Lobrede auf “Für immer seh ich dich wieder” von Yannic Han Biao Federer

Von der Notwendigkeit des Erzählens

oder: Kinder sollten nicht sterben

Am 24. November 2025 erhielt der Dramatiker und Romanautor Yannic Han Biao Federer in Berlin den mit 15.000 Euro dotierten Buchpreis Familienroman der Stiftung Ravensburger Verlag. Ich durfte an dem Abend die Laudatio auf Federers ebenso bewegendes wie literarisch anspruchsvolles Buch halten. Ich dokumentiere sie hier.

Sehr geehrte Damen und Herren,

sehr geehrter Yannic Han Biao Federer,

sehr geehrte Charlotte Loesch,

heute ist ein schöner Abend mit schönen Aufgaben, denn wichtige Leistungen sollen verdientermaßen mit Preisen ausgezeichnet werden. Zudem wird der Buchpreis der Stiftung Ravensburger Verlag heute zum 15. Mal vergeben und die Stiftung Ravensburger wird 25 Jahre alt. Lauter Anlässe um zu feiern und froh zu sein. Doch die Laudatio, die ich hier zu halten habe, kann sich nicht so einfach in die frohe Atmosphäre einfügen, denn das Buch, dass ich nach Kräften loben und preisen möchte, ist ein trauriges Buch, ein todtrauriges.

„Für immer seh ich dich wieder“ erzählt von dem Tod eines Kindes. Und Kinder sollten nicht sterben. Gustav stirbt während der Schwangerschaft an einer unvorhersehbaren Komplikation. Zunächst ist alles gut verlaufen, die jungen Eltern freuen sich zärtlich auf ihren Sohn, alle Vorsorgeuntersuchungen werden absolviert und geben keinen Anlass zur Beunruhigung. Doch plötzlich, eines nachts, hat die Mutter Schmerzen, die Eltern fahren voller Sorge ins Krankenhaus, aber die Ärztinnen und Ärzte können nur noch den Tod des ungeborenen Kindes feststellen und müssen froh sein, dass es ihnen gelingt, das Leben der Mutter zu retten.

Als ich das Buch zum ersten Mal las, im Frühjahr, kam ich neun Seiten weit, dann wurde mir die Kehle eng, die Augen wurden feucht und ich brauchte eine Pause. Wie oft es mir beim Weiterlesen erneut so ging, wieder und wieder, habe ich nicht gezählt.

Als ich das Buch dann zum zweiten Mal las, vor ein paar Wochen, nachdem die Entscheidung zur Preisvergabe gefallen war und ich an dieser kleinen Rede hier arbeitete, glaubte ich, besser vorbereitet zu sein auf die Katastrophe, von der hier erzählt wird. Doch ich kam kaum eine Seite weiter als bei der ersten Lektüre, dann kämpfte ich wieder mit den Tränen und musste das Buch für einen Moment zur Seite legen, um durchzuatmen. Kinder sollten nicht sterben.

Yannic Han Biao Federer: "Für immer seh ich dich wieder". Suhrkamp Nova. 185 Seiten, 20 Euro

Yannic Han Biao Federer: “Für immer seh ich dich wieder”. Suhrkamp Nova. 185 Seiten, 20 Euro

Die Eltern erfahren in der Tragödie, die sie durchleben, viel Zuwendung, Mitgefühl, Anteilnahme von anderen Menschen. Federer beschreibt die Begegnungen im Krankenhaus als durchweg positiv, und schon das ist ein bemerkenswerter Zug seines Buches. Nie gestattet er sich die Vermutung, irgendein Dritter könnte die Schuld haben an diesem entsetzlichen Unglück. Das macht den Tod des kleinen Gustav vielleicht noch ein wenig erschütternder. Gustav stirbt an einer höchst seltenen, statistisch kaum noch erfassbaren Konstellation, gegen die auch die beste Medizin machtlos ist. Gustavs Tod ist schicksalhaft.

„Ruf alle an“, sagt Gustavs Mutter Charlotte, bevor sie in den OP gerollt wird, wo man versucht, ihr Leben zu retten. Und der völlig verstörte Vater steht vor dem OP, nimmt sein Telefon zur Hand und ruft ohne groß nachzudenken Charlottes Schwester an, dann Charlottes Mutter, dann eine zweite Schwester Charlottes, dann seine eigene Mutter, dann Charlottes Vater. Kurz gesagt, er informiert die Familie. Das ist im Buch so natürlich und naheliegend, dass man es als Leser ganz fraglos hinnimmt. Wem sonst sollten die ersten Anrufe gelten, als den Menschen, denen das Schicksal von Gustav und seiner Mutter fast ebenso nahe geht, wie Gustavs Vater selbst? Die Familie erweist sich angesichts der Katastrophe als Schicksalsgemeinschaft.

In Deutschland ist der Begriff Schicksalsgemeinschaft politisch belastet. Wer ihn in öffentlichen Zusammenhängen benutzt, muss mit Skepsis und Kritik rechnen. Zurecht. Doch in familiären Zusammenhängen ist das, wie Federers Buch zeigt, anders. Der Schicksalsschlag, der die jungen Eltern hier ereilt, betrifft die anderen in ihrer Familie ganz direkt und persönlich mit. Hier ist es mit den eben genannten Worten wie Zuwendung, Mitgefühl, Anteilnahme nicht getan. Ludwig Wittgenstein, der Philosoph, meinte einmal: „Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen“. Durch Gustavs Tod werden nicht nur seine Eltern in ein, wie Federer schreibt, „neues seltsames Leben“ versetzt, sondern in einem gewissen Maße die ganze Familie. Sie alle zusammen werden herausgerissen aus ihrer gewohnten Welt und abrupt versetzt in eine Welt des Schmerzes und der Trauer.

Federer zeigt in seinem Buch welche Wirkungen ein solcher Schicksalsschlag auf die Schicksalsgemeinschaft Familie hat. Und bei dieser Familie handelt es sich durchaus nicht um eine homogene Gruppe von Menschen. Es sind Personen ganz unterschiedlicher Überzeugungen, Lebensweisen und Weltgegenden. Diese Vielfalt ist ein Signum unserer Gegenwart und Federer fängt das ganz selbstverständlich mit ein in seinem Buch. Der Vater des kleinen Gustav ist längst aus der Kirche ausgetreten, Gustavs Mutter dagegen ist Protestantin mit einem engen Verhältnis zu ihrer Kirche, beide leben in Deutschland. Gustavs Großvater aber ist Chinese und lebt in Indonesien, andere Angehörige in Australien. Doch als in Deutschland die Trauerfeier für Gustav stattfindet und er beerdigt wird, geht sein Großvater zeitgleich nach chinesischem Trauerritus mit weißem Hemd und rasierten Haaren in den Tempel, bringt Opfer und hebt betend Räucherstäbchen vor die Stirn. Selbst über zehntausende von Kilometern und mehrere Zeitzonen hinweg rückt die Familie zusammen.

Es sind nicht zuletzt die kleinen Gesten der Fürsorge und Vertrautheit zwischen den Familienmitgliedern, die Federers Buch so berührend machen. Der Großvater in Indonesien kennt seinen Sohn in Deutschland gut genug, um zu wissen, dass er über seiner Trauer sich selbst und das eigene Befinden aus den Augen verlieren wird und mahnt ihn deshalb per Mail: „Bitte vergiss nicht zu essen. Ihr müsst essen.“ Und als ihm Federer in der Nacht nach der Beerdigung per Mail von der Zeremonie berichtet und Foto um Foto schickt, schreibt er ihm schließlich: „Geh doch bitte ins Bett jetzt…Ruh dich aus, gute Nacht.“

Da Yannid Han Biao Federer heute Abend der Buchpreis Familienroman der Stiftung Ravensburger überreicht wird, liegt es nahe, die Aspekte seines Buches hervorzuheben, die von Familie sprechen. Doch darin erschöpft sich sein Buch nicht. Es wäre hier auch von der Sprache Federers zu reden, von seinen langen, kunstvoll rhythmisierten Sätzen, die einen dramatischen, stakkatohaften Ton annehmen, wenn sich die beschriebenen Ereignisse gefahrvoll überstürzen, die aber auch einen gedankenvollen, ruhig schwingenden Klang haben können, wenn es um die grüblerischen oder andachtsvollen Momente der beteiligten Personen geht. Natürlich hat das Buch einen autobiografischen Hintergrund, daraus macht Federer an keiner Stelle ein Geheimnis. Aber es ist kein Erlebnisbericht, sondern ein genau durchgearbeitetes, mit artistischem Verstand geformtes Stück Literatur. Es gibt kalkuliert eingesetzte Leitmotive wie die wiederholten Begegnungen von Gustavs Eltern mit anderen Menschen, die ebenfalls Kinder verloren haben. Oder die Emojis, die in großer Zahl die digitalen Konversationen der kummervollen Eltern mit ihren Freunden begleiten, als Zeichen sowohl der sprachlosen Hilflosigkeit angesichts der Katastrophe als auch als ein sehr aktueller, heutiger Ausdruck der tiefen emotionalen Beteiligung.

Häufig ist in den letzten Jahren von autofiktionaler Literatur die Rede, wenn es darum geht, dass eine Autorin oder ein Autor Erlebtes nicht einfach aufschreibt, sondern es mit bewusst eingesetzten dramaturgischen und sprachlichen Mitteln strukturiert und in Literatur verwandelt. Gegen diesen Begriff und diese Arbeitsweise ist nichts einzuwenden, wenn man darauf verzichtet zu behaupten, es sei literarisch betrachtet etwas Neues. Spätestens seit Goethes Autobiografie „Dichtung und Wahrheit“ gehört das autofiktionale Schreiben zum festen Repertoire der deutschen Literatur, auch wenn erst heute den Namen autofiktional dafür erfunden wurde.

Und in Federers Buch wird mit Bitterkeit eine der ältesten Fragen der Theologie und Philosophie gestellt, die Theodizee. Wie kann es sein, so wird seit Jahrhunderten gefragt, dass ein Gott, der als gut, barmherzig und allmächtig gilt, den Schmerz und das Unglück in der Welt zulässt. Wie kann ich, fragt Gustavs Vater „an einen Gott glauben…, der mir meinen Sohn nimmt, obwohl er ihm nichts getan hat, er gar keine Zeit hatte, irgendwem irgendetwas zu tun, irgendetwas falsch zu machen.“ Eine sehr berechtigte, untröstliche Frage. Kinder sollten nicht sterben.

Und Federer erzählt in seinem Buch nicht zuletzt davon, weshalb er erzählt, wie wichtig das Erzählen ist und welche Wirkung das Erzählen entfalten kann. Er notiert diese Gedanken in der Szene, in der Gustavs Vater nach dem Tod seines Kindes zum ersten Mal wieder die Kraft findet zu einer Lesung aus seinen Büchern. Es fühlt sich seltsam an für ihn, wieder auf einer Bühne zu sitzen und vorzulesen nach all dem Gefühlschaos, das er erlebt und noch lange nicht hinter sich gelassen hat. Aber er weiß und sagt das auch, dass der Schmerz „unförmig bleibt, zeit- und ortlos, immerzu drohend“, den Trauernden zu überwältigen und ihm jeden Halt zu rauben. Erst wenn er erzählt, immer wieder erzählt von seinem Unglück, beginnt das Durcheinander der Gefühle allmählich eine Form zu finden, eine erste noch vage Ordnung, die einen ersten kleinen Halt verspricht. „Wenn Menschen sagen“, erzählt Gustavs Vater auf der Bühne, „was sie erlebt haben, was sie gemeinsam erlebt, aber unterschiedlich erfahren haben, was sie dabei gedacht und gefühlt haben, beginnen sie, sich ihrer selbst zu versichern, ihrer Gedanken und Gefühle, ihres Menschseins, und sie versichern sich der Welt, die sie umgibt, der Realität – sie stiften Realität, gemeinsam, sie stiften Zusammenhang und Zusammenhalt, also Sinn.“

Yannic Han Biao Federers Buch “Für immer seh ich dich wieder“ ist der Versuch, einem fürchterlichen, sinnlosen, weil zufälligen Schicksalsschlag durch das Erzählen in einen Zusammenhang zu stellen, der den Zusammenhalt der Eltern und ihrer Familien beschwört und ihm so in all seiner Sinnlosigkeit dennoch einen Sinn abzutrotzen.

Lieber Yannic Han Biao Federer, ich gratuliere Ihnen zu ihrem wunderbaren Buch und zum Buchpreis der Stiftung Ravensburger Verlag. Und Ihnen, meine Damen und Herren, danke ich für Ihre Aufmerksamkeit.

 

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