Abendessen bei Fanny. Eine Dankrede
Am 25. November 2025 wurde mein Buch “Marseille 1940″ mit dem Literaturpreis der Französischen Résistance ausgezeichnet. Die Auszeichnung ging damit erstmals an einen deutschen Autor. Die Entscheidung traf eine zwölfköpfigen Jury aus Historikern unter dem Vorsitz des Generalkontrolleurs der französischen Streitkräfte Serge Barcellini. Die französische Ausgabe “Marseille 1940. Quand la littérature s’évade” ist 2025 in Lizenz bei Grasset (übersetzt ins Französische von Olivier Mannoni) erschienen. Die Verleihung fand in Paris im Palais du Luxembourg statt.

Uwe Wittstock: Marseille 1940: Quand la littérature s’évade. Grasset, 28 Euro
Ich war am Tag der Verleihung offengestanden ziemlich nervös, das Palais du Luxembourg ist das Gebäude des französischen Senats, das Publikum bestand aus lauter Senatorinnen, Generälen und Präsidenten namhafter französischen Institutionen. Mein größtes Handicap war, dass ich nicht Französisch spreche. Ich habe mich mit Englisch beholfen und auch meine Dankrede in Englisch gehalten. In meinen Augen war die Verleihung vor allem ein fabelhaftes Signal für die französisch-deutsche Aussöhnung, schließlich waren es Deutsche, gegen die die Résistance im Zweiten Weltkrieg kämpfte.
Der Literaturpreis der Résistance wurde 1961 vom Comité d’action de la Résistance (CAR) ins Leben gerufen. Er soll ein Werk für seine literarischen und historischen Qualitäten über den Widerstand, das freie Frankreich oder die Deportationen auszeichnen. Le Souvenir Français, Nachfolger des CAR, führt diesen Literaturpreis seit 2016 fort. Im Jahr 2023 wurde der Ordre de la Libération Partner des Preises, der nun Prix littéraire de la Résistance CAR – Souvenir Français – Ordre de la Libération heißt.
Hier nun meine kleine Dankrede:
Ich möchte zunächst den Organisatoren des Preises und Jury danken für ihre Entscheidung, die mich im ersten Moment sprachlos gemacht hat und dem wundervollen Palais du Luxembourg für die Möglichkeit, den Preis hier in Empfang zu nehmen. Als Deutscher den Literaturpreis der französischen Widerstandskämpfer zu erhalten, ist eine einschüchternde Ehrung. Ich nehme den Preis mit größtem Respekt entgegen vor allen Menschen, die im Zweiten Weltkrieg Widerstand gegen Hitler leisteten. Bitte erlauben Sie mir, kurz von einem Franzosen zu erzählen, den ich kennenlernte und der für mich zu diesen Helden gehört.
Mein Vater war Psychiater. In den sechziger Jahren schrieb er Gutachten für jüdische Überlebende des Holocaust, damit sie beim deutschen Staat eine Rente beantragen konnten. Eine Frau, über die mein Vater ein Gutachten schrieb, hieß Fanny. Sie lebte in Südfrankreich, in einer kleinen Stadt direkt am Meer. Da unsere Familie nach Südfrankreich in Urlaub fahren wollten, lud sie uns ein, sie zu besuchen, um bei ihr einen Kaffee zu trinken. Als wir eintrafen, blieb es natürlich nicht bei einem Kaffee, Fanny lud uns zu einem großen Abendessen ein, zusammen mit ihrem Ehemann Albert.
Es war ein wunderschöner, warmer Sommerabend. Fanny und Albert wohnten in einem kleinen Haus mit herrlichem Garten. Dort saßen wir, als Fanny ihre Lebensgeschichte erzählte. Sie war als junge Frau aus Deutschland nach Südfrankreich geflohen. Dort verliebte sie sich in Albert, einen französischen Automechaniker, ebenso jung wie sie. Als die deutsche Armee im November 1942 Südfrankreich besetzte, versteckte Albert sie in den Weinbergen. Nur er allein wusste, wo sie war, nur er brachte ihr Essen.
Alles ging gut, bis Albert von den Deutschen den Befehl bekam, als Zwangsarbeiter nach Deutschland zu gehen. Er konnte dem Befehl unmöglich folgen: Wer würde für Fanny versorgen, wenn er nach Deutschland verschleppt würde? Niemand außer ihm durfte wissen, wo sich Fanny versteckte. Also ging er in seine Werkstatt, zündete seinen Schneidbrenner an und verbrannte sich damit die Füße. Er musste ins Krankenhaus, aber als Verletzter durfte er in Frankreich bleiben und konnte Fanny weiterhin das Essen bringen, humpelnd.
Es war eine wunderbar warme Nacht, als Fanny das erzählte. Albert, ihr Mann, saß neben ihr. Er trug Sandalen, die Narben auf seinen Füßen waren gut zu erkennen. Ich habe sie gesehen und Albert bewundert.
Vielleicht darf ich den Preis, den man meinem Buch heute zugedacht hat, diesem Paar widmen: Fanny und Albert, die in einer Zeit großer Grausamkeit unbeirrt an ihrer Liebe festhielten.
Ich danke Ihnen für ihre Aufmerksamkeit und die besondere Ehre, die dieser Preis bedeutet.
Dear Madams and Sirs
First of all, I would like to thank the organisers of the prize and the jury for their decision, which left me speechless at first, and the wonderful Palais du Luxembourg for the opportunity to receive the prize here. As a German, receiving the French Resistance fighters’ literary prize is an intimidating honour. I accept this prize with the utmost respect for all those who resisted Hitler during the Second World War. Please allow me to briefly tell you about a Frenchman I met who, for me, is one of these heroes.
My father was a psychiatrist. In the 1960s, he wrote reports for Jewish survivors of the Holocaust so that they could apply for a pension from the German state. One woman my father wrote a report about was called Fanny. She lived in the south of France, in a small town right by the sea. Since our family wanted to go on holiday to the south of France, she invited us to visit her for a coffee. When we arrived, it didn’t stop at coffee, of course. Fanny invited us to a big dinner with her husband Albert.
It was a beautiful, warm summer evening. Fanny and Albert lived in a small house with a lovely garden. We sat there as Fanny told us her life story. As a young woman, she had fled from Germany to the south of France. There she fell in love with Albert, a French car mechanic who was the same age as her. When the German army occupied the south of France in November 1942, Albert hid her in the vineyards. Only he knew where she was, and only he brought her food.
Everything went well until Albert received orders from the Germans to go to Germany as a forced labourer. It was impossible for him to obey the order: who would take care of Fanny if he was deported to Germany? No one but him was allowed to know where Fanny was hiding. So he went to his workshop, lit his cutting torch and burned his feet with it. He had to go to hospital, but as an injured person he was allowed to stay in France and could continue to bring Fanny food, limping.
It was a wonderfully warm night when Fanny told us this story. Albert, her husband, sat next to her. He wore sandals, and the scars on his feet were clearly visible. I saw them and admired Albert.
Perhaps I may dedicate the prize awarded to my book today to this couple: Fanny and Albert, who remained steadfast in their love during a time of great cruelty.
Thank you for your attention and for the special honour that this prize represents.