Die Wahrheit und nichts als die frei erfundene Wahrheit
Klar, Essen ist auch wichtig. Aber in dieser Kurz-Kolume BUCH & BAR geht es nur um Lesen und Trinken. Warum? Weil beides, in richtiger Qualität und Dosierung, einen kostbaren Fingerbreit über die klägliche Wirklichkeit hinausheben kann.
Heute: Überstrikt unauthentisches Lesen und Trinken
Übrigens: Literatur ist nie authentisch. Die heute so verbreitete Vorliebe für das angeblich Authentische ist immer ein wenig seltsam, doch in literarischen Fragen ist sie nicht nur seltsam, sondern eine handfeste Dummheit. Denn wirklich wichtig ist nicht, ob ein Autor etwas erlebt oder erfunden, sondern wie er es auf’s Papier gebracht hat. Von Vladimir Nabokov stammt die schöne Feststellung: “Wer eine Geschichte ‘wahr’ nennt, beleidigt Kunst und Wahrheit zugleich.”
Zu den schönsten, klügsten, raffiniertesten Romanen der letzten 20 Jahre zählt für mich „Abbitte“ von Ian McEwan – jetzt als schickes, kleines Leinenbändchen erschienen (Diogenes, 12 €). Nichts daran ist authentisch: nicht die wunderbare Liebe, von der erzählt wird, nicht das Verbrechen, das geschieht und erst recht nicht die herzbrechenden Tode, die gestorben werden. Die ganze Geschichte ist ein Meisterwerk literarischer Imagination – und ironischerweise zugleich eine Warnung vor den Gefahren allzu ungezügelter Imagination. Lesen Sie dieses Buch! Es wird Sie umhauen.
Im Roman serviert ein mieser Kerl miese Cocktails mit Schokolade. Aus Begeisterung über das Buch hat eine Bloggerin namens Kate (thelittlelibrarycafe.com) das Rezept nicht authentisch umgesetzt, sondern verfeinert und etwas Tolles draus gemacht: Dunkle Schokolade unter leichter Hitze schmelzen lassen mit dunklem Rum verrühren, mit 2 TL Ingwer-Sirup, etwas Zimt und ein wenig Muskatnuss mischen, ins Glas geben und warm trinken. Sie hat den Drink nach dem englischen Orginaltitel des Romans „Atonement“ getauft.
Die Kolumne erschien im Focus vom 18. Juli 2015. 2014 startete meine Kurz-Kolumne Buch & Bar im Focus. Sie ist schon deshalb unverzichtbar, weil sie dem weltbewegenden Zusammenhang zwischen Lieblingsbegleiter BUCH und Lieblingsaufenthaltsort BAR nachgeht, zwischen Geschriebenem und Getrunkenem, zwischen der Beschwingtheit, in die manche Dichter ebenso wie manche Drinks versetzen können. Also haargenau das, worauf jeder überzeugte Büchersäufer immer schon gewartet hat – weshalb ich die Kolumnen hier gern frisch auf die Theke meines Blogs serviere.