottfried Herder, Henrik Ibsen, Stanislaw Lem, Hermann Löns und August Strindberg. Auch unter den deutschen Autoren der Gegenwart sind die medizinisch-poetischen Doppelbegabungen keine Seltenheit: Sowohl der Dramatiker Heinar Kipphardt, wie der Romancier Ernst Augustin, der Popliteratur-Avantgardist Rainald Goetz, der DDR-Epiker Uwe Tellkamp und die Erzählerin Melitta Breznik genossen eine medizinische Ausbildung – fast alle in der Psychiatrie.

Sogar ein klinisches Zentrum für Dichterärzte in Deutschland hat sich herauskristallisiert: In der Berliner Charité betrieb schon Döblin wissenschaftliche Forschungen, dort arbeiteten Gottfried Bermann-Fischer, der den S.Fischer Verlag durch die Nazi-Zeit brachte, und Peter Bamm, der in den Nachkriegsjahren Bestseller schrieb, hier standen Ernst Augustin und Kipphardt als Assistenzärzte am Krankenbett. Heute arbeitet Jakob Hein in der Charité als Nachwuchsmediziner, der zugleich schon mehr ist hoffnungsvoller Nachwuchsautor gilt.

Solche Häufungen sind kein Zufall. Unter den Schriftstellern der deutschen Literaturgeschichte ließen sich allenfalls noch Geistliche, Lehrer oder Juristen in ähnlich großer Zahl nachweisen wie Ärzte. Diese Berufsstände neigen allerdings dazu, die Menschen unter dem Blickwinkel zu betrachten, wie sie sein sollten. Mediziner dagegen betrachten sie eher von dem Gesichtspunkt aus, wie sie sind. Mit anderen Worten: Theologen. Pädagogen und Rechtsgelehrte entwerfen gern Rezepte, wie ein vorbildliches Leben zu führen wäre. Ärzte dagegen halten sich als Naturwissenschaftler lieber nicht an Utopien. Statt dessen benennen sie die traurigen Tatsachen des Daseins.

Alfred Döblin (1878 - 1957)

Es ist wohl der kühle, der beobachtende, der diagnostische Blick, der manche Menschen zu Ärzten macht, und manche Ärzte dann – literarische Neigungen und Fähigkeiten vorausgesetzt – zu Schriftstellern werden läßt. Zudem noch liefert ihnen der ärztliche Beruf, wenn sie denn als Autoren an der gesellschaftlichen Realität interessiert sind, manchen brisanten und literarisch verwertbaren Stoff frei Haus. “Ich fand meine Kranken”, schrieb Döblin im Rückblick auf sein Leben, “in ihren ärmlichen Stuben liegen; sie brachten mir auch ihre Stuben in mein Sprechzimmer mit. Ich sah ihre Verhältnisse, ihr Milieu; es ging alles ins Soziale, Ethische und Politische über.” Ohne die Patientenschicksale, denen Döblin in seiner Praxis begegnete, wäre Berlin Alexanderplatz mit Sicherheit ein anderes, vermutlich ein schwächeres Buch geworden.

Doch das ärztliche Studium ist für einen Schriftsteller, zumal wenn es sich um einen gefährdeten, seelisch nicht hundertprozentig stabilen Menschen handelt, auch mit Risiken verbunden. “Es war eine Rieseneselei von mir”, schreibt Arthur Schnitzler als junger Mann, “Mediziner zu werden, und es ist leider eine Eselei, die nicht wieder gut zu machen ist.”

Denn all die Krankheiten, die er während seines Studiums kennenlernte, glaubte er bald schon an sich selbst diagnostizieren zu können. Das Phänomen ist nicht unbekannt: Bei vielen Medizinstudenten werden, sobald sie ihre klinische Ausbildung beginnen, ähnliche Symptome beobachtet – die ihre Professoren dann gern ironisch als “Morbus clinicus” bezeichnen.

Bei dem äußerst empfindsamen Schnitzler jedoch ging dieses Leiden weit über das gewöhnliche Maß hinaus. Immer wieder klagte er in seinen Tagebüchern über “meine Hypochondrie, die zuweilen wie ein schwerer schmerzlicher Nebel über dem ganzen Grund meines Wesens liegt” und verzeichnete handfeste “Todesangst-Anfälle”. Aber die Besessenheit, mit der er noch die geringste Missempfindungen an sich registrierte, war eben zugleich die Grundlage seines schriftstellerischen Talents, Menschen noch bis in ihre verborgenen Regungen hinein beschreiben zu können. Ein Talent, daß ihm neidvolle Anerkennung selbst von so berufener Seite wie der Sigmund Freuds eintrug: Er habe, schrieb Freud 1922 an Schnitzler, “den Eindruck gewonnen, daß Sie durch Intuition – eigentlich aber infolge feiner Selbstwahrnehmung – alles das wissen, was ich in mühseliger Arbeit an anderen Menschen aufgedeckt habe. Ja, ich glaube, im Grunde ihres Wesens sind Sie ein psychologischer Tiefenforscher.”

Schiller als Regimentarzt, 1781/1782. Gemälde von Philipp Friedrich Hetsch

Mitunter sind dichtende Ärzte allerdings für ihre Patienten nicht ungefährlich. Als Schiller an seinem ersten Stück Die Räuber schrieb, war er von seinen draufgängerischen Figuren so hingerissen, daß er als Arzt zu ähnlich draufgängerischen Therapien neigte. Wie in der Literatur wolle er, beklagte ein Vorgesetzter, offenbar auch in der Medizin “Kraftstücke liefern, die aber weder gerieten, noch (von den Kranken) zum besten rezensiert würden”. Schiller war Stolz auf seinen Ruf. Er liebe als Arzt, schrieb er unter Pseudonym über sich selbst, “starke Dosen” und man solle ihm lieber zehn Pferde zu Behandlung schicken als die eigene Frau.

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Musik beim Lesen (2)

Stan Getz: Body and Soul

Stan Getz’ Jazz sorgt für eine fabelhaft entspannte Atmosphäre, die hervorragend zum Lesen eines Klassikers passt – oder des neuen Romans “Weitlings Sommerfrische” von Sten Nadolny (schon wegen des Vornamens), den ich derzeit beim Wickel habe. Er erscheint erst nächsten Monat, sorry, aber ich möchte ich jetzt schon mal empfehlen.

 

 

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Lesetipp: “Papstin Johanna” von Emmanuil Roidis

Entsetzlich: Keine Ketzerverbrennung mehr!

In den Osterferien habe ich Päpstin Johanna des griechischen Kritikers und Satirikers Emmanuil Roidis gelesen – und war sehr positiv überrascht. Zu dem Buch bin ich gekommen, weil mir jemand erzählte, es gäbe auffällige, plagiatsverdächtige Ähnlichkeiten zu Die Päpstin von Donna Cross. Mir sind aber keine skandalträchtigen Parallelen zwischen den beiden Büchern aufgefallen.

Emmanuil Roidis (1836 - 1904)

Emmanuil Roidis (1836 - 1904)

Emmanuil (oder Emmanouil) Roidis’ Roman ist 1866 in Athen erschienen und löste bei der dortigen Kirche helles Entsetzen aus. Was sehr verständlich ist, denn Roidis’ Ton ist angenehm respektlos und ironisch, sobald die Spache auf das Verhalten der mächtigen mittelalterlichen Gottesmänner kommt. Hier eine kleine Kostprobe über die Verhältnisse in Rom unter der Herrschaft einer – inzwischen schwangeren und deshalb sehr zurückgezogen lebenden – Frau auf dem Stuhl Petri:

“Die Frommen beschwerten sich, dass ihnen nicht mehr der Segen zuteil werde, die Bettler, dass sie ihr tägliches Linsengericht nicht bekämen, die Fanatiker beklagten unter Tränen, dass schon seit sechs Monaten kein Hexenmeister oder Ketzer mehr verbrannt worden sei. Doch die am meisten Verbitterten waren … vor allem die Kuppler und Barbiere, die es nicht begreifen konnten, weshalb sie im Schloß keinen Zutritt hatten, während doch Gewohnheit und Tradition dem Papst den Damenbesuch und das Rasieren zur Pflicht machten.”

Roidis kennt die Gesellschaftsromane seiner Zeit, das merkt man seinem Buch an. Er ist ein kluger, weltkundiger Erzähler. Ich fand seine Vorstellungen vom frühen Mittelalter viel glaubwürdiger als die von Donna Cross, bei der ich immer wieder den Verdacht hatte, ihre Figuren in Die Päpstin stammen gar nicht aus dem 9., sondern aus dem 19. Jahrhundert.

Obwohl: Das größte Lebensproblem der Päpstin Johanna, so wie Roidis sie schildert, ist die Liebe – genauer gesagt: der Sex. Ob das die Lage der Frau in der Jahrzehnten nach Karl dem Großen richtig beschreibt? Davon habe ich keine Ahnung, das sollen die Historiker entscheiden. Mein Vergnügen an dem Roman hat das nicht geschmälert. Im Gegenteil.

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Ein Smash-Hit der deutschen Lyrik

Goethes erste Liebe

Heute von 260 Jahren wurde Goethes frühe Geliebte Friederike Brion 1752 - 1813Friederike Brion geboren. Jahrzehnte- wenn nicht jahrhundertelang haben sich Germanisten darüber gestritten, ob die beiden tatsächlich miteinander schliefen oder nicht. Ob die Germanisten das etwas anging, ist eine andere Frage. Auf jeden Fall haben beiden sehr für einander geschwärmt – und Friederike blieb bis zu ihrem Tod 1813 unverheiratet.

Ihr zu Ehren das wohl schönste Gedicht, das ihr Goethe auf den Leib dichtete. Ein echter Smash-Hit der deutschen Lyrik:

Heidenröslein

Sah ein Knab ein Röslein stehn,
Röslein auf der Heiden,
War so jung und morgenschön,
Lief er schnell, es nah zu sehn,
Sah’s mit vielen Freuden.
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden.

Knabe sprach: „Ich breche dich,
Röslein auf der Heiden!“
Röslein sprach: „Ich steche dich,
Dass du ewig denkst an mich,
Und ich will’s nicht leiden.“
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden.

Und der wilde Knabe brach
S Röslein auf der Heiden;
Röslein wehrte sich und stach,
Half ihm doch kein Weh und Ach,
Musst es eben leiden.
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden.

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Happy Birthday to Nick Hornby

Ich kann dieses Leben leben. Ich kann, ich kann

Schon wieder hat einer meiner englischen Lieblingsschriftsteller Geburtstag: Nick Hornby. Diesmal ist das 55 Wiegenfest zu feiern. Hornby ist sehr klug und sehr komisch. Und kein Avantgardist. Manchen Kritikern genügt das, um ihn als Unterhaltungsautor abzutun. Ich halte das für falsch und Hornby für einen großartigen Erzähler, einen manchmal etwas aufdringlichen Moralisten und einen pragmatischen Alltagsphilosophen

Nick Hornby ist ein fabelhafter Beobachter der Gegenwart. All den Neuen Archivisten des deutschen Pop-Romans zum Trotz sehe ich hierzulande neben Max Goldt keinen Schriftsteller, der einen auch nur annähernd so genauen Blick hätte für die Moden und Marotten, die Belustigungen und Belästigungen unseres derzeitigen westlichen Alltags. Doch anders als Goldt zimmert Hornby aus diesem Zeitgeistmaterial eben keine Kolumnen, sondern erfindungsreiche, ein wenig schräg dahinschlingernd Geschichten über ein englisches Großstadtmilieu, das mit materiellen Gütern nicht überreich gesegnet ist.

Nick Hornby, Photo by Joe Mabel

Nick Hornby, Photo by Joe Mabel

Im Kern sind die Geschichten, die Hornby erzählt, nicht neu. Im Gegenteil, es sind die uralten, immer gleichen Geschichten über Kindheit und Liebe und Tod, also über Vergänglichkeit und die Erinnerung an das Verlorene. Doch zum Geheimnis eines guten Erzählers gehört die Fähigkeit, solchen alten Geschichten ein neues, zeitgemäßes Gesicht zu geben, will sagen: den Figuren die jeweils aktuellen Kostüme auf den Leib zu schneidern und die Schauplätze mit den Kulissen der Gegenwart auszustatten. Das ist weitaus mehr als nur eine Frage der Dekoration. Denn wenn einem Autor das gelingt, fängt er etwas ein vom Geist seiner Zeit, der in diesen Oberflächen steckt. Er macht sichtbar, was uns so dicht vor Augen steht, dass wir es kaum erkennen können.

Doch Hornby ist nicht nur ein Erzähler, er ist zugleich auch so etwas wie ein postmoderner Moralist. In seinen besten Romanen, in About a Boy (1998) und A Long Way Down (2005), vor allem aber in How to be Good (2001) bringt er die Biographien seiner Figuren angesichts eines Lebens ohne religiöse Gewissheiten und ohne unumstrittene weltanschauliche Orientierung gründlich ins Trudeln. So unterhaltsam und witzig seine Geschichten üblicherweise auch sind, so ungeniert und direkt geht es in ihnen immer wieder um Depression, Selbstmord und Sinnsuche. Doch nur in How to be Good hatte Hornby bislang den Mut, seine Helden an ihren Problemen scheitern zu lassen. In den übrigen geht mal mehr, mal weniger deutlich der Therapeut und Lebenshelfer mit ihm durch. Er macht dann aus seinen Figuren exemplarische Fälle, anhand derer er seinen Lesern vorführt, wie sie ohne allen esoterischen Schabernack in einer kühl aufgeklärten Welt ein wenig soziale Geborgenheit und Lebenssinn für den Eigenbedarf sichern können. Was vermutlich zum enormen Erfolg seiner Romane beigetragen hat.

Kommunikation ist das Zauberwort

A Long Way Down zum Beispiel kann man als eine Art literarische Versuchsanordnung des Moralisten Hornby lesen: Vier Verzweifelte haben jeden üblichen Halt verloren, sie treffen sich zufällig auf den Dach eines Hochhauses, um mit einem letzten Sprung ihrem Leben ein Ende zu machen. Welchen Grund könnte es für sie geben, hier und heute, also in einer westlichen Gesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts dennoch am Leben festzuhalten? Was könnte  geeignet sein, gründlich aufgeklärte, aber gefährdete Menschen vom Selbstmord zurückzuhalten? Hornbys Antwort ist strikt diesseitig, von einem religiösen Sinn des Daseins ist bei ihm nicht einmal in Andeutungen die Rede. Selbst seine Romanheldin Maureen, die sich gelegentlich auf Gott beruft, macht letztlich eine ziemlich nüchterne Kosten-Nutzen-Rechnung auf, wenn sie sich fragt, was sie noch vor Leben zu erwarten hat.

Kommunikation lautet Hornbys Zauberwort. Solange seine Figuren allein sind oder sich durch Schweigen isolieren, erscheint ihnen ihre Lage hoffnungslos. Doch sobald sie Anteil nehmen an anderen und anderen erlauben, Anteil an ihnen zu nehmen, knüpft sich ein feines, kaum wahrnehmbares Netz von Verbindungen, das sie behutsam ans Leben bindet – und dies selbst dann, wenn dieses Beziehungsnetz, wie bei Hornbys Helden, nicht nur freundschaftlicher, sondern durchaus konfliktträchtiger Natur ist. Zugegeben, überaus originell ist das nicht, aber doch ein pragmatisches und zeittypisches Stückchen Alltagsphilosophie.

Nick Hornby, Photo by Joe Mabel

Nick Hornby, Photo by Joe Mabel

Umso bemerkenswerter ist, wie sorgfältig und liebevoll Hornby in seinen Romanen fade männliche Obsessionen porträtiert. Auf diesem Gebiet ist er ein Virtuose. Den manischen Fußball-Fan porträtierte er in Fever Pitch (1992), den Pop-Besessenen in High Fidelity (1995), einen unbeirrbar dem Traum von Star-Ruhm nachhetzenden Musiker namens JJ in A Long Way Down, und in Juliet, Naked (2009) mit seinem Helden Duncan einen vom blinden Glauben an einen Künstler beherrschten Kritiker. Sie alle eint eine beunruhigende Neigung zur Realitätsflucht, zur sozialen Selbstverstümmelung und damit zur leichtfertigen Zerstörung jenes Beziehungsnetzes, dass sie enger und schützender ans Leben binden könnte. Sie sind allesamt Nerds, die sich in selbstgeschaffene Parallelwelten zurückgezogen haben.

Zu den großen Stärken Hornbys gehört seine Fähigkeit, Gespräche förmlich zu inszenieren. Er schreibt nicht einfach Dialoge, er lässt sie zugleich von seinen Helden kommentieren, mal sarkastisch, mal melancholisch, immer aber gescheit und empfindsam. So erreicht er dreierlei: er treibt die Handlung voran, er verschafft sich Gelegenheit, die Charaktere seiner Figuren genauer herauszuarbeiten, und er führt vor, wie inständig, ja wie verzweifelt sich seine Helden darum bemühen, ihre Lebenssituation zu reflektieren. Sie sind nicht dumm, sie denken intensiv über sich nach um Auswege aus ihren Notlagen zu finden und ihr Lebensglück zu retten. Aber das ist nicht leicht in einer Welt, die keinen Heilsplan mehr kennt.

Ein Blick ins leere Dunkel

Wie Juliet, Naked handelt auch Hornbys in meinen Augen bester Roman How to be good vom Zerfall einer Ehe, genauer: von einer Frau, die sich von ihrem Mann trennt. Es sind zwei oft sehr komische und doch beklemmend hoffnungslose Bücher. Ihr Thema gehört zweifellos zu den ältesten Stoffen der Weltliteratur. Doch sowohl die Sprache wie auch die Ausstattung seiner Geschichte, ihre Kostüme und Kulissen, sind von so bedingungsloser Aktualität, dass man sich unter den Figuren bewegt wie unter vertrauten Freunden und man – selbst falls man glaubt, sich der eigenen Liebe sicher sein zu können – bald merkt: Tua res agitur, hier wird deine Sache verhandelt.

Katie und David, die beiden Helden aus How to de Good, machen sich trotz ihrer Ehe-Dauerkrise immer wieder Gedanken darüber, ob sie denn moralisch richtig handeln, ob sie denn mit ihrem Leben – ernsthaft! – zur Verbesserung der Welt beitragen. Katie bemüht sich als Ärztin mit noch mehr Einsatz als zuvor um das Wohlergehen ihrer Patienten, und David, ein glückloser Schriftsteller, versucht, Obdachlosen ein Dach über dem Kopf zu verschaffen. Fast so als glaubten die zwei, durch vorbildliches Verhalten vom Schicksal das Anrecht auf eine Portion Glück einhandeln zu können. Doch dem Grund, weshalb sie sich nicht mehr verstehen, weshalb ihre Ehe zerfließt wie eine Sandburg bei Regen, kommen sie bei allem guten Willen nicht auf die Spur.

Schließlich beschließen die beiden trotz der Verletzungen, die sie sich bereits zugefügt haben und trotz der bleiernen Depression, die auf ihnen lastet, zusammen zu bleiben, weil ihre Kinder, Tom und Molly, die Geborgenheit einer Familie brauchen. Doch mit diesem Entschluss ist das Rätsel um ihr so wohlsituiertes Unglück nicht geklärt, sondern nur fürs Erste beiseite geschoben. Katie erkennt das genau: Als David sich am Ende des Romans während eines nächtlichen Wolkenbruchs aus dem Fenster lehnen muss, um die Dachrinne zu säubern, zieht sie Resümee: „David trägt Jeans, und Tom und ich greifen jeweils in eine seiner Gesäßtaschen, um ihn festzuhalten, während Molly nutzlos aber niedlich versucht, uns zu stützen. Meine Familie, denke ich, nur das. Und dann: Ich schaffe das. Ich kann dieses Leben leben. Ich kann, ich kann. Es ist ein Funken, den ich hegen und pflegen will, das stotternde Lebenszeichen einer leeren Batterie; aber genau im falschen Moment fällt mein Blick auf den Nachthimmel hinter Dave, und ich kann sehen, dass dort draußen alles leer ist.”

Ja, okay, ich weiß, literarische Avantgarde ist das nicht. Manche Kritiker schätzen Hornbys Romane nicht, weil die literarischen Mittel, die er einsetzt, recht geläufig sind. Aber das spricht in meinen Augen nicht gegen Hornby. Dieser Autor versteht mit seinen Mitteln umzugehen, verdammt effektvoll umzugehen. Seine Romane sind komisch und sehr, sehr ernst zugleich. Sie sind großartig, weil sie mit literarischen Mitteln ein präzises Bild unserer Zeit malen und weil sie einen dazu bringen, mal wieder den Blick ins Dunkel zu richten und sich einzugestehen, dass dort draußen alles leer ist.

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